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Axel Schmidt, Karl Westhoff: Kindeswohl interdisziplinär

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 24.05.2023

Cover Axel Schmidt, Karl Westhoff: Kindeswohl interdisziplinär ISBN 978-3-8487-7061-8

Axel Schmidt, Karl Westhoff: Kindeswohl interdisziplinär. Empirische Ergebnisse für die juristische Praxis bei Trennung der Eltern. edition sigma im Nomos-Verlag (Baden-Baden) 2022. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. 364 Seiten. ISBN 978-3-8487-7061-8. 101,00 EUR.

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Thema

Dass ‚Kindeswohl‘ ein unbestimmter Rechtsbegriff ist und dadurch sehr vielen Deutungsmöglichkeiten unterliegt, dürfte hinlänglich bekannt sein. Um einen klareren Zugang zu der Konstruktion des Kindeswohls zu bekommen, werden in diesem Buch Normen, rechtswissenschaftlichen Auslegungen und konsensfähigen humanwissenschaftlichen empirischen Ergebnissen zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl zusammengeführt. So kann ein Maßstab entstehen, das Kindeswohl im Einzelfall zu beurteilen und die Entscheidungsfindung auf eine faktenbasierte Grundlage zu stellen. Die von den Autoren entwickelten Inhalte und Instrumente sind beim Erstellen und Kontrolle von Sachverständigengutachten bei Trennung der Eltern und auch bei der Erziehungsberatung nach Trennung der Eltern bereits praktisch erprobt. Dieser interdisziplinäre Ansatz einer humanwissenschaftlichen Kommentierung der rechtlichen Kindeswohlkriterien kann Familienrichter*innen, Sachverständigen und beruflich involvierten Personen als Arbeitshilfe dienen.

AutorIn oder HerausgeberIn

Dr. Axel Schmidt ist Diplom-Betriebswirt und Diplom-Psychologe. Er arbeitete hauptberuflich im Kommunikationssektor in einem großen Unternehmen bis 2020. Parallel begann er ab 2010 eine Tätigkeit als Gutachter in familiengerichtlichen Verfahren. Außerdem ist er aktuell Lehrbeauftragter an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zu Kommunikations- und Familiengerichtsthemen. Prof. em. Dr. Karl Westhoff war bis 2012 Universitätsprofessor für Diagnostik und Intervention an der TU Dresden. Seitdem ist der Psychologe freiberuflich tätig als Berater. Seine Forschungsschwerpunkte waren unter anderem diagnostische Prozesse, psychologische Begutachtung und Konzentration.

Aufbau und Inhalt

Die rechtlichen Grundlagen und die zu beachtenden Urteile der höchsten Gerichte zum Kindeswohl stellt der erste Teil des Buches dar; sie sind das Gerüst für den zweiten Teil, der die humanwissenschaftlichen übereinstimmenden empirischen Fakten präsentiert.

Zunächst gibt eine Einleitung eine erste Orientierung zur Thematik, bevor mit dem Kapitel „Der Kindeswohlbegriff im Gesetz und in der Rechtsprechung“ umfassend eingeführt wird. Dabei wird im ersten Unterkapitel direkt das Dilemma des Begriffs Kindeswohls beschrieben – nämlich die Tatsache, dass es sich trotz seiner großen Bedeutung um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Die gesetzlichen Normen liefern also keine allgemeingültige Definition, sondern ermöglichen maximal Annäherungen, die dann im jeweiligen Einzelfall mit Leben gefüllt werden müssen. Wie dies aussehen kann, wird im Folgenden anhand der Funktionen des Kindeswohls beschrieben. So wird zum Beispiel erläutert, inwiefern das Kindeswohl einerseits eine Eingriffslegitimation in ein grundgesetzlich verbrieftes Recht – nämlich das Erziehungsprimat der Eltern nach Artikel 6 Grundgesetz – darstellt, während es andererseits einen sozialrechtlichen Leistungstatbestand – nämlich den Anspruch auf Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII – definiert. Es ist ein Wunder, dass die inhaltliche Bestimmung des Kindeswohlbegriffs in der Praxis sowohl Jurist*innen als auch Sozialarbeiter*innen Schwierigkeiten machen können, was in einem weiteren Unterkapitel ausgeführt wird. So stellen die beiden Autoren anhand einer chronologischen Auflistung viele Versuche zur Begriffsbestimmung vor. Von 1973 bis 2022 finden sich nicht weniger als 18 teilweise völlig unterschiedliche Versuche. Aber wie sehen denn nun rechtliche Kindeswohlkriterien aus? Entscheidungsleitend ist dabei das „im Grundgesetz verankerte Erziehungsziel derselb[st]ständigen und eigenverantwortlichen, zu sozialem Zusammenleben fähigen Persönlichkeit“ (S. 36), wie das Bundesverfassungsgericht 2008 geurteilt hat. Diesem Kriterium sei alles unterzuordnen. Ferner rechtlich von Bedeutung sind „die Wichtigkeit von Kontinuität und Stabilität der Betreuungs- und Erziehungsverhältnisse (…), die inneren Bindungen des Kindes (…), der subjektive Wille des Kindes sowie der familiäre Gesamtzusammenhang des Kinderschutzes“ (ebd.). Eine erläuternde Grafik als Modell und Ablauf der rechtlichen Entscheidungsfindung im Sorge- und Umgangsrecht rundet dieses Unterkapitel ab.

