Giovanni A. Fava: Antidepressiva absetzen
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 04.07.2023
Giovanni A. Fava: Antidepressiva absetzen. Anleitung zum personalisierten Begleiten von Absetzproblemen. Schattauer (Stuttgart) 2023. 152 Seiten. ISBN 978-3-608-40149-3. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR.
Thema
Seit einigen Jahren wird die Entwicklung eines Entzugssyndroms nach dem Absetzen von antidepressiver Medikation immer häufiger beschrieben, zuerst in dezidiert antipsychiatrischen Kreisen [1], später im Rahmen der Recovery-Bewegung [2] auch im Gemeindepsychiatrischen Feld [3] und schließlich auch im psychiatrischen Mainstream [4]. Nur in konservativen Kreisen einer orthodoxen Somatopsychiatrie wird die Position einer möglichen Unterdosierung oder Unterbehandlung mit Antidepressiva noch eher unreflektiert vertreten [5]
Autor
Giovanni A. Fava (*1952) ist Psychiater und Psychotherapeut mit Medizinstudium und Facharztausbildung in Padua (Abschluss 1981). Er war er in den USA tätig (Albuquerque and Buffalo, N.Y.), ist seit 1997 Professor für klinische Psychologie in Bologna sowie seit 1999 clinical professor of psychiatry an der New York State University an der Buffalo's School of Medicine. Seit 1992 gibt er die Zeitschrift „Psychotherapy and Psychosomatics“ heraus. Fava kann auf 500 Publikationen verweisen, unter anderem auf das ins Deutsche übersetzte Behandlungsmanual zur Well-Being-Therapy (WBT).
Entstehungshintergrund
Auf dem Höhepunkt der sogenannten Zielsyndrompsychiatrie in den USA war Peter D. Kramers: Listening Pozac (erstmals 1987 deutsch: 1995 Glück auf Rezept), die Frage auf, ob es ethisch vertretbar sie, ein Medikament auf den Markt zu bringen, das Menschen glücklicher und leistungsfähiger macht im Vergleich zu Menschen, die kein Medikament einnehmen. Er bejahte diese Frage. In diesem Klima ergänzte Giovanni A. Fava sein psychiatrisches Wissen in den USA und wird schließlich nach Italien auf eine Professur in Bologna berufen. Fava bleibt dem amerikanischen Pragmatismus treu und entwickelt gleichzeitig eine ausgesprochen kritische Haltung gegenüber der Pharmaindustrie und den Meinungsmachern seines eigenen Fachs. So entgeht ihm nicht, dass die immer expansivere Verordnung von antidepressiven Medikamenten zahlreiche Probleme mit sich bringt.
Aufbau und Inhalt
In 13 kurzen Kapiteln
1. Zugang zum Problem
Jahrzehntelang war trizyklische Antidepressivum Amitriptylin das am häufigsten verordnete antidepressive Medikament. Mit heftigen unerwünschten Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Tremor, Konvulsionen) war sein Suchtpotenzial gering; auch um die Compliance war es natürlich nicht gut bestellt. Wer seine quälende depressive Symptomatik einigermaßen ertragen konnte, wollte das Medikament wieder los werden. Seit dem Beginn des Vertriebs der 2. Generation Antidepressiva mit weniger unerwünschten Wirkungen, beginnend mit Fluoxetin (in den USA Prozac seit 1988, in Deutschland Fluctin seit 1990) stehen die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer SSRI und etwas später die Serotonin-Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer SNRI im Zentrum der Depressionstherapie. Im Zuge massiver Werbekampagnen der Industrie wurde die Indikation für diese Medikamente immer weiter ausgedehnt, so etwa zur Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen. Inzwischen nimmt in Deutschland mindestens jeder 10. Erwachsene ein antidepressives Medikament ein (etwa 7 Millionen Menschen [Bertram S. 9], für die Zeit nach Korona gibt es noch keine Statistiken).
Anders als bei den die traditionellen antidepressiven Medikamente schienen die Nebenwirkungen vernachlässigbar zu sein, manche e Patienten verspürten praktisch keine unerwünschten Wirkungen. Beim Versuch das Medikament abzusetzen, kam es jedoch bei vielen Nutzer-innen zu einem heftigen Abstinenzsyndrom, bei anderen erreichte die depressive Symptomatik praktisch ein Niveau das höher war als vor Beginn der Medikation, bis hin zur Erstmanifestation einer Bipolaren Störung oder eines Hypomanischen oder Manischen Syndroms.
