Norbert Rosansky, Erkan Dağ (Hrsg.): In Sorge um die Seele
Rezensiert von Prof. Dr. Hannes Stubbe, 31.10.2024

Norbert Rosansky, Erkan Dağ (Hrsg.): In Sorge um die Seele. Interkulturelle Herausforderungen und schwierige Behandlungen in der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2023. 320 Seiten. ISBN 978-3-95558-345-3. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema
In Deutschland leben gegenwärtig ca. 21,2 Millionen „Ausländer:innen“, d.h. Menschen, die aus verschiedenen Gründen eingewandert sind. Oftmals nennt man diese Menschen auch „Personen mit Migrationshintergrund“. Dieser Begriff ist heute jedoch wissenschaftlich nicht mehr haltbar, denn alle heute auf der Erde lebenden Menschen sind „homines sapientes“, die vor ca. 300.000 Jahren in Afrika entstanden und später weltweit bis nach Feuerland und Australien migriert sind. Viele 100.000 Jahre waren wir Jäger(innen) und Sammler(innen). Wir haben also alle einen Migrationshintergrund (homo migratorius). Wer seine DNA untersuchen lässt, kann dies schnell empirisch verifizieren. Aus- und Einwanderung sind in fast allen 200 Staaten der Welt ein soziales Phänomen, auch in Deutschland. Die sich daraus ergebenden Probleme (wie z.B. Assimilation, Integration, Marginalisierung, Ghettoisierung) sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen erkennbar u.a. auch im Gesundheitsbereich und hier vor allem in den Bereichen der seelischen Gesundheit und Psychotherapie, in denen die Kinder und Jugendlichen das schwächste Glied sind. Letzteres behandelt das o.g. Buch.
Autoren und Autorinnen
Größtenteils besitzen die Autorinnen und Autoren eine tiefenpsychologische, analytische bzw. psychodynamische Orientierung in ihrer Psychotherapie (N. Rosansky, E. Dağ, J. Diestel-Hug, Chr. Erner-Schwab, K. Kaynak, D. Kunzweiler-Holzer, J. van Loh, R. Sannwald, K. Schäfer, S. Wulf). Einige Autoren und Autorinnen besitzen auch eine systemische (N. Rosansky), TP- und PA-Ausbildung (U. Kießling) und andere (P. Schulze Wilmert, S. Winter). Einige stehen mit der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) in Verbindung, die eine VT und tiefenpsychologische Ausbildung anbietet.
Aufbau
Der Sammelband ist folgendermaßen gegliedert: Nach den „Einführenden Worten“ der beiden Herausgeber (Rosansky, Dağ) behandelt das erste Kapitel die „Interkulturellen Herausforderungen“ (S. 11–74), das zweite Kapitel anhand vieler Fallbeispiele „schwierige Behandlungen in der ambulanten Praxis“ (S. 75–264), das dritte Kapitel „schwierige Fälle im stationären Bereich“ (S. 265–292) und am Ende stehen ein „Glossar psychodynamischer Grundbegriffe“ (S. 293–317), sowie zuletzt eine Liste der Autorinnen und Autoren.
Inhalt
Welche Herausforderungen existieren in der interkulturellen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie?
Über die Situation der geflüchteten Jugendlichen (S. 49ff) und drei typische Fallkonstellationen (S. 69f) berichtet Ulrich Kießling. Als besondere Herausforderungen werden u.a. genannt: die sprachliche und kulturelle Verständigung stellt die eigentliche Schwierigkeit dar; der Einsatz von Dolmetschern ist aufgrund der Übertragungsverwirrung und -spaltung manchmal problematisch (Kießling, S. 52); die Anweisungen von Frauen will Pat. nicht befolgen (S. 54); eine differenzierte Introspektion des Pat. schwierig (S. 54); (oftmals behindernde) behördliche Rahmenbedingungen der Psychotherapie (S. 58); Fehlen der Schweigepflicht (S. 58); Loyalität des Pat. nur gegen eigene Familie/Clan (S. 58); die Problematik der gutachterlichen Stellungnahmen (S. 59); die kulturelle Fremdheit der Geflohenen muss anerkannt werden (S. 59); eine ständige Bedrohung ausgewiesen zu werden (S. 61); eine angemessene Beschulung und Berufsausbildung (S. 62); den Kontakt zum Ursprungsland halten ist wichtig (S. 62); die Einbeziehung der Familie ist wichtig (S. 66); transkulturelle Loyalitäts- und Wertkonflikte (S. 67); Opferrolle der Pat.in (69); ein „normales“, d.h. gefühlt und real sicheres therapeutisches Milieu schaffen (S. 75).
