Wilhelm Rimpau, Hans-Jürgen Wirth (Hrsg.): Der Schmerz in phänomenologischer Klassifikation
Rezensiert von Prof. Dr. med. Hartmut Göbel, 20.12.2024
Wilhelm Rimpau, Hans-Jürgen Wirth (Hrsg.): Der Schmerz in phänomenologischer Klassifikation.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
158 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3251-5.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Forum Psychosozial.
Entstehungshintergrund
Horst-Eberhard Richter war an der Humboldt-Universität Berlin nur in der Medizin eingeschrieben. Richter hatte jedoch den Wunsch, im Fach Philosophie zu promovieren. Er musste daher einen Antrag auf Zulassung zur Promotion stellen. Als Begründung gab er an, dass die philosophische Arbeit eine zentrale Lebensfrage für ihn sei. Er sah die philosophische Promotion nicht als einen lediglich formalen Abschluss an, der für seine Zukunft als Mediziner nur äußere Bedeutung habe, sondern als Basis für die weitere Entfaltung seiner philosophischen Tätigkeit. Ihm schwebte eine Verbindung von Medizin und Philosophie vor. Diese Verbindung verwirklichte er später in seinem Leben in mannigfaltigen Schriften, insbesondere zur psychosomatischen Medizin und zur Sozialphilosophie. Seine philosophische Auseinandersetzung mit seiner Dissertation zur Phänomenologie des Schmerzes war auf seiner persönlichen Erfahrung von körperlichem und seelischem Leid begründet. Aus der Gefangenschaft heimkommend erfuhr er von der Ermordung seiner Eltern und erkrankte in der Folge an einer Lungenentzündung. Einsam, ohne Menschen in seiner Nähe, empfand er das Leiden als rettende Repression. Sie habe dazu geführt, dass Menschen ihn auffingen und pflegten, bis er wieder Kraft hatte. Im Anschluss daran schrieb er drei Jahre an seiner philosophischen Doktorarbeit über den Schmerz, in der er sich mit sich selbst über sein Elend und seine Schuld auseinandersetzte. Er suchte darin eine Möglichkeit, sich mit seiner persönlichen Depression, aber zugleich mit der Ideologie des Nazi-Heroismus und deren Version des Opfer-Mythos, auseinanderzusetzen.
Verfasst hat Richter seine philosophische Dissertation im Jahre 1946 im Alter von 23 Jahren und beendete sie 25-jährig im Jahre 1948. Nach Meinung der Herausgeber Hans-Jürgen Wirth und Wilhelm Rimpau im Vorwort zur Dissertation sei diese Arbeit ein zentraler Schlüssel zu seinem Gesamtwerk, das sowohl sein publizistisches Wirken als Autor zahlreicher Bücher und Artikel, als auch sein Engagement als Initiator sozialtherapeutischer Projekte und friedenspolitischer Initiativen umfasst. Im Nachwort von Wilhelm Rimpau wird die detektivische Suche nach einem Exemplar der philosophischen Dissertationsschrift von Richter beschrieben. Ein Hinweis auf ihre Existenz ergab sich aus dem Lebenslauf, die Richter seiner medizinischen Dissertation beifügte. Dort findet sich die Bemerkung, dass er am 16.08.1948 zum Dr. phil. promoviert wurde und am 31.05.1949 sein medizinisches Staatsexamen ablegte. Es fanden sich die Gutachten zur Dissertation, die mit magna cum laude bewertet wurde. In den Universitätsarchiven war jedoch die Schrift nicht auffindbar. In Druckform erschien sie nicht, da der Verlag, der die Veröffentlichung schon bis zu den Druckfahnen vorbereitet hatte, plötzlich insolvent wurde. Einem weiteren Verlag hat Richter das Manuskript dann nicht mehr angeboten. Durch Zufall fand sich ein Exemplar der Dissertationsschrift im Büro der deutschen Sektion der internationalen Ärzt:innen für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzt:innen in sozialer Verantwortung e.V. Die Herausgeber Hans-Jürgen Wirth und Wilhelm Rimpau ermöglichen mit dem jetzt erstmals in gedruckter Form erschienenen Werk die Gedanken von Richter in die aktuelle wissenschaftliche und politische Diskussion einfließen zu lassen, die von der Gefährdung der Existenz der Menschheit durch die Klimakatastrophe und Kriege charakterisiert ist.
