Matthias Bauer, Reto Rössler et al. (Hrsg.): Europa in Literatur, Sprache, Kulturtheorie und Populärkultur
Rezensiert von Peter Flick, 12.06.2023
Matthias Bauer, Reto Rössler, Anna Schwarzinger (Hrsg.): Europa in Literatur, Sprache, Kulturtheorie und Populärkultur. Interkulturelle Transfers und Grenzverläufe zwischen High und Low.
Frank & Timme
(Berlin) 2023.
186 Seiten.
ISBN 978-3-7329-0917-9.
D: 29,80 EUR,
A: 29,80 EUR,
CH: 44,70 sFr.
Reihe: Schriften der Brandes-Gesellschaft für Literaturvermittlung und Kulturtransfer - 4.
Thema
Nicht nur die Brüsseler Politik, auch die europäische Kunst und Kultur wird vielfach nur noch als ein „Elitenprojekt“ wahrgenommen, betonen die Herausgeber:innen in ihrer Einleitung. Angesichts der weit verbreiteten „Europa-Skepsis“ nur „schlichte positivierenden Gegenbilder“ (8) einer europäischen Hochkultur zu verbreiten, greife dagegen zu kurz. Der Schriftsteller Robert Menasse dientihnen als Beleg dafür, dass eine europäische Gegenwartsliteratur und -kunst in der Lage sein kann, einem breiten Publikum auch das abstrakte Europa-Thema nahezubringen, zumal wenn sie sich dabei über die Trennung von „hohen“ und „populärer Kunst“ (Leslie Fiedler) hinwegsetzt.
Autor
Matthias Bauer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg sowie Gründungspräsident der „Brandes-Gesellschaft“, die sich im Herbst 2021 in „Brandes-Gesellschaft für Literaturvermittlung und Kulturtransfer“ umbenannt hat. Seine Forschungsschwerpunkte sind Romantheorie und Erzählforschung, Filmanalyse, Diagrammatik und Szenografie sowie Kultursemiotik an der Europa-Universität Flensburg.
Reto Rössler ist Juniorprofessor, Anna Schwarzinger wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Flensburg. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer Forschungstagung zum Thema Europa, die von der „Brandes-Gesellschaft“ ausgerichtet wurde.
Aufbau
Der Sammelband gliedert sich in drei Teile:
- Literarische und popkulturelle Poetiken
- Sprachwissenschaft, Diskursanalyse und Deutsch als Fremdsprache (DaF)
- Literatur und Kulturtheorie
Zu 1: Literarische und popkulturelle Poetiken
- Ein einleitender Beitrag von Fomina Zinaida befasst sich mit Nietzsches „gutem Europäertums“. Sie interpretiert Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“ als Ausdruck eines „freien Geistes“ und bedeutenden Beitrag zur „Genealogie der europäischen Kultur“ (16), den sie in die Nähe von Kants „Theorie der Aufklärung“ (26) rückt.
- Es folgt eine Interpretation von Mohammed Laasri zumOrientbild in Werken von Hugo von Hofmannsthal. Als„kompensatorische Ergänzung und/oder Gegenentwurf zur zivilisatorischen Moderne“ (31) sagt das Bild für Laasri weniger etwas über die Realität der arabischen Welt aus, als über den Orientalismus im Zeitalter des Wiener Ästhetizismus und über die „Lebensproblematik um 1900“ (43).
- Das Pathos in Uwe Kolbes Liebesgedicht„Ich schien zu erliegen“ richtet sich gegen die Banalisierung der Liebe als Zufall und „Missverständnis“. Liebe als Leiden stellt eine existenzielle Verwundung dar, die das lyrische Ich deformiert – in Renuprasad Patkis Sicht führt Kolbe damit die „petrarkistische Tradition“ (48) auf kreative Weise fort.
