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Josta Bernstädt: Gestalttherapie mit Erwachsenen Kindern aus Alkoholiker-Familien

Rezensiert von Alexandra Großer, 11.06.2025

Cover Josta Bernstädt: Gestalttherapie mit Erwachsenen Kindern aus Alkoholiker-Familien ISBN 978-3-89797-146-2

Josta Bernstädt: Gestalttherapie mit Erwachsenen Kindern aus Alkoholiker-Familien. Ganzheitlich genesen. Ein Handbuch für Betroffene und Therapeut*innen. EHP – Verlag Andreas Kohlhage (Gevelsberg) 2024. 288 Seiten. ISBN 978-3-89797-146-2. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR.
Reihe: EHP - Edition Humanistische Psychologie.

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Thema

Josta Bernstädt beschreibt in ihrem Buch die vielfachen möglichen Folgen, die es für Erwachsene Kinder haben kann, die in einer Alkoholiker-Familie aufgewachsen sind. Sie beschreibt ausführlich die vielfältigen Symptome, unter denen erwachsene Kinder aus alkoholkranken Familien leiden. Sie erläutert, wie die vier Familienregeln von Rigidität, Verschwiegenheit, Verleugnung und Isolation sich auf die Kinder in der Familie sowie auf ihr späteres Leben, ihre Beziehungen als auch den therapeutischen Genesungsprozess auswirken und diese beeinflussen. Die Autorin stellt ihren Gestaltansatz zur Arbeit mit erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern (ACoAs) vor (vgl. S. 11) und nimmt die Leser*innen mit in ihre gestalttherapeutische Arbeit.

Autor:in oder Herausgeber:in

Josta Bernstädt ist Gestalttherapeutin mit eigener Praxis in Koblenz und Lehrtherapeutin und Trainerin für das Gestalt Institut Hamburg mit Ausbildungsgruppen im Rhein-Main-Gebiet. Sie hat viele Jahre in der forensischen Psychiatrie der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach im Maßregelvollzug gearbeitet. Sie ist Mitbegründerin des Gestalt Training Institute Edinburgh, mit dem Angebot von Ausbildung, Einzel- und Gruppentherapie, Supervision und unterschiedlichen Weiterbildungskursen.

Entstehungshintergrund

Angeregt durch das Buch von Wayne Kritsberg „The Adult Children of Alcoholics Syndrome“, welches ihr eigenes Erleben aus ihrer Kindheit in einer alkoholkranken Familie widerspiegelte, als auch angeregt durch ihre Klient*innen, die aus Alkoholiker Familien stammten, und denen sie das Buch empfahl, entstand die Idee dieses Buch zu schreiben. Die Klient*innen fanden sich in vielem wieder, was Kristberg beschrieb. Auf der einen Seite erschütterte es sie, auf der anderen Seite verspürten sie Erleichterung, weil es viele von ihnen gibt, die ähnliches empfinden. Einige Klient*innen motivierte es die Therapie bei der Autorin zu beginnen. Vieles aus Kristberg’s Buch floss in das hier vorliegende Buch ein.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in drei Teile mit insgesamt 26 Kapiteln und Unterkapiteln. Im Anhang finden sich Handouts zu Teil II: Das stille Leiden von ACoAs und Teil III: Wie kann Genesung gelingen? In Teil II finden sich zudem noch Exkurse zur Polyvagaltheorie, zu Flow-Erfahrungen; Brauchen, Wünschen und Wollen – Die Wiederbelebung der Es- und Ich-Funktionen des Selbst; dem 12 Schritte Programm und kritischen Würdigung; zur Pesso-Therapie und über Affirmationen und Negationen.

Im ersten Teil des Buchs beschreibt die Autorin das stille Leiden von ACoAs (Adult Children of Alcoholics). Dieser Teil des Buchs enthält insgesamt acht Kapitel. Im zweiten Teil des Buchs geht die Autorin in zwölf Kapiteln der Frage nach, wie Genesung gelingen kann und beschreibt konkrete therapeutische Handlungsweisen. Dieser Teil macht mit über 200 Seiten den Hauptteil des Buchs aus. Im dritten Teil Jenseits von Genesung widmet sich die Autorin dem Leben nach der Therapie von ACoAs und gibt einige Anstöße, wie dies gelingen kann.