Autor
Richter wurde 1923 als Sohn eines Ingenieurs in Berlin geboren. Er studierte dort Medizin, Philosophie und Psychologie. 1962 wurde er an der Universität Gießen nach einer Zusatzausbildung zum Psychoanalytiker auf den dort neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychosomatik berufen. Er baute dort ein fächerübergreifendes Zentrum für psychosomatische Medizin auf und leitete dieses 30 Jahre. Richter wurde 1992 emeritiert und wechselte danach als Direktor an das Siegmund-Freud-Institut nach Frankfurt. Dieses leitete er bis 2002. Richter war Stimme der Friedensbewegung in den 1980er Jahren. Er setzte sich gegen den Irak-Krieg ein, engagierte sich für den Frieden und für die Umwelt. Er wetterte gegen Globalisierung, Finanzkrisen und Umweltverschmutzung. Der Autor war u.a. Mitbegründer der deutschen Sektion der Ärzt:innen gegen den Atomkrieg, welcher 1985 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Richter galt als wichtige Persönlichkeit der psychoanalytischen Familienforschung. Bedeutende Werke schließen „Eltern, Kind und Neurose“ (1963) und „Der Gotteskomplex“ (1979) ein. Im letzteren Werk greift Richter das Thema Schmerz und Leid wieder auf. Er analysiert darin, wie der moderne Mensch durch Wissenschaft und Technik versucht, Krankheit, Alter, Schmerz, Leid und Tod zu überwinden und dabei ein grandioses Selbstbild aufrechterhält. Er argumentiert, dass die Verleugnung von Leid und Ohnmacht zu einer „Krankheit, nicht leiden zu können“ führt, bei der negative Gefühle auf Sündenböcke projiziert werden. Diese Mechanismen sieht er als zentrale Herausforderungen der modernen Gesellschaft, deren Überwindung zur Überlebensfrage der Menschheit wird. Die Verbindung zwischen gesellschaftlichem Engagement und Wissenschaft führte Richter auf seine Erfahrungen in der Nazi-Zeit zurück, in der Wissenschaft instrumentalisiert wurde. Wissenschaft, Denken und Forschung auf der einen Seite seien unmittelbar mit gesellschaftlichem Engagement auf der anderen Seite verbunden.
Aufbau
Das Buch wird eingeleitet von einem Vorwort der Herausgeber Hans-Jürgen Wirth und Wilhelm Rimpau. Die drei Hauptkapitel tragen die Überschrift „Die Physiologie des Schmerzes“, „Die Geschichte der psychologischen Klassifikation des Schmerzes“ und „Die Erlebnisverbindungen des Schmerzes in phänomenologischer Betrachtung“: Es folgen das Literaturverzeichnis, ein Anhang und ein Nachwort von Wilhelm Rimpau. In einer abschließenden Würdigung von Hans-Jürgen Wirth wird das Leben und das Wirken von Horst-Eberhard Richter als Psychoanalytiker, Familientherapeut, Sozialphilosoph und politisch engagierter Bürger aus verschiedensten Perspektiven betrachtet und bewertet.
Inhalt
Einleitend legt Richter dar, dass der Terminus Schmerz in der indogermanischen Entwicklung ex ante auf den Ausdruck sowohl der körperlichen Empfindung als auch einer seelisch-geistigen Funktion angelegt war. Im allgemeinen Bewusstsein würde jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass zwischen leibhaftigem Weh und rein seelischem Leid ein ursprünglicher phänomenaler Unterschied bestehe. Andererseits könne emotionale Traurigkeit mitunter sogar heftige körperliche Schmerzen hervorrufen, sodass Erlebniszustände vorkommen, in denen Traurigkeitsgefühl und physischer Schmerz untrennbar verschmolzen seien. Organempfindungen seien von Gefühlen und Affekten zu unterscheiden. Die Ausgangshypothese von Richter ist, dass das Phänomen des leiblichen Schmerzes von vornherein gesondert zu behandeln sei. Aufgabenstellung sei, in Abgrenzung dazu den phänomenologischen Unterschied zu jenem Erlebnis des „schmerzlichen Herzeleids“ deutlich zu machen.
Im Kapitel zur Physiologie des Schmerzes beschreibt der Autor den damaligen aktuellen Stand der physiologischen Erkenntnisse zum Schmerz. Zweck sei, eine Orientierung über die körperlichen Grundlagen der Schmerzempfindung zu vermitteln. Er untersucht, ob es möglich sei, aus dem somatischen Grundbestand des Schmerzes das Erlebnisphänomen selbst zu erfassen. Diese Analyse stellt heraus, dass die Einsichten in die körperlichen Grundlagen der Schmerzempfindung beschränkt seien. Psychologie und Philosophie könnten daher ihre Auffassungen von Wesen, Form und Sinn des Schmerzes kaum auf die damaligen Erkenntnisse der Schmerzphysiologie stützen.