- Von einer Grenzerfahrungen anderer Art handelt Sibylle Lewitscharoffs Roman „Consummatus“ (Es ist vollbracht) (53-60). Darin geht es nach Geetanjali Kanade um eine Auseinandersetzung mit dem Tod und mit der Erinnerung an die Toten. Der Protagonist des Romans ist ein desillusionierten Gymnasiallehrer, der sich mithilfe seines ausgiebigen Wodka-Konsums ins Delirium trinkt und dabei innere Monologe mit den Idolen seiner Jugend, Jim Morrison, Andy Warhol und Edie Sedgwick und seiner Jugendliebe Joey führt. Kanade ordnet den Roman der Gattung einer „postmodernen Popliteratur“ zu, die sich durch einen ausgeprägten Hang zur Ironie und einer „neuen Religiosität“ auszeichnet (57).
- In weiteren Beiträgen setzen sich Shama Khare, Apporva Advant und Neeraja Ingale mit dem Drehbuch Frauke Finsterwalders zum Film „Finsterworld“(61-72) auseinander. In dem Beitrag geht umdie Thematisierung deutscherGeschichte im Film, vorwiegend aber um hermeneutische und linguistische Probleme der Übersetzung. Im Anschluss daran analysieren Rhadika Marathe und Parag Velankar in ihrem Aufsatz die „Inszenierung von Homosexualität in der indischen Literatur“.
Zu 2: Sprachwissenschaft, Diskursanalyse und deutsch als Fremdsprache (DaF)
- Das Kapitel beginnt mit textlinguistischen Diskurs- und Stilanalysen zur Metaphorik wirtschaftspolitischer Texte von Marwa Belan (85-100)undeinem Beitrag von Mark Blokh und Ekatarina Aleshina zur politischen Rhetorik in der britischen und russischen Politik (Reden von Churchill, Thatcher, Blair, Nikita Khrushev, Gorbachev ) (101-113).
- Die indischen Germanistin Aboli Partwardhan analysiert danach die Problematik von Mehrsprachigkeit im DaF-Unterricht (115-123).
- Der Abschnitt endetmit einer historischer Begriffsanalyse Lyubov Nefedovas, die den Wandel des Hanse-Begriffs (der „Liga Hanseatica“) (125- 138) aus linguistischer und kulturhistorischer Sicht nachvollzieht.
Zu 3: Literatur und Kulturtheorie
- Im dritten kulturtheoretischen Abschnitt des Buchs vergleichen Nupur Khisty, Mrunal Shevade und Pranav Thomre das multikulturellen Geflecht und den soziale Wandel in der Region Mumbai (141-148) mit der Veränderungsdynamik in Europa und betonen dabei wichtige Parallelentwicklungen.
- Katrine Fleckner Gravholt (161-168) stellt Unterschiede eines inter – und transkulturellen Kommunikationsbegriffs sowie die Ziele der Museumsarbeit im deutsch-dänischen Grenzgebiet dar.
- Kadriye Öztürk spricht sich in ihrem Beitrag für eine stärkere Beachtung der poetischen Ambiguitäten und ein nicht-normatives Literaturverständnis aus (149-168), Nazire Akbulut informiert im Anschluss über den interkulturellen Paradigmenwechsel in der türkischen Germanistik (169-184).
Inhalt
Dass ein Blick zurück auf das „kulturelle Erbe“ Europas nicht unbedingt beruhigend ausfällt, macht insbesondere der einleitende Beitrag von Fomina Zinaidas zu Nietzsches kosmopolitischem Europäertum, wenn auch auf indirekte Weise, deutlich. Nietzsches Kosmopolitismus, seine Feier des Lebens und der Schönheit hat auch eine bedrückende Kehrseite, die Fomina Zinaida andeutet: Nietzsches Programm einer „Umwertung der Werte“ möchte nämlich das hellenistisch-römische Erbe Europas von den Deformationen durch eine jüdisch-christliche „Religion des Mitleidens“ befreien. Die christliche Religion dient in seinen Augen einer bürgerlichen Mittelklasse nur noch als „Schleier und Aufputz“ (20) ihrer Moralvorstellungen. Das Christentum hat in Nietzsches Augen eine Schuldkultur gefördert, die sich als ausgeprägte Neigung zur Empathie für die „Schwachen“ äußert, dabei aber den vitalen aristokratischen Sinn für vitale Selbstbehauptung und Lebensintensität unterminiert.
