Guter Ganztag - Auf die Perspektive kommt es an
Rezensiert von Prof. Dr. rer.soc. Ulrich Deinet, 30.08.2023
Guter Ganztag - Auf die Perspektive kommt es an. Good all-day education and care : It´s the perspective that counts. verlag das netz GmbH (Kiliansroda) 2022. 68 Seiten. ISBN 978-3-86892-185-4. 7,90 EUR.
Thema und Hintergründe
Ausgehend vom kommenden Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule versucht die Broschüre des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes der Frage nachzugehen, wie ein guter Ganztag aussehen könnte. Dabei geht es um große Kinder, also 6 – 13 Jährige und deren Perspektive. Der Pestalozzi-Fröbel-Verband, der sich als politisch und konfessionell unabhängiger Fachverband für Kindheit und Bildung versteht, hat sich in einer digitalen Dialogveranstaltung 2021 mit der Frage des guten Ganztages beschäftigt und die von dem Verband herausgegebenen Broschüre scheint wohl Inhalt und Ergebnis dieser Tagung wiederzugeben und möchte damit einen Beitrag des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes zur Entwicklung eines guten Ganztages leisten. Der 35 seitige deutsche Text wird im zweiten Teil in englischer Sprache wiederholt.
Autor*innen
Die AutorInnen des Buches und seiner Beiträge kommen aus dem Pestalozzi-Fröbel-Verband und seinem Umfeld oder waren ReferentInnen bei der Dialogveranstaltung 2021, auf die sich die Veröffentlichung bezieht.
Inhalt
Nach einem einführenden Beitrag werden in der Broschüre vier Einblicke in die Praxis des Ganztages gegeben, die zeigen sollen, wie guter Ganztag für „große Kinder“ aussehen kann, wie diese beteiligt werden können und welche Auswirkungen dies auf Schule und die Gestaltung des Ganztages mit außerschulischen Partnern hat.
Die Einführung von Anke König und Ines Freitag-Amtmann trägt noch einmal die Hintergründe, insbesondere aus dem Ganztagsförderungsgesetz und der Entwicklung der Bildungsdebatte, zusammen. Die Autorinnen sprechen sich für einen erweiterten Bildungsbegriff aus, der auch die Grundlage für die Auswahl der folgenden vier Beispiele ist. In der Einleitung werden auch noch die unterschiedlichen Zugänge aus Praxis, Wissenschaft, Ministerialbürokratie, Kommune, etc. angesprochen, die „einen Dialog zum Thema durchaus herausfordernd machen“.
Im ersten Beitrag geht Ludger Pesch der Frage nach, welche Qualitätsaspekte für einen guten Ganztag zu beachten sind. Im ersten Teil geht es um die Bedürfnisse von großen Kindern, damit ist die Altersstufe zwischen dem 6. und 13. Lebensjahr gemeint. Die Bedeutung der Freundschaft, selbstbestimmter Bewegung, des Kompetenzzuwachses sowie der Perspektive der Eltern von großen Kindern mit ihrem Interesse nach Wohlbefinden, Schulerfolg und Betreuung werden kurz beschrieben, allerdings werden dazu keine weiteren Quellen genutzt, sodass viele Formulierungen eher normativ als wissenschaftlich begründet oder empirisch belegt erscheinen.
Es folgt ein Teil zu dem Thema „integriertes Bildungsverständnis als Leitlinie der Ganztagsentwicklung“. Hier werden wesentliche Aspekte wie die Erweiterung des traditionellen Auftrages, die neuen Herausforderungen in der Trias von Bildung, Erziehung und Betreuung, das Wohlbefinden als Qualitätskriterium sowie die Rechte der Kinder und ihr Bewegungsinteresse jeweils diskutiert. Gut zu lesen, allerdings fehlen auch hier Quellen oder Hinweise auf empirische Grundlagen, etwa bei dem sehr interessanten Thema des Wohlbefindens als Qualitätskriterium (Seite 12).
Woher die durchaus sinnvoll erscheinenden Einschätzungen und Empfehlungen des Autors stammen, wird erst klarer, wenn man in dem umfangreichen Anhang und Autorenverzeichnis nachlesen kann, dass er der Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses und Vorsitzender der Initiative für große Kinder e.V. und ehemaliger Professor an einer Fachhochschule ist. Der erste Beitrag ist insofern eher als Essay zu verstehen, der gut lesbar die wesentlichen Aspekte der Qualitätskriterien eines guten Ganztages zusammenfasst und auch als Empfehlungsteil zu verstehen ist.