Als therapeutische Lösungen werden u.a. angeboten:
Interkulturelle Jugendlichen-Psychotherapie und Trauma-Therapie (Kießling, S. 53–56); psychodynamisch imaginative Traumatherapie (Reddemann, 2004); mehrdimensionale psychodynamische Traumatherapie (Fischer, 2000); EMDR (Shapiro, 2022); übertragungs-fokussierte Psychotherapie (Kernberg); Bearbeitung der Traumaerinnerungen (S. 92f); Ressourcenorientierung (S. 94f); Traumaintegration (S. 97ff); Elternarbeit bei transidenten Kindern und Jugendlichen (S. 105ff); Mentalisierungen (S. 148ff); Spieltherapie (S. 179ff); Transference Parenting (S. 178, 191); psychodynamische Psychotherapie (S. 199f); tiefen-psychologische Kinderpsychotherapie (S. 222ff); medizinischer Kinderschutz in Kliniken (S. 265ff), Psychopharmakotherapie.
Welche Krankheitsbilder werden behandelt?
Enuresis (S. 20ff), Enkopresis (S. 23f), Pathologie der Eltern (S. 25f; vgl. hierzu die Elterntypen, S. 119ff), Zwänge und Angststörungen (S. 26f), Automutilation (S. 32, 43, 48, 53,56, 84), Depression (S. 37, 53, 60, 84), Schlafstörungen (S. 38, 54, 84), suizidale Impulse (S. 40f, 42f, 144), traumatische Neurose (S. 45ff), emotionaler Stupor (S. 53), Gewalttaten mit einem Messer (S. 55), narzisstische Problematik (S. 56), Panikanfälle (S. 67), Borderline (S. 68), Flashbacks (S. 76), PTBS (S. 83ff, 90f), dissoziative Störung (S. 86f), jap. Hentai-Porno-Störungen (S. 141ff), Mutismus (S. 163ff), drogeninduzierte Psychose (S. 197ff), Bindungsstörung (S. 219ff), Tourette-Syndrom (S. 249ff)
Diskussion
Gegenwärtig existiert im deutschsprachigen Raum eine Vielfalt der theoretischen Richtungen, Techniken und Verfahren der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie (vgl. z.B. Dührssen, 1960; Biermann, 1965ff; Schraml, 1969:108f; Zulliger, 1970; Schmidtchen, 1989; Leuner, 1990; Stubbe, 1995:124-134;2012:608ff; Remschmidt, 1997; Petermann, 2013; Mattejat & Schulte-Markwort, 2013; In-Albon & Pfeiffer, 2020). Viele Psychotherapeut:innen arbeiten in der Praxis jedoch oftmals „eklektisch“, William James würde „pragmatisch“ sagen.
Wir können heute davon ausgehen, dass die meisten Richtungen der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie im deutschsprachigen Raum eine ethnozentrische Ausrichtung besitzen (vgl. Stubbe, 1995:124-134; Stubbe, 2012:178-185), d.h. aufgrund kultureller Rigidität (z.B. „deutsche Leitkultur“) und der geringen Weltoffenheit an die soziokulturellen Verhältnisse in Deutschland nicht angepasst sind. Kann sich eine Gesellschaft von ihrer kolonialistischen Vergangenheit und einer tief eingeprägten nationalsozialistischen Rassenlehre völlig befreien?
