Claudia Daigler (Hrsg.): Junge Wohnungslose
Rezensiert von Prof. Dr. Tim Middendorf, 12.07.2023

Claudia Daigler (Hrsg.): Junge Wohnungslose. Eine Einführung für die Soziale Arbeit.
Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2023.
110 Seiten.
ISBN 978-3-17-042409-8.
19,00 EUR.
Reihe: Soziale Arbeit - kompakt & direkt.
Thema
Frau Prof. Dr. Claudia Daigler legt mit ihrem Buch „Junge Wohnungslose. Eine Einführung für die Soziale Arbeit“ ein Werk vor, das ein bisher nur randständig betrachtetes Thema behandelt: wohnungs- und obdachlose Menschen in der Altersspanne von 14 bis 27 Jahren. Besonders die Menschen im genannten Altersbereich stehen vor enormen altersbedingten Herausforderungen und Bewältigungsaufgaben, die sich aus der Gestaltung der Jugendzeit, dem Übergang in das Erwachsenenleben und der frühen Erwachsenenzeit ergeben. Und obwohl in Deutschland ein ausdifferenziertes sozialarbeiterisches Hilfesystem existiert, sind gerade für die angesprochene Zielgruppe „etliche Schnittstellenprobleme vorhanden […], die dazu führen, dass junge Menschen an diesen Hilfeübergängen verloren gehen“ (S. 6). Den verlorenen jungen Menschen ohne dauerhaftes Zuhause und dem entsprechenden sozialarbeiterischen Hilfesystem widmet sich Prof. Dr. Claudia Daigler.
Autor:in oder Herausgeber:in
Prof. Dr. Claudia Daigler besetzt an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Bildung und Pflege, die Professur Integrationshilfen und (berufliche) Übergänge im Lebensverlauf. Das Buch erscheint in der Reihe „Soziale Arbeit – kompakt & direkt“. Laut der Reihenherausgeber*innen Rudolf Bieker und Heike Niemeyer fokussiert die neue Reihe ergänzend zu klassischen Lehrbüchern eine vertiefende Bearbeitung spezieller Themen- und Fragestellungen aus der Sozialen Arbeit und ihren Bezugsdisziplinen. Als Zielgruppe werden neben Studierenden im Bachelor- und Masterstudium auch Berufseinsteiger*innen und Praktiker*innen genannt, die Anschluss an aktuelle wissenschaftliche Diskurse halten möchten.
Entstehungshintergrund
Claudia Daigler arbeitet insbesondere aus der Perspektive der Jugendhilfe an unterschiedlichen Schnittstellen und Herausforderungen, die sich daraus für eine integrierte Sozialplanung ergeben. Die Idee für das Grundlagenwerk, das sich insbesondere an Studierende und Berufseinsteiger:innen richtet, entstand aus einer Fachtagung 2021 und aus Debatten um Abbrüche in Hilfen zur Erziehung und dass stationäre Jugendhilfe von etlichen jungen Menschen als zu hochschwellig erlebt wird oder diese Hilfen für sie nicht zugänglich sind.
Das Buch erscheint in der Reihe „Soziale Arbeit – kompakt & direkt“. Laut der Reihenherausgeber*innen Rudolf Bieker und Heike Niemeyer fokussiert die neue Reihe ergänzend zu klassischen Lehrbüchern eine vertiefende Bearbeitung spezieller Themen- und Fragestellungen aus der Sozialen Arbeit und ihren Bezugsdisziplinen. Als Zielgruppe werden neben Studierenden im Bachelor- und Masterstudium auch Berufseinsteiger*innen und Praktiker*innen genannt, die Anschluss an aktuelle wissenschaftliche Diskurse halten möchten.
Aufbau und Inhalt
Das erste Kapitel „Jugendliche und junge Erwachsene in prekären Lebenslagen“ stellt auf 13 Seiten Herausforderungen und Risiken im Jugend- und jungen Erwachsenenalter vor. Frau Prof. Dr. Claudia Daigler geht sowohl auf zentrale Brüche im Bildungsverlauf der jungen Menschen als auch auf die Grundbegriffe rund um Wohn- und Obdachlosigkeit ein. Im abschließenden Unterkapitel (Kap. 1.4) zeigt sie anhand aktueller Entwicklungen das Ausmaß von Wohnungslosigkeit junger Menschen auf – und verweist dabei auf die Schwierigkeit der Erfassung und Erreichbarkeit der häufig kaum sichtbaren und verdeckt lebenden Menschen.