Im zweiten Beitrag beschreiben Marlies Dunkel und Ramona Hoidn-Stock den gelingenden Ganztag an der Thüringer Gemeinschaftsschule Otto-Lilienthal in Erfurt. In der Einleitung werden die Hintergründe der Schule kurz skizziert, die aus einer reformpädagogischen Tradition heraus inklusives Lernen durch altersübergreifendes Arbeiten in sogenannten Lernhäusern mit festen Bezugspersonen realisiert. Altersgemischte Jahrgänge (1 bis 4 und 5 bis 8) bilden eine weitere Rahmenbedingung für eine sehr stark auf umfassende Bildung ausgerichtete schulische Praxis. Das Leitbild auf Seite 17 fasst dies in wichtigen Begriffen zusammen.
Im nächsten Abschnitt geht es um Partizipation und Demokratie als Schlüssel zur Gesellschaft, und es werden die Beteiligungsformen vom täglichen Gesprächskreis über Lernhaus-Sprecherkonferenzen bis zum Lernhaus-Rat kurz skizziert. „Das vielseitige Lernen am ganzen Tag“ auf Seite 18 ff. zeigt eine sehr stark auf selbstständiges Lernen und Arbeiten ausgerichtete Orientierung, die sich auch auf die Freizeitangebote bezieht. Wesentlich für diese Schule und die Gestaltung des Ganztages ist der sogenannte Teamgedanke (ab Seite 20), in dem die Lernhaus-Teams und deren Interdisziplinarität vorgestellt werden.
Auch der Tagesablauf in der Gemeinschaftsschule auf Seite 22 und 23 zeigt, wie stark das Konzept auf Lernen in einem breiten Sinne ausgerichtet ist. Leider fehlt dem sehr interessanten Beitrag ein Schlussteil, der noch einmal die wesentlichen Aspekte zusammenfasst. Sicher ist dies ein sehr gelungenes Beispiel, das aber doch sehr stark aus schulischer Sicht geprägt wird. Außerschulische Partner und die Bedeutung selbstbestimmter Zeit spielen anscheinend eine weniger große Rolle.
Der dritte Beitrag von Charis Förster und Diemut König sowie Liliane Rosar-Ickler kommt nun auf einer wieder anderen „Flughöhe“ daher, es geht nämlich hier um einen Überblick über Ganztagsschulen im Saarland, in dem zunächst das System der Ganztagsschulen in dem Bundesland erklärt wird. Im Mittelpunkt steht die freiwillige Ganztagsschule, die ähnlich organisiert und strukturiert ist wie z.B. die nordrhein-westfälische offene Ganztagsschule. Im Vergleich dazu existiert im Saarland auch die gebundene Ganztagsschule mit ihrer sehr stark schulisch ausgerichteten Orientierung, die aber eine interprofessionelle Kooperation in multiprofessionellen Teams vorsieht. Dennoch entspricht diese gebundene Schulform aus Sicht der AutorInnen nicht der heute von vielen Eltern erwarteten Flexibilität. Dies wird auch im Vergleich der beiden Ganztagsschulformen auf Seite 26 herausgearbeitet.
Im nächsten Beitrag von Ulrike Glöckner, Holger Renner und Elisabeth Späth geht es um Partizipation im Ganztag. Ausgehend von der in der Literatur weit verbreiteten Stufenleiter der Beteiligung auf Seite 30 werden unterschiedliche Niveaustufen und Formen der Partizipation vorgestellt, die auch im schulischen Bereich umgesetzt werden können. In einem Kasten werden die von Annedore Prengel mit anderen Expertinnen entwickelten Leitlinien für ethisch begründetes Verhalten („Reckahner-Reflexionen“) in den Text eingestreut, dies bleibt allerdings erklärungsbedürftig und kann so für die LeserInnen kaum nutzbar gemacht werden.