Im ersten Kapitel Verbreitung von Alkoholismus in Deutschland des ersten Teils das stille Leiden von ACoAs weist die Autorin auf den unreflektierten Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft hin. Anhand statistischer Daten von 2017 stellt sie die These auf, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass mindestens eine Person aus einer Familie alkoholabhängig ist. Sie verweist darauf, dass „die Übergänge vom Genuss- zum Gewohnheitstrinken, zum missbräuchlichen Trinken schleichend sind“ (S. 21) und zählt verschiedene Kriterien für eine Alkoholabhängigkeit auf. In den weiteren Ausführungen skizziert Josta Bernstädt knapp das Phasenmodell und das Typenmodell, welches „indirekt eine phasenweise Entwicklung der Alkoholerkrankung“ (S. 23) andeutet. Im Anschluss daran skizziert sie grob vereinfacht die „vier unterschiedlichen Arten von Alkoholiker Familien“ (S. 26). Anhand ihrer grafischen Darstellungen wird deutlich, dass das ganze Familiensystem betroffen ist. Deshalb bezeichnen „viele Suchtexpert*innen den Alkoholismus als eine Familienkrankheit“ (S. 29). Damit wird auch deutlich, wie suchtgefährdet Familienmitglieder, besonders Kinder, alkoholabhängige Familienmitglieder (Eltern oder/und Großeltern), sind. Die Autorin ist sich bewusst, dass diese Bezeichnung in Fachkreisen auch kritisch betrachtet wird. Verständnis herrscht allerdings darüber, „dass es sich bei Co-Abhängigkeit, die sich in jungen Jahren entwickelt hat, um eine sehr schwer zu behandelnde und auf jeden Fall langwierige psychische Beeinträchtigung handelt“ (S. 31). Deutlich machen dies auch die vier Regeln, die in Alkoholiker Familien herrschen (vgl. S. 32). Sie zeigt, begleitet durch Fallbeispiele, anschaulich auf, welche Auswirkungen diese Regeln,

  • „die Regel von Erstarrung
  • die Regel der Verschwiegenheit
  • die Regel der Verleugnung und des Abstreitens
  • die Regel der Isolation, Abkapselung und Vereinzelung“ (S. 32),

auf die Familien, beziehungsweise Familienmitglieder, haben als auch den therapeutischen Prozess beeinflussen. Die Autorin gibt an, dass diese Regeln im therapeutischen Setting nicht immer sofort erkannt werden. Für ACoAs sind diese Grundsätze eine „Anleitung für ihr Leben“ (S. 45), an die sie gebunden sind und mit denen sie als Kinder gelernt haben zu überleben (vgl. ebd.).

Mit ihren Ausführungen zu Diagnose und typische Charakteristika von ACoAs beschreibt die Autorin das Cluster des ACoA’s Syndrom unter Bezugnahme auf Kristberg. Sie weist nochmals daraufhin, dass übermäßiger Alkoholgenuss und Alkoholabhängigkeit in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind und damit das „ACoA Syndrom ‚normal‘ in unserer Gesellschaft“ (S. 48) ist. „Unerkannt und unbehandelt [wird es] von Generation zu Generation weitergeben“ (ebd.). Für Josta Bernstädt stellen die Charakteristika „Anhaltspunkte und potenzielle Hinweise“ (S. 49) dar, die „als Vermutungen behutsam im Kontakt mit dem Klienten genutzt werden können“ (ebd.). Explizit weist sie darauf hin, dass diese keine gesicherten Indizien sind. Insgesamt beschreibt sie 28 Charakteristika, die in vier Kategorien eingeteilt sind:

  • Emotionale Merkmale (S. 49)
  • Mentale Merkmale (S. 52)
  • Körperliche Symptome (S. 57) und
  • Typische Verhaltens- und Beziehungsmerkmale (S. 58).

Neben diesen möglichen Hinweisen, leiden ACoAs auch unter Verlust- und Verlassenwerdensängsten. Kinder, die in Alkoholiker Familien aufwachsen, erleben leibliche wie emotionale Vernachlässigung. Josta Bernstädt hebt hervor, dass „emotionale Vernachlässigung […] weitreichende Auswirkungen auf ACoAs“ (S. 67) haben, welche die Bindungsbedürfnisse beeinflussen und damit die späteren Beziehungen im Erwachsenenalter.