Das zweite Kapitel „Ursachen für und Wege in die Wohnungslosigkeit“ behandelt die Aspekte Wohnungsverlust und fehlender bezahlbarer Wohnraum (Kap. 2.1), familiäre Brucherfahrungen (Kap. 2.2) und das Ende bzw. den Abbruch von stationärer Jugendhilfe (Kap. 2.3). Prof. Dr. Claudia Daigler benennt zu Beginn: „Die Ursachen, warum Kinder und Jugendliche wohnungs- bzw. obdachlos werden, sind verschieden. Bei der Mehrheit kann nicht ein einzelner Faktor als Erklärung herangezogen werden“ (S. 24). Trotz der Komplexität der möglichen – oftmals interdependenten – Ursachen kategorisiert Prof. Dr. Claudia Daigler nachvollziehbar die drei Unterkapitel, ohne vereinfachend oder reduzierend zu wirken. Ganz im Gegenteil: Diskursiv und studienorientiert werden sowohl politische, gesellschaftliche, individuelle und sozialarbeiterische Themenfelder so miteinander verknüpft, dass selbst Lesende ohne umfangreiche Vorerfahrungen anknüpfen können.
Das dritte Kapitel „Alltag und Bewältigungsleistungen in der Wohnungslosigkeit“ thematisiert das Leben junger Menschen in der Wohn- und Obdachlosigkeit. Einführend anhand des Alltagsbegriffs von Hans Thiersch lässt Prof. Dr. Claudia Daigler zu verschiedenen Themenfeldern der Alltagsgestaltung junge Menschen aus verschiedenen Zusammenhängen zu Wort kommen. Durch diese Gestaltung wird nicht ausschließlich über die Betroffenen geschrieben, sondern sie erzählen eindrücklich ihre eigenen Geschichten zu Facetten der Alltagsgestaltung in der Wohnungslosigkeit, unter anderem zum Stress des Untertauchens (S. 38), zu Gefahren auf der Straße (S. 40) zu Freundschaften mit eigenen Tieren (S. 44–47) oder zu Schwangerschaften (S. 50). Die Beschreibungen der jungen Menschen bringen die Bewältigungsleistungen und die Alltagsgestaltung in der Wohn- und Obdachlosigkeit junger Menschen nahbar und nachvollziehbar hervor. Die parallele theoretische Rahmung dient der fachlichen Einordnung der Darstellungen, sodass eine praktische und fachliche Relationierung der Inhalte gewährleistet ist.
Das vierte Kapitel „Selbstvertretung und Peerberatung durch junge Wohnungslose“ ist sicherlich zunächst in dem Buch nicht erwartbar, da die Selbstvertretung junger Menschen in Wohn- und Obdachlosigkeit selbst in der Sozialen Arbeit ein nahezu ausgeblendetes Themenfeld darstellt. Es greift in diesem Werk jedoch die Haltung und das Vorgehen aus dem vorherigen Kapitel wieder auf. So kritisiert Prof. Dr. Claudia Daigler: „Auch in der Praxis der Sozialen Arbeit wird nach wie vor vor allem über und für (benachteiligte) Menschen gesprochen und dabei angenommen, ein Sprachrohr für diese zu sein, d.h. stellvertretend für deren Interessen und Bedarfe zu sprechen“ (S. 52). So wirkt es konsequent, im vierten Kapitel die Selbstvertretungen und Peerberatungsangebote vorzustellen, die sich mit der Thematik von jungen Menschen in Wohn- und Obdachlosigkeit beschäftigen. Das Wissen kann die Lesenden dabei unterstützen, die Angebote mit Betroffenen zu thematisieren und sie gegebenenfalls auch selbst zu kontaktieren.