In dem nächsten Teil geht es um Wirkungen von Partizipation im Ganztag, und es wird das „demokratische Problem“ auf den Punkt gebracht, dass Kinder in der Regel nämlich keine Möglichkeit haben, über wesentliche Aspekte des Schullebens, z.B. die Gestaltung des Unterrichtes oder überhaupt ihre Teilnahme am Unterricht mitzuentscheiden. Vor diesem Hintergrund geht es im Folgenden darum, wie sozialpädagogische Fachkräfte und Lehrpersonen den Kindern zustehende Rechte so gut wie möglich in der Schule ermöglichen können. Grundlage hierfür sind auch die alterstypischen Entwicklungsbedürfnisse, die in einem Kasten, unter Bezug auf die Autorin Oggi Enderlein, auf Seite 32 sehr kurz eingeführt werden.
Die beiden letzten Abschnitte beziehen sich auf die Haltung und Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte und die Frage wie gelebter Alltag aussieht. Hier finden wir sehr viele Empfehlungen, die eher normativ formuliert sind und wo nicht ganz klar ist, welcher Erfahrungshintergrund zu diesen Einschätzungen führt. Am Beispiel der KlassensprecherInnenwahl, der Essenssituation und der Gestaltung des Raumes werden im letzten Teil des Beitrages noch einmal sehr schön die Aspekte der Beteiligung von Kindern durchdekliniert.
Diskussion
Der Aufbau der Broschüre ist durchaus schlüssig, allerdings fehlen in den meisten Einzelbeiträgen am Ende zusammenfassende Einschätzungen zur Relevanz der dargestellten Praxis für die Ausgangsfrage nach einem gelingenden Ganztag.
Die Veröffentlichung umfasst nach der Einführung vier interessante Beiträge, die aber auf sehr unterschiedlichen Flughöhen – wenn man das so sagen darf – operieren. Die Beispiele kommen stark aus dem schulischen Bereich, wie die Thüringer Gemeinschaftsschule, und es fehlt – gerade vor dem Hintergrund einer Veröffentlichung des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes – ein Beispiel aus der Jugendhilfe, z.B. aus einem Hort oder einer offenen Ganztagsschule in Trägerschaft der Jugendhilfe, um das gesamte Spektrum der Möglichkeiten, den Ganztag gut zu beschreiben.
Gewünscht hätte man sich nach diesen vier Beiträgen auch eine abschließende Ausführung, die für die LeserInnen den Gehalt der vier Beiträge in Bezug auf die anfangs gestellte Frage diskutiert hätte, wie ein guter Ganztag für ältere Kinder aussehen kann.
Aus welchen Hintergründen und Erfahrungsbeständen sich die Einschätzungen und Empfehlungen der AutorInnen speisen wird nicht immer klar. Hier muss man in das Autorenverzeichnis schauen, um einen Eindruck von den beeindruckenden beruflichen Biografien der AutorInnen zu bekommen.
Fazit
Auf 30 Seiten werden interessante Aspekte, Einschätzungen, Beispiele und Empfehlungen für die Gestaltung des Ganztags zusammengetragen, die allerdings etwas unverbunden bleiben.
Die Veröffentlichung verstehe ich als erweiterte Dokumentation einer interessanten Tagung, die dann besonders wertvoll ist wenn man an der Tagung teilgenommen hat.
Rezension von
Prof. Dr. rer.soc. Ulrich Deinet
Dipl.-Pädagoge, bis 2021 Professur für Didaktik/Methodik der Sozialpädagogik an der Hochschule Düsseldorf, Co-Leiter der Forschungsstelle für sozialraumorientierte Praxisforschung und –Entwicklung FSPE; Mitherausgeber des Online-Journals sozialraum.de. Freiberuflicher Kindheits- und Jugendforscher, Seminarleiter, Berater und Referent, Themen: Kooperation von Jugendhilfe und Schule, Schulsozialarbeit, Ganztagsbildung, Offene Kinder- und Jugendarbeit, Sozialraumorientierung, Konzept- und Qualitätsentwicklung.
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Zitiervorschlag
Ulrich Deinet. Rezension vom 30.08.2023 zu:
Guter Ganztag - Auf die Perspektive kommt es an. Good all-day education and care : It´s the perspective that counts. verlag das netz GmbH
(Kiliansroda) 2022.
ISBN 978-3-86892-185-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30743.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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