John Steiner, Antje (Übersetzer) Vaihinger: Illusion, Desillusionierung und Ironie in der Psychoanalyse
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 13.06.2023

John Steiner, Antje (Übersetzer) Vaihinger: Illusion, Desillusionierung und Ironie in der Psychoanalyse. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 249 Seiten. ISBN 978-3-608-98088-2. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.
Autor
John Steiner, geb. 1934, ist verheirateter Vater von drei erwachsenen Kindern. Nach Medizin-Studium in Neuseeland und Postdoktorandenstelle am California Institute of Technology in Neurobiologie, ist er bis heute Lehranalytiker der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft. Er war langjährig als Consultant Psychotherapist an der Tavistock Clinic in London und ist bis heute in freier Praxis tätig. Er ist hoch geschätzt als einer der interessantesten kleinianischen Theoretiker für das Verständnis pathologischer Persönlichkeitsstrukturen.
Thema
Der Verlag bezeichnet den Text als die konsequente Weiterführung von John Steiners bahnbrechendem Konzept des seelischen Rückzugs: Damit können Therapeut:innen stagnierende Behandlungen verstehen und wieder voranbringen, insbesondere in der Arbeit mit schwer traumatisierten Patient:innen, die sich extrem aus dem Kontakt zurückziehen.
Entstehungshintergrund
Der inzwischen 88jährige John Steiner vollendet den Zyklus, den er 1993 mit „Orte seelischen Rückzugs“ begann, 2006 („Sehen und Gesehen werden“ zur Thematik von Erniedrigung und Scham) und 2014 fortführte (Seelische Rückzugsorte verlassen). Der klinische Direktor des Sigmund Freud Instituts Frankfurt Heinz Weiß hebt die Bedeutung des Zyklus hervor und erwähnt, dass dieser bis heute nur auf deutsch vollständig publiziert ist. Steiner ist einer der produktivsten Vertreter der postkleinianischen Psychoanalyse, welche vor allem durch Wilfred Bions Konzepte zu eine Neuinterpretation psychoanalytischen Denkens ermöglicht. Vor allem die Bedeutung der projektiven Identifizierung als archaische Form der Affektkommunikation zwischen Mutter und Kind sowie Analysandin und Analytiker haben der Psychoanalyse ganz neue Verständnismöglichkeiten eröffnet.
Da dieses außerordentlich Ideenreiche Buch für diesen Rahmen zu viele komplexe Argumentationsfiguren miteinander verknüpft, werde ich mich im folgenden auf Steiners Konzept der Weiblichkeit konzentrieren:
Aufbau/​Inhalt
Mit Illusionen versuchen wir Ängsten und Schmerzen unterschiedlichen Ursprungs auszuweichen: „…Wegen ihrer Abwehrfunktionen lassen sich Illusionen als eine besondere Form seelischer Rückzugsorte auffassen, an den wir uns zurückziehen und an dem wir uns an einer idealisierten alternativen Welt erfreuen können“ (S. 17).
- Die Illusion vom Paradies. Vom Finden und Verlieren des Paradieses (S. 35)
- Von Milton lernen. Die gefährliche Kluft zwischen dem Realen und dem Idealen (S. 62)
- Die Brutalität der Wahrheit und die Bedeutung der Freundlichkeit (S. 90)
- Gebrauch und Missbrauch der Omnipotenz bei der Reise des Heros (S. 99)
- Desillusionierung, Demütigung und die Perversion der Tatsachen des Lebens (S. 116)
- Wenn es unerträglich ist, weiblich zu sein (S. 132)
„Allerdings wird der Wert der Weiblichkeit selten anerkannt, und zwar wie ich vermute, weil sie zunächst idealisiert und dann entwertet wird, um den Neid abzuwehren, der in der Beziehung zu guten Objekten zu einem so großen Problem werden kann. Bei meiner Diskussion der weitgehend missverstandenen These Freuds über die Ablehnung der Weiblichkeit vertrete ich die Auffassung, dass es Neid ist, der unserer Unfähigkeit zugrunde liegt, sie zu tolerieren, und dass der Neid dazu führt, dass sowohl Männer als auch Frauen dazu neigen, Weiblichkeit zu entwerten und abzulehnen und stattdessen Männlichkeit zu idealisieren“ (S. 133).