Richter beklagt das mangelnde Wissen seiner Zeit über die Physiologie des Schmerzes. Er stellt drei zentrale Fragen: (1) Welches ist die genaue anatomische Unterlage der Schmerzempfindung? (2) Welche somatischen Bedingungen müssen gegeben sein, damit es zur Auslösung von Schmerzen kommt? (3) Wie ist der Schmerzvorgang in sich physiologisch beschaffen?
Die erste Frage beantwortet Richter mit der Feststellung, die Viktor von Weizsäcker in seinem Vortrag „Zur Klinik des Schmerzes“ getroffen hat: „Es steht als nicht gut um die Sicherung unserer neuroanatomischen Grundvorstellungen in der Schmerzlehre“. Gezielt greift Richter das descartesche Paradigma an, wonach gesundheitsschädigende Reize in der Peripherie für die Empfindung von Schmerzen Voraussetzung seien. Nach diesem Ansatz seien Geist und Körper zwei grundlegend unterschiedliche Gegenstände, die unabhängig voneinander existieren könnten. Dieses Denken habe zu einem mechanistischen Verständnis der physischen Welt geführt, während der Geist als immaterielle Instanz betrachtet wurde. Richter kritisiert diese Vorstellung, begründet auf klinischen Erfahrungen, wonach schwere Schädigungen der Lunge, der Haut oder des Gehirns schmerzfrei verlaufen, während dem im Zusammenhang mit einer Trigeminusneuralgie ohne greifbaren anatomischen Schaden schwerste Schmerzen bedingt werden könnten. Ein somatischer Schmerzreiz sei also für eine Schmerzempfindung nicht Prämisse. Richter weist auf eine in der Medizin vorgenommene klassifikatorische Unterscheidung zwischen echten „legitimen“ Schmerzen, die als tatsächliche Leidwahrnehmungen aufgefasst werden und „illegitime“ Schmerzen ohne einen fassbaren peripheren Schmerzreiz hin. Er stellt die Frage, ob der Schmerz im ersteren Fall ein anderer sei, als im zweiten und letzterer ein bloßes Fantasieprodukt, das aus dem Feld der physiologischen Betrachtung überhaupt auszuschließen sei, wie es vielfach getan werde. Er beantwortet diese Frage selbst, indem er darstellt, dass die sogenannte „Schmerzhalluzination“ eine legitime, echte Schmerzempfindung sei wie jede andere auch. Es sei nicht adäquat, diesem Schmerz eine geringfügigere physiologische Grundlage zuzumessen.
In Beantwortung der dritten Frage weist Richter darauf hin, dass man sich nicht darüber im Klaren sei, ob der Ablauf des Schmerzprozesses ausschließlich afferent von der Peripherie rezeptiv zentripetal organisiert sei, oder ob auch eine efferente, zentrifugale Modulation des Schmerzes hinzugedacht werden müsse. Während im ersteren Fall das Schmerzgeschehen rein passiv sei, werde durch klinische Beobachtung in der Medizin deutlich, dass der Schmerz ein aktives Geschehen sei, welches von zentral nach peripher prägend moduliert werde. Als Beispiel führt er die Wirkung einer lokalen Betäubung mit der Folge einer schlagartigen Besserung oder gar Heilung von örtlichen körperlichen Erkrankungen an. Demnach sei Schmerz nicht Folge eines schädigenden Reizes, sondern umgekehrt – der Schmerz könne auch körperliche Schäden bedingen und unterhalten. Schmerz sei damit nicht ein zentripetal geleitetes Nebensymptom, welches für den Ablauf der Erkrankung belanglos wäre. Vielmehr sei Schmerz ein Faktor, der aktiv in die körperlichen Vorgänge hineinwirkt. So stellt Richter fest, dass die auf dem descarteschen Schmerzmodell basierende Vorstellung von der klinischen Beobachtung erschüttert werde. Der für selbstverständlich angesehene „objektive Sinn“ des Schmerzes, nämlich auf eine Schädigung im Gebiet der Empfindungslokalisation hinzuweisen, erfahre keine allgemeine Bestätigung. Die somatische physiologische Forschung könne daher das Erlebnisphänomen Schmerz nicht erklären.