Des Weiteren leiden „die meisten ACoAs unter chronifiziertem Schockzustand“ (S. 72) beziehungsweise „einer komplexen traumatischen Belastungsstörung“ (S. 73). Nach Josta Bernstädt hängt dies unter anderem mit der Regel der Verschwiegenheit zusammen. Kinder, die in Alkoholiker Familien belastenden Erlebnissen ausgesetzt sind, wie beispielsweise Gewalt, Unfällen, Verletzungen, haben oft nicht die Möglichkeit, über diese Erlebnisse und ihre Emotionen mit ihren Eltern oder Außenstehenden zu sprechen, da über die Vorfälle geschwiegen wird. Dies kann dann dazu führen, dass das Kind das Ereignis nicht mehr erinnert oder die Gefühle abspaltet und dissoziiert (vgl. S. 75). Für das therapeutische Setting bedeutet dies, dass ein Teil der ACoAs nicht weiß, dass sie sich in einem chronifizierten Schockzustand befinden und deshalb „in ihrer Therapie feststecken“ (ebd.). Therapeut*innen haben die Möglichkeit, sie „durch ihren Genesungsprozess [zu] führen und [zu] begleiten“ (ebd.), wenn die Klient*innen dies wollen.

Im abschließenden Kapitel geht die Autorin auf ihre eigene Geschichte als betroffene ACoA ein und wie die eigene Betroffenheit im therapeutischen Prozess genutzt werden kann. Sie betont, dass es wichtig ist, sich seiner eigenen Verwundungen und Co-Abhängigkeit bewusst zu sein, „um sich nicht in Konfluenz zu verlieren und Projektionen erkennen zu können“ (S. 87). Zugleich warnt sie davor, „Klient*innen darauf zu reduzieren, in einer alkoholkranken Familie groß geworden zu sein“ (S. 86).

Zu Beginn des zweiten Teils, wie kann Genesung gelingen, gibt die Autorin einige Empfehlungen als auch Leitlinien zur Gestaltung des therapeutischen Prozesses und Settings, bevor sie auf das konkrete therapeutische Handeln eingeht. Die Autorin beschreibt zunächst den Behandlungsverlauf, mit dem es gelingen kann, den chronifizierten Schockzustand aufzulösen. Wichtig sei dabei eine vertrauensvolle und sichere Beziehung zum/zur Therapeut*in und im Gruppensetting zu den Gruppenmitgliedern. Für die Klient*innen bedeutet die Auflösung des chronifizierten Schockzustands, in ihre erlebten Traumata einzutauchen, ihre Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen, wofür die Klient*innen ein absolut sicheres (therapeutisches) Umfeld brauchen. In ihrem Verständnis von Gestalttherapie bezieht Josta Bernstädt den „Prozess der Selbstregulierung“ (S. 108) mit ein sowie Imaginationen, wie beispielsweise die idealen Eltern, um positive Erfahrungen zu kreieren.

Immer wieder verweist die Autorin auf die vier Regeln von Alkoholiker Familien, welche ihr Leben zutiefst beeinflussen und noch im Erwachsenenalter wirken. So haben diese auch Auswirkungen auf den Kontaktstil und auf die Beziehungen in ihrem Leben. Im Therapieprozess geht es darum, einen neuen Umgang zu finden, „gemeinsam Handlungen zu erfinden, die heutzutage geeigneter sind, sie zu schützen“ (S. 119).

In Bezug auf Kepner (1988) mit seinem gestalttherapeutischen Ansatz der Körperprozesse (vgl. S. 129) umreißt die Autorin zunächst das ineinander übergreifende vier Phasen Modell Kepners:

  1. „die Entwicklung von Stützung (Support),
  2. die Entwicklung von Selbstfunktionen,
  3. traumatische Erlebnisse aufmachen (Undoing), verändern und betrauern,
  4. rückblickend neu zusammensetzen und festigen“ (S. 129).

Im Anschluss beschreibt die Autorin ausführlich die einzelnen Phasen, die sie mit ihrer therapeutischen Arbeit mit ACoAs und deren Themen im Heilungsprozess verbindet. Detailliert beschreibt sie, wie und an welchen Themen sie mit den Klient*innen arbeitet. Dabei nimmt sie immer wieder Bezug auf ihre Ausführungen im ersten Teil zum stillen Leiden der ACoAs.