Das fünfte Kapitel „Soziale Arbeit im Kontext von Wohnungslosigkeit“ ist mit 27 Seiten das umfangreichste Kapitel des Werks. Prof. Dr. Claudia Daigler unterteilt das Hauptkapitel nach einer grundlegenden Kontextualisierung sozialarbeiterischer Hilfen im Bereich der Wohnungslosigkeit (Kap. 5.1) in verschiedene sozialarbeiterische Hilfeformen. Sie geht dabei über die „klassischen“ Hilfeformen in Bezug auf das Wohnen hinaus und thematisiert ebenfalls Hilfsangebote, die die altersspezifischen Bewältigungsaufgaben (z.B. Bildungsangebote in Kap. 5.3) in den Blick nehmen. Die einzelnen Hilfsangebote werden exemplarisch anhand verschiedener konkreter Beispiele dargestellt, die nahezu alle einen innovativen Charakter besitzen – beispielsweise die Freiburger StraßenSchule (S. 69 f.) Auf diese Weise wird die Soziale Arbeit in ihren Möglichkeiten und auch Grenzen dargestellt und sichtbar – sowie wiederholt praktisch und theoretisch gerahmt.
Das sechste Kapitel „Kommunale Wohnungspolitik und (integrierte) Sozialplanung“ nimmt das Schnittstellenmanagement in den Fokus. Frau Prof. Dr. Claudia Daigler beleuchtet einerseits die kommunale Sozialpolitik in ihrem Auftrag der Schaffung bezahlbaren Wohnraums (Kap. 6.1) und andererseits die Stärkung der Jungendsozialarbeit inklusive kombinierter Hilfen (Kap. 6.2) und einer Primärzuständigkeit der Jugendhilfe (Kap. 6.3). Durch die Ausführungen werden Begründungszusammenhänge geschaffen, warum junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren so anfällig für System- und Hilfebrüche erscheinen und auf welche Art diesen begegnet werden kann, um das „Nichtzuständig-Erklären und Weiterverweisen an andere“ (S. 94) zu reduzieren.
Das abschließende siebte Kapitel „Berufseinstieg: Motivation und was muss ich können?“ adressiert Studierende und Berufseinsteigende, die sich die Soziale Arbeit mit jungen Menschen in prekären Lebenslagen vorstellen können. Konsequent im Stil des Werks sind Interviewausschnitte von Berufseinsteiger*innen zu lesen, die von ihren individuellen Erfahrungen berichten. Diese werden zum Abschluss kompetenzorientiert abstrahiert und zusammengefasst (S. 101).
Kapitelübergreifend möchte ich eine Besonderheit ansprechen, die sehr strukturgebend und lernfördernd wirkt: Jedes Kapitel startet mit einem Überblick und endet mit der Rubrik „Auf den Punkt gebracht“, Reflexionsfragen und weiterführenden Literaturhinweisen. Dieser Aufbau regt sowohl zum Querlesen als auch zur (Selbst-)Reflexion und zum weiterführenden Studium ein.
Diskussion
Das Buch geht neue Wege, die es aus meiner Sicht in der sozialarbeiterischen Praxis mit jungen Menschen in Wohn- und Obdachlosigkeit sowie in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedarf. Prof. Dr. Claudia Daigler schafft ein Werk, das einerseits thematisch und fachlich sehr präzise komplexe Zusammenhänge erfasst und anschaulich darstellt, und das andererseits auch eine Haltung der Autorin transportiert, die von Wertschätzung und Zugewandtheit geprägt ist. Daher ist es hervorragend für Studierende, Berufseinsteiger*innen und Praktiker*innen geeignet, um sich dem Themenkomplex von jungen Menschen in Wohn- und Obdachlosigkeit zu nähern.
Fazit
„Junge Wohnungslose. Eine Einführung für die Soziale Arbeit“ greift informativ und innovativ ein vielfach unterrepräsentiertes Thema auf. Es werden nahbar und verständnisvoll die Bereiche thematisiert, die junge Wohnungslose betreffen: von Ursachen der Wohnungs- und Obdachlosigkeit über Hilfsangebote bis hin zu Selbstvertretungen. Es handelt sich um ein hervorragendes und umfassend zu empfehlendes Werk für Studierende, Berufseinsteiger*innen und Praktiker*innen, aber auch für alle anderen Interessierten, die sich mit jungen Menschen in Wohn- und Obdachlosigkeit beschäftigen möchten.
Rezension von
Prof. Dr. Tim Middendorf
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Es gibt 4 Rezensionen von Tim Middendorf.
Zitiervorschlag
Tim Middendorf. Rezension vom 12.07.2023 zu:
Claudia Daigler (Hrsg.): Junge Wohnungslose. Eine Einführung für die Soziale Arbeit. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-17-042409-8.
Reihe: Soziale Arbeit - kompakt & direkt.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30773.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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