Ergänzend dazu zitiert Fomina Zinaida am Ende ihres Beitrags unkommentiert einige Sympathiebekundungen Nietzsches für das zaristische Imperium und einen russischen „Hang zur Größe“. Den Geist eines „russischen Nihilismus“ zieht Nietzsche dem „englischer Utilitarier“ vor (27). Diese trübe Mischung aus Lebensphilosophie und nationaler Völkerpsychologie, die sich auch bei Nietzsche finden lässt, gehört gewiss nicht zum „europäischen Erbe“, dass uns die Autorin schmackhaft machen will.
Diskussion
Die in diesem Band versammelten Beiträge treffen einen Nerv: sie betonen den globalen kulturellen Wandel von Sprache und Kultur, der offensichtlich keine normativen „Eindeutigkeiten“ kennt, sondern zunehmende Differenzen und Hybriditäten, die mit der „Durchmischung kultureller Lebensformen“ (9) einhergehen. Das Lob der Vielfalt zum Selbstzweck zu erheben und den Anspruch auf Kohärenz und soziale Integration als Schließung und Stilllegung kultureller Dynamik abzulehnen, wäre angesichts dieser Probleme ebenso „unterkomplex“, wie die nostalgische Sehnsucht nach festen Identitäten und eine Rückkehr zum homogenen Nationalstaat.
Der Vielfalt der Sprachspiele und Wissensformen als kultureller Bereicherung zu begreifen ist eine Sache, die andere, den Blick für die neuen kulturellen Konflikten und Spannungen zu schärfen, die mit der Dynamik der Pluralisierung verbunden sind. Sie sind es gerade, die uns innerhalb der EU und an ihren Grenzen derzeit auf den Nägeln brennen.
Immerhin wird diese Problemlage im Beitrag der indischen Germanist:innen Nupur Khisty, Mrunal Shevade und Pranav Thomre angedeutet. In ihrem Vergleich der europäischen Dynamik mit der in Mumbai weisen sie auf die Gefährdungen der regional verankerten „Plurikulturalität“ Mumbais hin, die sich in periodisch auftretenden gewalttätigen Aufständen und „riots“ entladen (146 ff.). Auch wenn die Autor:innen darin keine dauerhafte Bedrohung des plurikulturellen „Spirits of Mumbai“ und seines „komplexe(n) soziokulturelle(n) Gewebes“ (147) sehen, die Parallelen zu regressiven Entwicklung in der Europäischen Union sind offensichtlich (siehe dazu Ágnes Hellers gesammelte Essays zum „Paradox Europa“ und Wolfgang Benz (Hrsg.): „Ressentiment und Konflikt“).
Fazit
Der vorliegende Sammelband vereinigt Interpretationen zu einzelnen literarischen Werken sowie zu filmischen und literarischen Darstellungen der deutschen und indischen Gegenwartskultur. Dazu kommen Analysen der Mehrsprachigkeit, der Politischen Rhetorik und eine Auseinandersetzung mit didaktischen Konzepten beim Umgang mit dem Problem Mehrsprachigkeit im Fach „Deutsch als Fremdsprache“ sowie Konzepten einer musealen Bildungs- und Erinnerungsarbeit.
Der in Titel und Einleitung formulierte Anspruch, in exemplarischer Interpretationen zu zeigen, wie die strenge Trennung von Kunst und Politik bzw. „hoher“ und „populärer Kultur“ (High und Low) unterlaufen werden, verspricht allerdings mehr, als der Inhalt des Buches halten kann.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
Mailformular
Es gibt 32 Rezensionen von Peter Flick.
Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 12.06.2023 zu:
Matthias Bauer, Reto Rössler, Anna Schwarzinger (Hrsg.): Europa in Literatur, Sprache, Kulturtheorie und Populärkultur. Interkulturelle Transfers und Grenzverläufe zwischen High und Low. Frank & Timme
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-7329-0917-9.
Reihe: Schriften der Brandes-Gesellschaft für Literaturvermittlung und Kulturtransfer - 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30736.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.