Für die Klient*innen geht es im therapeutischen Prozess darum, ihre Selbstfunktionen zu entwickeln und Fähigkeiten, wie die eigenen Grenzen wahrzunehmen, zu spüren und Grenzen zu setzen, als auch Selbstfürsorge zu erlernen, auf der Metaebene auf das alkoholkranke Familiensystem zu blicken, und „den passenden Hintergrund für Figuren zu finden“ (S. 141) um nur einige der Fähigkeiten zu nennen, die Josta Bernstädt mit den Klient*innen im Therapieprozess weiterentwickelt und stärkt, damit diese nachreifen können.

Ein besonderes Augenmerk widmet sie den Scham-, Schuld- und Ekelgefühlen, die ACoAs empfinden, jedoch nicht mehr bewusst wahrnehmen. In der biografischen Aufarbeitung können diese Gefühle wieder an die Oberfläche treten. Im therapeutischen Prozess gilt es, diese unerwünschten Gefühle „anzunehmen, auszuhalten, auszudrücken und gegebenenfalls an die jeweilige Person zurückzugeben“ (S. 158). Die Gestalttherapeutin weist daraufhin, dass auch die Therapeutin über die „Fähigkeit, Scham-, Schuld- und Ekelgefühle zu erkennen, zu benennen und auszuhalten“ verfügen sollte. Ausführlich schildert sie, wie Scham-, Schuld- und Ekelgefühle in Alkoholkranken Familiensystemen ihre Wirkung auf die Kinder entfaltet haben und wie sie mit Klient*innen an diesen zentralen Gefühlen im gestalttherapeutischen Prozess arbeitet.

Als ein wesentlicher Teil „des Genesungsprozesses von ACoAs erweist sich […] die Biografiearbeit“ (S. 169). Josta Bernstädt stellt einige der Methoden vor, mit denen sie arbeitet. Dazu gehören:

  • die Genogrammarbeit
  • „ein Familienwappen malen
  • Familienmythen, Familienwahlspruch und Gerüchte zusammentragen,
  • ein Therapietagebuch schreiben
  • ein Überblick über die persönliche Geschichte – Meilensteine und Lebenspanorama
  • das Familien-Fotoalbum
  • Konzentration auf Körperempfindungen und der Dialog mit dem Körper
  • Ergänzung der persönlichen Geschichte
  • positive Erinnerungen und Wohlfühlinseln“ (S. 170).

Im Anschluss beschreibt sie die Methoden und ihren Einsatz im therapeutischen Prozess. Veranschaulicht ihre Vorgehensweise mit Impulsen und Beispielen aus der Praxis.

Zur Biografie von ACoAs gehören auch die vielen inneren Verletzungen, die sie als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Zum Heilungsprozess gehört für Josta Bernstädt die „Zuwendung zum ‚Inneren‘ Kind“ (S. 184). Sie betont, dass es im therapeutischen Prozess wichtig ist, nach dem Alter des Kindes zu fragen. Denn je nachdem wie alt das verletzte Kind oder der/die Jugendliche war, stehen unterschiedliche altersabhängige Entwicklungsbedürfnisse im Fokus. Für die Autorin ist es wesentlich, dass die Klient*innen alle ihre inneren Kinder kennen und orientiert sich damit bildlich an John Bradshaws Illustration der Kinder, die wie Orgelpfeifen aneinandergereiht vor dem Erwachsenen stehen (vgl. S. 185).

Die Arbeit mit dem inneren Kind gehört im Heilungsprozess zur Entwicklung der Selbstfunktionen eines ACoAs. Im therapeutischen Prozess dürfen die Klient*innen einerseits betrauern, „keine wirkliche Kindheit gehabt zu haben“ (S. 187) und andererseits können die verschütteten Qualitäten „aufgespürt und nachträglich weiterentwickelt werden“ (ebd.), wie beispielsweise Spontanität und Kreativität, „Lebensfreude, Lebendigkeit und (umsichtige) Lebensfreude“ (ebd.). Nachfolgend beschreibt die Autorin einige ihrer Methoden, die sie im Genesungsprozess anwendet.