Diese Argumentationsfigur ist typisch für den ‚Sound‘ des Steinerschen Texts. Als Sozialwissenschaftler muss ich eingestehen, dass man eine solche Beschreibung apologetisch nennen könnte, Steiner jedoch würde wohl argumentieren, dass sie das Ergebnis langer analytischer Arbeit sei. An der Frauenfeindlichkeit, die im feministischen Diskurs die Folge männlicher Herrschaft ist und seiner kulturellen Folgen, kann dagegen kaum gezweifelt werden; wie das jüngst fast invasorische Auftreten genderdysphorischer Mädchen veranschaulicht.
- Die mitfühlende Vorstellungskraft. Keats [1] und das Aufgreifen und Aufgeben projektiver Identifizierungen (S. 155)
- Wie sich ein Trauma auf die Fähigkeit auswirkt, mit Desillusionierungen zurechtzukommen (S. 177)
- Lernen von Don Quijote (S. 196)
- Phantasie und Realität in Einklang bringen. Der erlösende Charakter der Ironie (S. 213)
Die Texte, die hier als als 4. Band seines Hauptwerks in deutscher Übersetzung erscheinen, sind in den Jahren 2013–2018 in der englischen Originalfassung im Psychoanalytic Quarterly erschienen (5 Texte) und 2018 bis 2020 im International Journal of Psychoanalysis (3 Texte). Für die deutsche Übersetzung wurden sie überarbeitet und anders gegliedert.
Da Steiner nicht mehr mit Patienten arbeitet, wurden die Kasuistiken früheren Werken entnommen. Es muss davon ausgegangen werden, dass es John Steiners Wusch war, die in diesem Werk niedergelegten Gedanken als Finale seines literarischen Werks noch einmal als geschlossenen Text zu komponieren.
Steiners Arbeit lotet die Grenzen der postkleinianischen Psychoanalyse zur Lebensphilosophie aus und berührt dabei durchaus existenzielle Themen. Sie versucht die behutsame Revision Freudscher und Kleinscher Grundannahmen, wenn diese allzu sehr gegen zeitgenössische, vor allem identitätspolitische Konstrukte verstoßen. Einen wissenschaftlich befriedigenden Diskurs zur Falsifikation entsprechender Konzepte habe ich nicht finden können.
Diskussion
John Steiners Werk steht in einer psychoanalytischen Tradition, die Freud mit seinen gesellschaftskritischen Texten begründete und die in der Gegenwart neoliberaler Eingriffe ins therapeutische Feld ungewöhnlich und wie aus der Zeit gefallen anmutet. Die zentrale Bedeutung des Todestriebs, von Steiner rekonzeptualisiert im Sinn eines Anti-Lebenstrieb, ist die zentrale Quelle des Destruktions- und Aggressionstriebs, aus dem Neid als gewissermaßen zentraler Affekt im kleinianischen Diskurs resultiert. Somit ist der Idealisierung immer unmittelbar zerstörerischer Neid entgegengesetzt, der letztlich auch in die gewollte Zerstörung des weiblichen Körpers mündet. Alle diese Betrachtungen gründen sich letztlich auf Freuds Konzept des Penisneids. Erst Ilka Quindeaus Lesart der Thematik (Genitale Sexualität jenseits von Kastration und Mangel) führt aus Freuds Phallozentristischem Dilemma heraus; eine moderne intersubjektive Auffassung bricht an der Stelle die Nachteile kleinianischen Denkens auf; beide können aber in der Untersuchung der zahlreichen Bespiele gegenwärtiger Destruktivität keine befriedigenden Antworten liefern.
Fazit
John Steiners Texte sind nicht leicht zu lesen; sie setzen eine gewisse Erfahrung mit psychoanalytischen Texten kleinianischer Provenienz voraus. Sie vermitteln eine spannende Perspektive auf den individuellen seelischen Binnenraum, wenn auch mit teils ‚esoterisch‘ anmutenden Grundannahmen; Steiner spricht an einer Stelle des Buchs von der flachen Gewissheit evidenzbasierter Wahrheit.
Literaturverzeichnis
Elizabeth Bott Spillius (Hrsg., 1919) Melanie Klein Heute. Entwicklungen in Theorie und Praxis. 2 Bände Stuttgart: Klett-Cotta (enthält Aufsätze der wichtigsten Kleinschüler von 1952 bis 87)
Ilka Quindeau (2023): Genitale Sexualität jenseits von Kastration und Mangel in: Psyche, 77. Jahrgang, Heft 5
[1] John Keats (1795-1821) wichtiger Vertreter der zweiten Generation der englischen Romantik
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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