Im zweiten Kapitel zur Geschichte der psychologischen Klassifikation des Schmerzes wird kenntnisreich die historische Wandlung der Auffassungen über den Schmerz analysiert. Die Erörterung konzentriert sich dabei auf einen historisch kritischen Überblick über die verschiedenen Entwicklungen zur psychologischen Klassifikation. In der vorkartesischen Psychologie werde der Mensch als eine Einheit von Körper, Geist und Seele betrachtet. Der Schmerz werde als Zustand des Begehrens aufgefasst. Thomas von Aquin greife zurück auf die platonische Annahme der Seele als unsterbliche, immaterielle Substanz, die unabhängig vom Körper existiere und einen begehrlichen Seelenteil habe. Aus Liebe und Hass entspringe ein Antrieb auf die Objekte hin oder von ihnen weg. Daraus würden Lust, Gaudium, Schmerz oder Tristitia resultieren.
In der Psychologie der Aufklärung wandele sich der Schmerz zur kognitiven Funktion. Er werde aus dem Affekt, der Tristitia, klassifikatorisch herausgelöst und in eine Reihe mit anderen Leibempfindungen, welche man in den Gliedern zu fühlen vermeine, gestellt. Schmerz und Traurigkeit seien vom sinnlichen Kitzel und der Freude zu unterscheiden. Dem Schmerz werde eine kognitive Funktion zugesprochen. Durch ihn bringe sich die Seele eine bestimmte unangenehme körperliche Veränderung, ein Übel, zur Kenntnis. Schmerz werde ausdrücklich mit den Sinnesempfindungen in eine Reihe gestellt. Der Unterschied bestehe darin, dass z.B. bei der Farbwahrnehmung ein äußerer Gegenstand, bei der Schmerzempfindung ein Körperteil erfasst werde.
Im 18. Jahrhundert habe sich die Vorstellung vom Schmerz als Gefühl weiterentwickelt. So stellte beispielsweise Moses Mendelssohn im Jahre 1776 die Theorie von den drei Grundvermögen der menschlichen Seele auf. Diese würden sich aus dem Erkenntnisvermögen, dem Begehrungsvermögen und dem Empfindungsvermögen bilden. Es könne eine Sache Lust oder Unlust bedingen, man könne sie billigen, gutheißen, angenehm empfinden oder missbilligen, tadeln und unangenehm erleben.
In der Herbartschen Gefühlstheorie werde der körperliche Schmerz als Sinneseindruck aufgefasst, der mit Vorstellungen untrennbar verbunden sei. Er werde empfunden ohne Rücksicht, wie viel man sich darum kümmere, wie geduldig man ihn ertrage. Der Schmerz sei auf das innigste mit den Sinnesempfindungen verwachsen. Während Kant die Gefühle als modifizierte Urteile, die Dinge zu unterscheiden auffasse, arbeite Herbart zwei wichtige psychologische Bestimmungen des Schmerzes heraus: Zum einen die Untrennbarkeit von den sinnlichen Empfindungen, die ihn begleiten. Zum anderen die Äußerlichkeit und Eigenständigkeit hinsichtlich des Gefühlszentrums.
Mit den Fortschritten der Physiologie sei der Zusammenhang zwischen sinnlichen Vorstellungen und deren körperlichen Grundlagen prägnant geworden. Dafür habe sich der Name „Empfindungen“ eingebürgert. Empfindungen werden auf mit bestimmten Nervenerregungen verbundenen Sinnesprozessen bezogen. Die übrigen Phänomene würden fortan als „Gefühle“ bezeichnet werden. Aus physiologischen Arbeiten sei deutlich geworden, dass der periphere Schmerz an die anatomischen Grundlagen der Nervenfasern gebunden sei. Da die Empfindungen jedoch per Definition durch Prozesse in den peripheren Nerven sensorisch vermittelt werden, ergebe sich die Frage, ob körperlicher Schmerz nicht eine Empfindung anstatt ein Gefühl sei. Entsprechend habe der Sinnesphysiologe Johannes Müller den Schmerz neben dem Tastsinn, Kälte und Wärme zu den Qualitäten des 5. Sinnes subsumiert.