Die Autorin verweist immer wieder darauf, dass ACoAs „wenig Zugang zu ihren Gefühlen und damit verbundenen Körpererfahrungen“ (S. 209) haben. In ihren bisherigen Ausführungen floss die Zuwendung zu Körper- und Energieprozessen immer wieder ein. In diesem Kapitel führt sie ausführlich aus, wie im gestalttherapeutischen Prozess Impulse gesetzt werden können, damit Klient*innen wieder mit sich selbst und ihrem Körper Kontakt aufnehmen können sowie sich der eigenen Entkörperlichung bewusst zu werden.

In ihrer Einleitung des Kapitels zur Erweiterung von Gewahrsein und Präsenz durch spirituelle Praxis, erklärt Josta Bernstädt, dass für sie „Gestalttherapie […] auch eine Anleitung zu spiritueller Praxis ohne den Überbau einer bestimmten religiösen Lehre“ (S. 229) ist, und sich „Gestalttherapie […] auch aufgrund ihrer spirituellen Ausrichtung besonders gut für die Begleitung von ACoAs in ihrem Genesungsprozess“ (ebd.) eignet. Dies erfordert jedoch auch von Therapeut*innen eine spirituelle Grundhaltung, die es zu pflegen gilt (vgl. ebd.). Neben dem Gewahrsein der unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich die Kontaktgestaltung der Klient*innen mit sich selbst und ihrer Umwelt bezieht, geht es auch um selbstfürsorgliches handeln. Sich selbst wahrzunehmen, mit sich selbst in Kontakt zu kommen, die Präsenz des Gegenübers zu spüren, sich der eigenen Präsenz bewusst zu werden sind, Entwicklungsfelder, die in diesem Abschnitt angesprochen werden. Impulse und Interventionen unterstützen den Prozess der Awareness, sich der eigenen „Gedanken, Gefühle, […] Wahrnehmungen, Körperempfindungen, innere[n] Bild[er] und Handlungsimpulse“ (S. 231) bewusst zu werden.

Mit Erfahrungen integrieren – offene Gestalten schließen, wendet sich die Autorin der dritten Phase im Genesungsprozess zu. Die Autorin klärt darüber auf, wie „offene Gestalten und ihre […] Relevanz“ (S. 246) im Genesungsprozess erkannt und geschlossen werden können. Diese dritte Phase führt in die vierte Phase der Neusortierung. Wurden offene Gestalten geschlossen, können die Klient*innen „sich auf Neues einlassen und ihnen werden grundlegende Veränderungen […] gelingen“ (S. 261).

Mit die Beendigung der Therapie – eine kritische Phase schließt Josta Bernstädt den zweiten Teil des Buchs ab.

Im dritten Teil des Buchs Jenseits von Genesung finden sich einige Anregungen, wie ein Leben nach der Therapie gelingen kann. Sie empfiehlt Betroffenen, sich nach Beendigung der Therapie eine oder mehrere Gruppen zu suchen, die „eine inspirierende, sinnstiftende Tätigkeit/​Beschäftigung“ (S. 292) bieten und in der das „Engagement in der Gruppe eine nährende Erfahrung ist“ (ebd.). Anhand einiger Merkmale zeigt sie auf, was „gesunde Gruppen“ ausmacht, damit diese unterstützend wirken. In diesem Teil des Buchs geht die Autorin den Fragen nach, ob ein ‚normales‘ Leben nach Beendigung der Therapie möglich ist, was eine gesunde Beziehung und was ein gutes Leben ist. Die Autorin betrachtet individuelle Aspekte, die es genesenen ACoAs ermöglichen, ein sinnerfüllteres und selbstbestimmteres Leben zu führen. Gleichzeitig erwähnt sie gesellschaftspolitische Aspekte, die es Klient*innen erschweren, sich Rückschlägen zu entziehen.

Diskussion

Josta Bernstädt ist es ein großes Anliegen auf die psychischen Beeinträchtigungen von ACoAs aufmerksam zu machen. Tief beeinflusst hat sie das Werk von Kristberg (1988) „The Adult Children of Alcoholics“, welches ihr als selbst betroffene ACoA half sich aus den „eigenen Suchtstrukturen zu befreien“ (S. 12). In das Buch flossen nicht nur ihre Erfahrungen als Betroffene, sondern vor allem ihre Erfahrungen als Therapeutin mit eigener Praxis, als auch ihrer klinischen Arbeit mit Suchterkrankten ein. In ihre Ausführungen und Beschreibungen fließen immer wieder Fallbeispiele aus diesen beiden therapeutischen Bereichen ein. Immer wieder legt die Autorin bei ihren Beschreibungen und Anregungen den Fokus auf die gestalttherapeutische Arbeit und erörtert wesentliche Prinzipien der Gestalttherapie. Damit ist das Buch für Betroffene als auch (angehende) Therapeut*innen gut verständlich.