Danach gehen die Autoren auf das Kindeswohlprinzip im Grundgesetz und im Familienrecht ein. Hierbei werden der Vorrang der Elternverantwortung – also das bereits angesprochene Erziehungsprimat –, die Begriffe Pflege und Sorge aus Artikel 6 Grundgesetz, das Kindeswohl an sich in der Verfassung sowie die bleibende Elternverantwortung auch nach einer Trennung und der Zusammenhang von Elternrechten- und Konflikten und Kindeswohl diskutiert. Weiter folgt die Darstellung des Kindeswohlprinzips im Familienrecht: Was sind eigentlich Inhalte der elterlichen Sorge (Personen- und Vermögenssorge)? Inwieweit spielen Erziehungsziel und -stil unter Mitwirkung des Kindes als Bestandteil der elterlichen Sorge eine Rolle (§ 1626 Abs. 2 BGB als Leitbild der Erziehung)? Im weiteren Verlauf wird dann das Kindeswohl im Fokus von Trennung und Scheidung sowie Umgangsrecht betrachtet, bevor es um das Kindeswohlprinzip bei Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB geht. Hierbei wird explizit dargestellt, dass die Trennung des Kindes von den Eltern der schwerwiegendste Eingriff des Staates ist, der unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit als einziges Mittel betrachtet werden muss, durch das die Sicherung des Kindeswohls letztlich gesichert werden kann.

Der dritte Unterabschnitt des Kapitels beschäftigt bis in die Tiefen der Materie untergliedert mit dem etablierten staatlichen Verantwortungssystem und umfasst 41 Gliederungspunkte. Um sich an dieser Stelle nicht in den teilweise sehr kurzen Abschnitten inhaltlich zu verlieren, sollen zwei Bereiche näher betrachtet werden. Dazu gehört der Text über das staatliche Wächteramt nach Artikel 6 Grundgesetz. Anhand diverser Entscheidungen des Bundesgerichtshofs wird beschrieben, dass vor allem die Differenzierung von Wahrscheinlichkeitsgraden bei eventuellen Schädigungen von Kindern für staatliche Eingriffe von Bedeutung ist. Sie ermöglichen auf der einen Seite ein schnelles staatliches Eingreifen bei erheblichen Gefahren, verhindern aber auch übermäßige Eingriffe. Zu lesen ist hier unter anderem die bekannte Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Februar 2019, der eine Kindeswohlgefährdung dann sieht, „wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist“ (S. 63).

Der zweite näher zu betrachtende Teil dieses Kapitels widmet sich dem Thema Kindeswille und Kindesalter. Auch hier stehen Gesetzesbegründungen und höchstrichterliche Entscheidungen für die Leser*innen zur Verfügung, um das Konstrukt zu erklären. So ist zu erfahren, dass Kinder ab einem Alter von drei Jahren persönlich anzuhören sind, „weil sie bereits in diesem Alter in der Lage sind, ihre Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle und Ängste verbal zu äußern“ (S. 91), wie das Bundesverfassungsgericht 2010 festgestellt hat. Aber: Vor dem zehnten Lebensjahr ist der Kindeswille aus entwicklungspsychologischer Sicht überwiegend nicht als „eigenständige Selbstbestimmung“ (S. 92) zu sehen, aber durchaus als „Bindungsindiz beachtlich sein“ (ebd.).