Es fehlt bisher eine integrative Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, die auf kulturanthropologischen Grundlagen und Erkenntnissen, sowie der Enkulturations- und Migrationsforschung basiert.
Es wird in den Texten zu wenig darauf eingegangen, in welcher Gesellschaft die Kinder und Jugendlichen in Deutschland heute leben. Ich zähle nur einige Merkmale auf: individualistische Gesellschaft, 15 Millionen Arme, 3–4 Millionen arme Kinder, viele Kinder ethnischer Minderheiten, 660.000 Obdachlose, viele Schulabbrecher, 5–6 Millionen Analphabeten, 249 Milliardäre, extreme Ungerechtigkeit (die reichsten 10 % verfügen über 60 % des Eigentums), amerikanisierte Konsumgesellschaft, ungerechte Bildungschancen, zunehmender Rassismus, Militarismus und Rechtsruck, vorherrschender Atheismus (Kanzler und Minister verzichten auf „Gott“ beim Amtseid), unzureichendes Gesundheitssystem etc. Auch religiöse Aspekte werden in den Falldarstellungen oftmals vernachlässigt. Warum wird keine Gruppenpsychotherapie und Familientherapie mit Kindern und Jugendlichen betrieben? Welche Therapie- und Beratungsmöglichkeiten/​-angebote existieren im Internet? Der Prävention der psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sollte eine stärkere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Stubbe (1995:125) bezeichnete es als einen „Kunstfehler“, wenn keine kulturangepasste Psychotherapie durchgeführt wird.
Fazit
Das für Fachleute empfehlenswerte Buch besitzt teilweise auch einen Lehrbuchcharakter (vgl. z.B. S. 80ff: Trauma; S. 265ff: Kinderschutz). Ebenfalls die vielen Fallbeispiele sind äußerst lehrreich, denn sie verdeutlichen die enormen Schwierigkeiten der interkulturellen Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter in Deutschland. Es ist sehr bewundernswert, dass Psychotherapeut:innen in dieser gegenwärtigen, europaweiten migrationsfeindlichen Stimmung ihre mühsame Arbeit überhaupt noch diesen Menschen widmen wollen.
Literatur
Biermann, G. (1969ff): Handbuch der Kinderpsychotherapie. München
Dührssen, A. (1960): Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Göttingen
Freud, A. (1966,[1927]): Einführung in die Technik der Kinderanalyse. München
Hopf, H. & Windhaus, E. (Hg.) (2019): Lehrbuch der Psychotherapie. Bd. 5. Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie. Gießen: Psychosozial, 4. Aufl.
In-Albon, T. & Pfeiffer, S. (2020): Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter. Stuttgart: Kohlhammer
Leuner, H. (1990): Katathymes Bilderleben mit Kindern und Jugendlichen. München: Reinhardt
Mattejat, Fr. & Schulte-Markwort, M. (2013): Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Systematisch. Bremen: UNI-Med, 5. Aufl.
Petermann, Fr. (Hrsg.) (2013): Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie. Göttingen: Hogrefe, 7. Aufl.
Remschmidt, H. (Hrsg.) (1997): Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Stuttgart: Thieme
Schmidtchen, S. (1989): Kinderpsychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer
Schraml, W. (1969): Abriss der Klinischen Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer
Stubbe, H. (1995): Prolegomena zu einer Transkulturellen Kinderpsychotherapie. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 44. Jg., 4, S. 124–134
Stubbe, H. (2012): Lexikon der Psychologischen Anthropologie. Gießen: Psychosozial, S. 608ff
Stubbe, H. (2021): Weltgeschichte der Psychologie. Eine Einführung. Lengerich: Pabst
Zulliger, H. (1970): Heilende Kräfte im kindlichen Spiel. Frankfurt/M.: Fischer
Rezension von
Prof. Dr. Hannes Stubbe
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