Immer wieder zeigt die Autorin auf, wie ‚normal‘ und selbstverständlich wir in unserer Gesellschaft den Alkoholkonsum hinnehmen und dabei verkennen, wie gefährlich dieser für Betroffene werden kann. In Teil II das stille Leiden von ACoAs beschreibt die Autorin viele Charakteristika von ACoAs beziehungsweise Betroffenen aus Suchtfamilien. Diese Hinweise können jedoch auch auf Menschen ohne Suchterkrankungen im Familiensystem zutreffen. Die Autorin selbst betont daher immer wieder, dass es eine Möglichkeit darstellt, die es mit den Klient*innen abzugleichen gilt. Denn viele Klient*innen, die sich in Therapie begeben, kommen wegen einer akuten Lebenskrise. Auch wenn in der Anamnese eine Alkoholerkrankung eines Familienmitglieds angesprochen wird oder im Laufe der Therapie zur Sprache kommt, sollten die Klient*innen nicht gleich als ACoAs betrachtet werden, sondern diese Themen behutsam erfragt werden und gemeinsam mit Erlaubnis der Klient*innen bearbeitet werden. Es gilt sich gemeinsam im Tempo der Klient*innen auf die Genesungsreise zu begeben. Diese bedeutet auch, dass Klient*innen Interventionen ablehnen dürfen.

Die Autorin betont immer wieder die Beziehung zwischen dem/der ACoA und der/dem Therapeut*in. Ihr ist wichtig, dass die Therapeutin/der Therapeut Interventionen anbietet, zum Experimentieren einlädt. In der Arbeit mit dem/der Klient*in soweit mitzugehen, wie es die Klient*innen zulassen. Wichtig sei es, den Klient*innen ein sicheres Umfeld zu bieten, damit Genesungsprozesse angestoßen werden können. Der gestalttherapeutische Prozess bzw. Genesungsprozess von ACoAs braucht Zeit. Hier bezieht sie sich auf James Kepner’s Ansatz indem Zeit eine bedeutende Rolle spielt: Zeit geben, um Dinge entstehen zu lassen, Zeit für Pausen. Den ganzheitlichen Aspekt im Blick zu haben und sich dabei auf den in der Therapie gerade aktuellen Aspekt der Heilung beziehen. Zwischenschritte zu gehen, den Prozess bewusst zu verlangsamen, vor allem, wenn ersichtlich wird, dass die Klient*innen selbst noch Zeit brauchen oder aber sie unangenehmen Themen ausweichen und übergehen, was oft bei Emotionen und Köperempfindungen der Fall ist. Behutsam gibt die Autorin Impulse als Einladungen an die Klient*innen. Sie ermöglichen es hinzuschauen und doch mit dem eigenen Tempo an diese ungeschlossenen Erfahrungen heranzugehen.

Das Buch ist kein Selbsthilfebuch, auch wenn Josta Berstädt immer wieder zur Selbstreflexion einlädt, Betroffene wie Therapeut*innen persönlich anspricht. Denn, so die Autorin, für den Heilungsprozess, die Exploration, das schließen offener Gestalten braucht es das therapeutische Gegenüber.

Fazit

Josta Bernstädts Buch ist für Betroffene, Therapeut*innen als auch Berater*innen sowie für alle Menschen, die mit Alkoholkranken Familiensystemen arbeiten, geschrieben. Es klärt auf, gibt Anregungen und Impulse für die Arbeit mit Betroffenen und für Betroffene. Es ist allerdings kein Selbsthilfebuch, sondern bedingt einen Therapeuten als Gegenüber. Josta Bernstädt nimmt die Leser*innen mit auf die Reise ihrer gestalttherapeutischen Arbeit mit Klient*innen aus alkoholkranken Familiensystemen.

Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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Es gibt 71 Rezensionen von Alexandra Großer.

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ISSN 2190-9245