Das nächste Oberkapitel trägt den Titel „Der Kindeswohlbegriff in den Humanwissenschaften“. Auch dieser Teil ist stark untergliedert. Zunächst steht das bisherige Verhältnis der rechtlichen Kindeswohlkriterien zu den Erkenntnissen der Humanwissenschaften im Blickpunkt, bevor ein Modell des humanwissenschaftlichen Kindeswohlbegriffs eingeführt wird, das in einer Verhaltensgleichung verbildlicht wird, die sich aus Umgebungs-, Organismus-, Kognitiven, Emotionalen, Motivationalen und Sozialen Variablen sowie deren Wechselwirkungen zusammensetzt. Diese lassen sich unter nicht psychologische Gruppen (Umgebung und Organismus) sowie psychologische Gruppen subsumieren. Ohne an dieser Stelle zu viel vorwegzunehmen: Der humanwissenschaftliche Kindeswohlbegriff lässt sich durch diese Variablen erklären. Anschließend wird untersucht, welche humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zu den rechtlichen Entscheidungskriterien zur Kindeswohlprüfung bei elterlicher Trennung vorliegen. Näher betrachtet werden dabei unter anderem das Förderungsprinzip, das Kontinuitäts- bzw. Stabilitätsprinzip sowie die Bindungen des Kindes. Bezugnehmend auf das vorherige Oberkapitel wird dann der Kindeswille aus humanwissenschaftlicher Sicht näher betrachtet und mit der vorher erläuterten Rechtsprechung verglichen. Den Schluss des Kapitels bilden Abschnitte über die Grundbedürfnisse von Kindern sowie das Risiko- und Schutzfaktorenkonzept.

Abschließend folgt ein rund 100 Seiten starker Anhang, der sich überwiegend der Erziehungsberatung bei Trennung oder Scheidung sowohl aus rechtlicher als auch humanwissenschaftlicher Sicht widmet. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und eine Auflistung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, der Verfassungsgerichtshöfe der Länder, des Bundesgerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie thematisch bedeutsame Bundestagsdrucksachen beenden das Buch.

Diskussion

Ja, es handelt sich prinzipiell um ein juristisches Werk! Ja, es ist mit 101 EUR kostenintensiv – wobei das für juristische Fachveröffentlichungen im Rahmen ist. Aber das entscheidende Ja ist dieses hier: Ja, auch Sozialarbeiter*innen im Kinderschutz, Verfahrensbeistände oder Gutachter*innen sollten dieses Buch lesen! Wer sich im schwierigen Beratungskontext von Eltern-Trennungen bewegt, sollte nicht nur leidensfähig sein, sondern vor allem fundiertes Fachwissen in Recht, Psychologie und Sozialarbeit haben. Und – das muss leider gesagt werden – gerade beim Thema Rechtssicherheit ist bei Sozialarbeiter*innen häufig noch Luft nach oben. Dabei ist es doch gerade bei einem grundsätzlich unbestimmten Rechtsbegriff wie ‚Kindeswohl‘ gerade wichtig, breites Wissen zu haben. Und das sei an dieser Stelle versichert: Wer dieses Buch liest, wird sein familienrechtliches und das Kindeswohl betreffende Wissen deutlich erweitern. Dafür kann man als Leser*in auch in Kauf nehmen, dass die Schreibweise von Jurist*innen komplex und manchmal schwer zu lesen ist. Von Vorteil ist dabei, dass die Texte in der Regel sehr stark untergliedert sind und so die wichtigen Informationen zielgerichtet auf den Punkt präsentieren.

Neben dem hohen Preis gibt es aus Sicht des Rezensenten nur noch einen Grund, sich ein wenig zu beklagen: Leider wird kaum deutlich, welche Änderungen sich im Vergleich zur ersten Auflage ergeben haben. Aber das dürfte den/die Erstleser*in kaum stören.

Fazit

Wer sein fachliches Wissen über Kindeswohl im Kontext von Trennung und Scheidung sowie auch im Allgemeinen auf hohem Niveau erweitern will, dem wird dieses Buch trotz des hohen Preises bedenkenlos ans Herz gelegt.

Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Es gibt 141 Rezensionen von Wolfgang Schneider.

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ISSN 2190-9245