2. Die klinische Manifestation des Entzugs nach dem Absetzen von Antidepressiva
Allgemein: Schwitzen; grippeähnliche Symptome; Kopfschmerzen; Flush; Schüttelfrost; Müdigkeit; Schwäche; Schmerzen; Unwohlsein; Lethargie
Kardiovaskulär: Tachykardie; Schwindel; Benommenheit; Brustschmerzen; Hypertonie; orthostatische Hypotonie; Schwindel; Synkope; Dyspnoe
Gastrointestinal: Übelkeit; Erbrechen; Anorexie; Appetitlosigkeit; Durchfall; Bauchschmerzen/Krämpfe/Distention; weicher Stuhl; Ösophagitis; vermehrter Stuhlgang.
Es folgen lange Symptomlisten (mit knapp 70 Symptomatiken) unter den Rubriken sensorisch, neuromuskulär, sexuell, neurologisch, kognitiv, affektiv, Verhalten, Schlaf,…
Alle diese Symptome sind natürlich unspezifisch und können auch in anderen Zusammenhängen auftreten.
3. Die klinische Manifestation der Verhaltenstoxizität
Durch psychiatrische Behandlungsstrategien werden (iatrogen) psychische Störungen verursacht, die es ohne die medizinisch induzierten Umstände nicht geben würde. Dazu zählen (psychische?) Abhängigkeiten von Medikamenten, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen, Entzugssyndrome und der Übergang von einer psychogenen (leichteren) depressiven Störung zu einer schweren Depression, unter Umständen im Rahmen einen Bipolaren Störung.
Seit einiger Zeit wissen wir, dass Antidepressiva mit kurzer Halbwertzeit (Escitalopram, Venlafaxin) eher Probleme bereiten als Medikamente mit langer Halbwertzeit (Fluoxetin, Trizyklika)
- Zum Verständnis der Pathophysiologie von Entzugssyndromen
- Die Entscheidung zum Absetzen von Antidepressiva
- Das Setting für das begleitete Absetzen von Antidepressiva
- Die Bedeutung der klinischen Bewertung
- Pharmakologische Strategien
- Erstes psychotherapeutisches Modul: Erklärende Therapie
- Zweites psychotherapeutisches Modul: Kognitiv-behaviorale Therapie
- Drittes psychotherapeutisches Modul: Well-Being-Therapie
Das Kapitel 12 Prävention von Abhängigkeit und Entzug mit antidepressiven Medikamenten fordert die Einbeziehung der iatrogenen Perspektive in klinische Entscheidungen, die Verkürzung der Behandlungsdauer sowie bespricht fehlende Erziehung und die Notwendigkeit einer Gegenkultur. Mit diesen Maßnahmen wäre ein rationaler Einsatz antidepressiver Medikation gesichert, der umfassen würde, diese Medikamente nur für die schwersten und hartnäckigsten Fälle von Depression auszurichten, ihren Einsatz auf die kürzestmögliche Zeit zu beschränken und ihn bei Angststörungen zu reduzieren.
4. Eine andere Psychiatrie ist möglich
An dieser Stelle macht der Autor eine Krise des Fachs der Psychiatrie aus, die verbunden ist mit einem Verlust der klinischen Praxis als Quelle für wissenschaftliche Untersuchungen. Die Neurowissenschaften hätten der Psychiatrie ihren konzeptionellen Rahmen wesentlich mehr aufgedrängt, als es für Untersuchungsinstrumente zur Beantwortung der Fragen erforderlich ist, die von der klinischen Praxis aufgeworfen würden.
Biologischer Reduktionismus: Dabei sei etwa die Tendenz zu beobachten, komplexe klinische Phänomene als letztlich von einer einzigen (z.B. genetischen) Ursache abzuleiten, anstatt einen multifaktoriellen Bezugsrahmen zu verwenden. Das geschehe oft vor dem Hintergrund, (ausschließlich) evidenzbasierte Kriterien im aktuell enggeführten Verständnis zu verwenden.
Die Grenzen diagnostischer Kriterien würde geleugnet.
Die Forschung sei von klinischen Erfordernissen mehr und mehr abgekoppelt.
Psychiatrische Expertise habe immer weniger Einfluss auf die Allgemeine Medizin, die ihre eigenen Maßstäbe kreiert.
Der Einfluss der Pharmaindustrie wachse weiter.