Dem widerspreche Lotze. Dieser versuche, die mechanischen und physikalischen Prozesse im Körper zu erklären, ohne die geistigen und ethischen Dimensionen des Lebens aus den Augen zu verlieren. Der Schmerz gehöre in die Kategorie der Unlustgefühle und sei von den Empfindungen zu trennen. Die Empfindungen würden lediglich interesselose Wahrnehmungen liefern. Erst das Gefühl, die Lust-Unlustzustände, würden die Wahrnehmungsinhalte mit unserem Gemüt in Kontakt bringen. Es treffe nicht zu, dass die Gefühle ursprünglich subjektiv, die Empfindungen objektiv seien.
Die Grundfrage der klassifikatorischen Zugehörigkeit des Schmerzes beziehe sich auf die Grenzziehung zwischen Schmerz als Empfindung und Schmerz als Gefühl. Als Schwierigkeit stelle sich dabei heraus, dass alle Empfindungen immer schon von Gefühlen begleitet seien. Entsprechend gehöre für Wundt zum Aufbau des Gesamterlebnisses Schmerz, eine schmerzhafte Empfindung und ein schmerzhaftes Gefühl zusammen. Brentano wiederum gliedere den Schmerz in seine Grundklasse von „Liebe und Hass“ ein, seine emotionale Natur werde damit scharf von der kognitiven Empfindungsunterlage getrennt. Nach Geyser müssten alle Empfindungsinhalte als objektive Wahrheiten gedacht werden, die in sich selbst existieren. In Kontrast dazu seien Lust- und Unlustgefühle hingegen prinzipiell Erscheinungen von Weisen des seelischen Seins. Dies bedeute, dass sie für sich seiend nicht dargestellt werden könnten. Resultat sei: Gefühle seien subjektiv, Empfindungen objektiv.
Im Lichte der modernen Auffassung werde Schmerz als Gefühlsempfindung betrachtet. Stumpf vereine die bisherige Trennung zur neuen Klasse mit dem Terminus „Gefühlsempfindungen“. Er drücke damit aus, dass Empfindungen den Gefühlen zugrunde liegen und in naher Beziehung zu Gefühlen stehen würden. Man sei gezwungen, das rein sinnliche Schmerzphänomen trotz seines besonders zu untersuchenden nahen Verhältnisses zu Unlustgefühlen, als eine reine Empfindung zu betrachten. Es sei zweifellos, dass das Phänomen bereits als schmerzwirklich und vollendet ist, bevor und ohne dass das Gemüt, das fühlende Ich, sich irgendwie um ihn kümmert. Schmerz sei von den gewöhnlichen Sinnesempfindungen zu differenzieren. Er lasse sich mit den lokalisierten sinnlichen Wolllust- bzw. Annehmlichkeitszuständen zu einer besonderen Gruppe von Empfindungen zusammenstellen, die mit der Bezeichnung „Gefühlsempfindungen“ betitelt werden würden.
In seiner kritischen Zusammenfassung sieht Richter zwei offene Fragen. Zum einen nach der Art des spezifischen Wesens der Schmerzempfindung gegenüber den anderen Gefühlsempfindungen. Das qualitative „so Sein“ des Schmerzes, wodurch er uns eben wehtue, sei auf keine andere Weise mehr zugänglich wie das aktuelle Erlebnis selbst. Die zweite Frage sei die nach den Beziehungen, denen die Schmerzempfindung in Zusammenhang des Gesamterlebens unterworfen sei. Gerade die Erlebnisrelationen des Schmerzes würden die Totalität der Persönlichkeit mit allen ihren Schichten in das Ereignis einbeziehen.
Im dritten Kapitel zu den Erlebnisverbindungen des Schmerzes in phänomenologischer Betrachtung erarbeitet Richter eine Differenzierung des Wesens des Schmerzes. Er stellt dabei die Frage nach den funktionellen Beziehungen, in welche das Empfindungsphänomen Schmerz innerhalb des psychischen Ganzen einzutreten vermag. So separiert er die reine Empfindung des sensorischen Wahrnehmungsinhaltes von den sekundären Erlebnisbestandteilen, welche bereits die Verarbeitung und Bewertung des Bewusstseinsinhaltes betreffen. Ziel sei zunächst, die Komponente des Schmerzes herauszustellen und abzugrenzen, das, was den Schmerz zum Schmerz mache, ohne die emotionalen Konsequenzen des Sinneserlebnisses hineinzugeben. Auf dieser Grundlage wird dann im nächsten Schritt die Einwirkung dieser Sinnesempfindung in das Gesamterleben dargestellt. Richter macht diese Erlebnisbeziehungen des Schmerzes in das Gesamtbewusstsein zum zentralen Mittelpunkt seiner Dissertation. Es ist die Frage nach Wesen und Formen der funktionalen Bezüge des Schmerzes innerhalb des psychischen Ganzen. Daraus entwickelt er erstmals eine umfassende Phänomenologie des Schmerzerlebens. Er differenziert die Weisen des Schmerzerlebens in verschiedene Komponenten. Einerseits in die, die sich instinkthaft zwangsmäßig in der sogenannten „Vitalsphäre“ abwickeln und andererseits in solche, welche ihre Prägung durch einen aktiven Eingriff aus dem Personenkern heraus enthalten. Diese Hauptkomponenten des Schmerzes unterteilt er in weitere Erlebensformen. So differenziert Richter den Schmerz phänomenologisch in verschiedene Dimensionen, wohlwissend, dass das Erleben des Schmerzes eine vielfältige lebendige Mannigfaltigkeit bezüglich der Bewusstseinsinhalte und der Verhaltensweisen umfasst. Wissend um diese Limitierungen begrenzt er die phänomenologische Abgrenzung der Schmerzkomponenten auf Scheidelinien, die in der Natur der phänomenalen Bewusstseinsinhalte bereits vorgezeichnet scheinen. So präferiert er eine grobe, jedoch weiter verfeinerungsfähige Gliederung des Phänomens Schmerz, um für das wissenschaftliche Verständnis des Schmerzerlebens eine praktikable Grundlage zu schaffen. Relativ kurz skizziert der Autor die Einwirkungsmöglichkeiten von Emotionen und personenzentralen Eingriffen auf das Schmerzerleben. Er sieht darin die Bedingungen sogenannter psychogener Schmerzen. Sein Ziel dabei ist weniger, die physiologischen Grundlagen dieser Empfindungen zu beschreiben, als auf diese Beziehungen überhaupt hinzuweisen.
Aufbauend auf dem bisher Dargelegten entwickelt Richter ein Schichtenschema der lokalisierbaren Gefühlsempfindungen und der schmerzbedingten Vitalwirkungen. Richter kategorisiert diese. Die Vitaldämpfung ziele auf Gemütsverfassungen, die mit Worten ausgedrückt werden wie „mir ist übel, schlecht, elend“. Die erlebte Erwartung, das Schwächegefühl drücke das nur noch selten benutzte Wort „siechen“ aus, verwandt mit dem englischen Begriff „sickening“. Begleitet wird diese Vitaldämpfung von Blutdruckabfall und Verlangsamung des Herzschlages.
Die Vitalerregung dagegen führe zu vitaler Aufruhr, Anspannung aller Kräfte und lebhafter Entladung. Schweiß, Gesichtsrötung, Pulsbeschleunigung, Muskelanspannung seien sichtbare Zeichen des organischen Aufruhrs. Sie seien Zeichen der Schmerzarbeit. So scheine das Erlebnis des Schmerzes mehr ein qualvolles, vergebliches Tätigsein als ein bloßes Erleiden. Dieses vitale Schmerzerlebnis bedinge eine Veränderung des Verhaltens des Individuums zur Gesellschaft und Umwelt. Einerseits erfolge ein Schrei nach Hilfe. Der Bittimpuls würde Herr über Hass, Stolz, Egoismus und sämtliche antisozialen Tendenzen. Gerade entgegengesetzt wirken jedoch Isolationstendenzen. Schmerz mache den Menschen egoistisch. Er reiße den Menschen aus allen tragenden Bezügen zu seinen Mitmenschen heraus.
Des Weiteren werde die Schmerzempfindung durch Vitalgefühle rückwirkend beeinflusst. Der Schmerz bleibe bei seinem Hineingreifen in die Vitalgefühle nicht derselbe, sondern unterstelle sich einer Abhängigkeit von diesen. So führten Entspannung zur Schmerzreduktion, ängstliche Konzentration auf den Schmerz jedoch zur Schmerzsteigerung. Gesundwerden zu wollen, gehöre zur Heilung hinzu.
Schließlich könne Schmerz durch vitalemotionale „Einbildung“ erzeugt werden oder diese auch zur Schmerzunempfindlichkeit führen. Es handele sich dabei um suggestive leibhaftige Einbildungen von krankhaften, mit Schmerzen verbundenen Körperveränderungen, welche mit starker affektiver Anteilnahme erlebt würden. Richter bezeichnet dies mit dem Begriff der Hysterie. Es sei dies nicht ein bildloser Schmerz, sondern sein vorstellbares Substrat. Als Beispiel beschreibt Richter das „autogene Training“. Mit dessen Hilfe sei die Beeinflussung von Schmerz und anderen Körperempfindungen sowie von somatischen Funktionen möglich.