Es folgt ein Leitfaden für eine klinische Revolution und ein Sachverzeichnis
Diskussion
Ohne die pragmatische Position Giovanni A. Favas Position in Frage stellen zu wollen, muss hier doch ein Mangel an Reflexionstiefe festgestellt werden. Es werden nicht nur klinische Fragen diskutiert, sondern es fließt eine Form der Gesellschaftskritik ein und auch eine immanente Kritik der evidenzbasierten Medizin. Gleichzeitig lässt der pragmatische Ansatz jede psychodynamische Reflexion vermissen (z.B. Menzos 1995), aber auch jede Form der anthropologisch-existenziellen Vertiefung, wie sie in der deutschsprachigen Psychiatrie seit den 50er Jahren mit von Weizsäcker, Gebsattel, Tellenbach etc. eingeführt wurde. Dass das Subjekt in einer wettbewerbsförmigen Gesellschaft vielleicht überfordert sein könnte, bleibt ausgespart. Ebenfalls unerwähnt bleiben die italienischen Kolleg-innen aus dem Bereich der Demokratischen Psychiatrie, die die Tendenz hatte, gesellschaftliche Ursachen psychischer Krankheit auszuloten.
Im Zuge der Zielsyndrompsychiatrie in den USA entsprach es dem Standard, psychodynamische Reflexionen als irrelevant anzusehen, obwohl gerade im US-amerikanischen Diskurs zu dieser Frage bedeutend Beiträge geleistet wurden. Ich denke etwa an Edith Jacobson und an die Protagonisten der Interpersonellen Therapie im Gefolge H.S. Sullivans. Das Bild der depressiven Störung mit dem Fava operiert, kann nur als ein krass reduktionistisches beschrieben werden.
Die Monographie von Giovanni A. Fava ist weniger ein Ausstiegsratgeber aus der Antidepressivaabhängigkeit als vielmehr ein Behandlungsmanual zur Therapie von depressiven Störungen mit Psychoedukation, kognitiv-behavioraler Therapie und einer von ihm selbst entwickelnden Form von ressourcenmobilisierender Therapie (Well-Being-Therapie).
Die Psychotherapiemodule bewegen sich im Bereich der Kurzzeitpsychotherapie, sodass vielen (nicht nur der chronisch traumatisierten) Patienten mit diesen Kontingenten nicht ausreichend zu helfen ist. In der aktuellen LAC-Studie (2018) verbrauchten die psychodynamisch orientierten Therapeuten 234 Stunden, die teilnehmenden Verhaltenstherapeuten 57 Stunden für vergleichbare Verbesserungen auf den Symptomskalen, wobei die Analytiker ja über die Symptomänderungen hinaus nachhaltige Persönlichkeitsveränderungen anstreben.
Fazit
Ein Fortschritt gegenüber der durchschnittlich in Deutschland anzutreffenden Praxis ist der Vorrang der psychotherapeutischen Behandlung (Psychotherapie vor Pille). Die Well-Being-Therapie (nach Manual 8 Sitzungen) kann mit gutem Erfolg auch in Hausartpraxen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung angeboten werden, was deren Nachhaltigkeit deutlich erhöhen würde.
Literatur
Peter D. Kramer (1995): Glück auf Rezept.Der unheimliche Erfolg der Glückspille Fluctin, München: Kösel
Marianne Leuzinger-Bohleber u.a. (2019): Psychoanalytische und kognitiv-behaviorale Langzeitbehandlung chronisch depressiver Patienten bei randomisierter oder präferierter Zuweisung. Ergebnisse der LAC-Studie. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 73 Jg. S. 77–105
Marianne Leuzinger Bohleber, Alexa Grabhorn, Ulrich Barke (2020): Was nur erzählt und nicht gemessen werden kann. Einblicke in psychoanalytische Langzeitbehandlungen chronischer Depressionen, Gießen: Psychosozial
Stavros Menzos (1995): Depression und Manie. Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen. Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht
Hubertus Tellenbach (1961, 4. erw. Auflage 1983): Melancholie. Zur Problemgeschichte, Typologie, Pathogenese und Klinik. Mit einem Geleitwort von V. E. von Gebsattel. Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer
[1] Lehmann, Peter (Hg. 2008): Psychopharmaka absetzen: Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern, Berlin: Peter Lehrmann Antipsychiatrieverlag
[2]Schlimme, Jan E., Telke Scholz, Renate Seroka (2019): Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen, Bonn: Psychiatrieverlag [3]Greve, Nils; Margret Osterfeld, Barbara Diekmann (2019): Umgang mit Psychopharmaka, Bonn: Psychiatrieverlag
[4]Gründer, Gerhard (2021): Psychopharmaka absetzen? Warum, wann und wie? München: Urban & Fischer
[5]Position von Professor Dr. Ulrich Hegerl dokumentiert in der ARD Sendung: Tabletten gegen Depressionen | WDR-Doku.
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 04.07.2023 zu:
Giovanni A. Fava: Antidepressiva absetzen. Anleitung zum personalisierten Begleiten von Absetzproblemen. Schattauer
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-608-40149-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30744.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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