Die zentralbestimmten Lebensweisen des Schmerzes würden sich gliedern in solche, bei welchen das Personenzentrum den Schmerz als solchen in seinem Vitalsinn begegnet, ihn als einen äußeren Zustand von sich fortstoße, ihn kämpferisch abwehre. Er könne aber auch bei sich gehalten werden, der Personenkern könne den Schmerz ganz in sich aufnehmen, ihn durch einen Akt der Identifikation aus seinem naturhaften Bezug herauslösen und mit ihm eins werden.
Schmerz äußere sich auch in der äußeren Auseinandersetzung. Dazu gehöre das sich Abfinden mit dem Schmerz und das Tragen des Schmerzes. Das stoische Objektivieren des Schmerzes ziele darauf, sich von allen erschütternden Einwirkungen durch den Schmerz frei zu halten und diesen auf seine reine Empfindung zurückzuverweisen. Die These, dass der Schmerz kein Übel sei, bedeute die Aufforderung, dem Schmerz das Üble, nämlich die affektive Verabscheuung durch die eigene Tat selbst zu entziehen. Wenn der Schmerz ein Übel sei, so sei es die Schuld des Betreffenden, welche ihn dazu mache. Dem Menschen sei es durch seine geistig zentrale Selbstbeherrschungskraft gegeben, dem Schmerz jeglichen emotionalen Tribut zu verweigern.
Das Bekämpfen des Schmerzes biete unter allen möglichen personalen Verhaltensweisen die höchste Dramatik. Die innerliche Aneignung des Schmerzes führe in den Zustand des Leidens hinein. Einen Schmerz zu erleiden, meine, ihn zulassen, seine Realisierung zu gestalten.
Es könne kein Schmerz „selig machen“, vielmehr gelte umgekehrt: Seligkeit würde bereits primär dem Schmerzerlebnis zugrunde liegen. Wenn ein gelittener Schmerz eine Wirkung der Erläuterung und Vertiefung beizumessen sei, so handele es sich nur um den Effekt steigender Klärung des Kerns unserer Existenz für unser Bewusstsein. Die leidende Personalisation des Schmerzes erfordere intensive Versenkung in die Tiefe des personalen Wesens, einkehrend sich selbst und vollständige Aktualisierung der kernhaften Bestimmtheit. Das Bewusstsein müsse sich aus allen im Augenblick unwesentlichen peripheren Erlebnisgehalten zurücknehmen und insofern klärend und läuternd aktiv sein. Entsprechend beschreibe Nitsche den großen Schmerz als einen Befreier des Geistes.
Abschließend untersucht Richter personenzentrale Einwirkungen auf die Empfindung. Er unterscheidet dabei Funktionen, die das Bemerken des Schmerzes betreffen, und solche, welche den Empfindungsablauf selbst angreifen und bestimmen. Stoisches Verhalten könne z.B. die vitalemotionalen Effekte von Schmerzen zurückdrängen. Ebenso könne intellektuelle Ablenkung zur Verhinderung von Schmerzen führen. Therapeutische Konsequenzen habe dies für die Psychotherapie. Nach Richter können krankheitsbedingte Konflikte durch misslungene Verdrängung vitaler Triebe Schmerzen bedingen. So könne Schmerz entstehen, wenn ein Kopfarbeiter an seiner intellektuellen Aufgabe verzagen müsse. Ein generelles Wesensmerkmal all dieser Konflikte sei, dass eine jeweils gegebene Strebung irgendwelcher Art weder entschieden ausgelebt noch entschieden niedergezwungen zu werden vermag. Der psychische Grund für die Entwicklung von Schmerzen beruhe darauf, dass der Persönlichkeit die Bewältigung einer Entscheidungsaufgabe nicht gelinge, welche in der Nötigung liege, einen aktualisierten intensiven Wunsch in klarer Weise zu bejahen oder zu verneinen. Schmerz könne dann an dem Punkt entstehen, an welchem das Ich an dieser Entscheidungsaufgabe verzage. Sei es, dass das Begehren praktisch unerfüllbar oder dass es aus Gewissensgründen nicht erlaubt sei. Es könne kein entschlossenes personales Nein gesprochen werden. Eine befreiende Entmachtung des Wunsches mit der Verhinderung pathologischer Folge bleibe aus. Die halbe, unvollständig misslungene Verdrängung bewirke den Schmerz. Es resultiere ein Konflikt zwischen heimlichen Wünschen einerseits und dem Resignieren andererseits. Folge sei eine verhängnisvolle Unentschiedenheit. In diesem personenzentralen Versagen liege die Wurzel des psychoanalytisch heilbaren Schmerzes. Richter schließt seine Dissertation mit dem Ausblick, wie es zu einem Übergreifen des Konfliktes auf Schmerz und Krankheit komme, müsse fachwissenschaftlich weiter geklärt werden.
Diskussion
Mit der Veröffentlichung seiner philosophischen Dissertation 75 Jahre nach seiner Entstehung gibt Richter einen unschätzbaren Einblick in das Verständnis des Schmerzes in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Dieses entwickelt er präzise aus der historischen, philosophischen, physiologischen und klinischen Betrachtung. Kenntnisreich beschreibt er auf dieser Grundlage eine eigene phänomenologische Schichtentheorie des Schmerzes. Diese führt zu einer neuen phänomenologischen Klassifikation. Ohne es direkt auszusprechen, hat er erkannt, dass Schmerz „an sich“ nicht zu definieren ist. Vielmehr können nur die einzelnen Komponenten des Schmerzerlebens und des Schmerzerleidens abgegrenzt und in ihrem Wesen analysiert und deren Beziehungen untereinander erfasst werden. Während die Medizin zu seiner Zeit und auch noch heute sich in der Regel weitgehend am descarteschen Schmerzmodell orientiert, nur der durch somatische Ursachen fassbare Schmerz als unimodaler medizinischer Feind als „legal“ gilt, durchbricht Richter mit seiner Dissertation dieses begrenzte „ptolemäische Weltbild“ des Schmerzes. Er beschreibt die Mannigfaltigkeit der Erlebnisweisen detailliert und in einer hochpräzisen, virtuosen, in der heutigen Zeit kaum noch auffindbaren Sprache. Er nimmt physiologische Ideen und Forschungen in seinen Darlegungen voraus, die erst in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts physiologisch beschrieben und begründet wurden. Beispiele sind die efferente Schmerzkontrolle und die, wenn auch umstrittene, Gate-Control-Theorie des Schmerzes. Ermöglicht wird dieses Werk offensichtlich durch die breite Bildung von Richter in Medizin, Psychologie und Philosophie. Aus heutiger Sicht müssen seine Überlegungen zur psychoanalytischen Entstehung von Schmerzen und deren Therapierbarkeit kritisch gesehen werden. Das Werk ist zusammenfassend eine unschätzbare Fundgrube an Erkenntnissen über den Schmerz im Laufe der Menschheitsgeschichte. Es sollte jeder kennen, der sich mit dem Thema Schmerz in Wissenschaft und Praxis auseinandersetzt.
Fazit
Das Werk „Der Schmerz in phänomenologischer Klassifikation“ von Horst-Eberhard Richter beschreibt die Kenntnisse zur Physiologie des Schmerzes in der Mitte des 20. Jahrhunderts, desweiteren wird die historische Entwicklung der philosophischen und psychologischen Betrachtungsweise des Schmerzes von der Antike bis in die Neuzeit untersucht. Darauf aufbauend entwickelt der Autor eine phänomenologische Klassifikation des Schmerzes, in der Erleben, Empfindung, Vitalfunktionen und Person in einer psychologischen Schichtenhypothese differenziert werden. Ein Nachwort von Wilhelm Rimpau beschreibt die Entstehungsgeschichte des Werkes. Abschließend würdigt Hans-Jürgen Wirth Horst-Eberhard Richter als Psychoanalytiker, Familientherapeut, Sozialphilosoph und politisch engagierten Bürger.
Rezension von
Prof. Dr. med. Hartmut Göbel
Direktor der Schmerzklinik Kiel
Facharzt für Neurologie, Spezielle Schmerztherapie, Psychotherapie
Diplom-Psychologe
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Hartmut Göbel.
Zitiervorschlag
Hartmut Göbel. Rezension vom 20.12.2024 zu:
Wilhelm Rimpau, Hans-Jürgen Wirth (Hrsg.): Der Schmerz in phänomenologischer Klassifikation. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3251-5.
Reihe: Forum Psychosozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30749.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.