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Franz Josef Illhardt: Ruin des Zusammen-lebens

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 03.07.2023

Cover Franz Josef Illhardt: Ruin des Zusammen-lebens ISBN 978-3-495-99697-3

Franz Josef Illhardt: Ruin des Zusammen-lebens. Corona und die Erneuerung der Gesellschaft. Verlag Karl Alber (Baden-Baden) 2023. 264 Seiten. ISBN 978-3-495-99697-3. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR.
Reihe: zeitGeist.

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Thema und Zielgruppe

Das Buch versucht nach einer eigenen Positionsbestimmung zum Nachdenken über gelingendes, regelbasiertes Zusammenleben anzuregen und Erfahrungen aus Geschichte und Literatur mit den aktuellen Problemen der Coronakrise und deren Thematisierung in verschiedenen Zeitungen zu verknüpfen.

Autor

Franz Josef Illhardt, Jahrgang 1948, ist Doktor der Theologie und hat sich – als erster auf diesem Gebiet in Deutschland – in medizinischer Ethik habilitiert. Er war Professor für medizinische Ethik und Geschäftsführer der Ethik-Kommission an der Uniklinik Freiburg.

Aufbau 

Das Buch thematisiert nach einer Einleitung 17 verschiedene Aspekte und reflektiert am Ende noch einmal anhand des Songs „They dance alone“ (gesungen von Sting, komponiert von Roberto Livi, der sich hierbei allerdings auf Pinochet bezog) die Verwüstung des Zusammen-lebens in der Folge von Corona.

Inhalt

Zu Beginn positioniert sich der Autor klar als vehementer Kritiker der Querdenkerbewegung. Er fordert zugleich Multiperspektivität ein und betont, dass es ihm um das Freilegen von Perspektiven für das Zusammen-leben ginge.

Im ersten Aspekt „Ursprung einer Idee“ fragt er nach der Herkunft von Standpunkten und skizziert die 4 Schritte: Nachdenken, Meinen, Wissen und Regeln. Nachdenken hieße, die richtigen Fragen zu stellen. Er selber positioniert sich in diesem Abschnitt als Impf(pflicht)befürworter. 

Im 2. Aspekt „Zusammen-leben: Was meinen wir damit?“ kritisiert er eine Verbotspolitik und plädiert für eine Handlungsorientierung, die die Achtung des anderen fokussiere und Mitgefühl zeige. Diese Achtung sieht er in der Verpflichtung, die (Infektions-)Freiheit anderer zu schützen deutlich besser verwirklicht als in einer Maßnahmenkritik.

Im 3. Aspekt greift er mit „Zusammen-leben und Systemvertrauen“ den Verlust an Orientierung auf, nimmt Bezug auf Dürrenmatts Schauspiel „Die Physiker“ und Thomas Manns „Zauberberg“ und vergleicht die mangelnde Gültigkeit bisheriger Regeln und die entstandenen Brüche im Zusammen-leben mit anderen historischen Epochen.

Danach holt er weiter in die Seuchengeschichte beginnend mit der Lepra ab dem 13. Jh. aus und kommt beim folgenden Aspekt „Zusammenleben jenseits der Seuche?“ auf Boccaccio mit seiner Betonung der Erotik und Liebe in Krisenzeiten zu sprechen.

Weitere Werke aus Literatur und Philosophie, die Franz Josef Illhardt im 6. Aspekt heranzieht sind u.a. Camus „Die Pest“ und Saramagos „Stadt der Blinden“. Während Camus im Absurden die Werte Solidarität, Freundschaft und Nächstenliebe als handlungsleitend sehe, sei bei Samarago die Desorganisation auch über die Krise hinaus verstörend.

Im 8. Aspekt analysiert er die während der Pandemie gebräuchlichen Wörter, allerdings ohne auf diesbezügliche empirische Untersuchungen zu verweisen. Kurz kommt Franz Josef Illhardt hierbei auch auf Seuchen-Begriffe mit militärischem Hintergrund zu sprechen, ohne dabei die Herkunft der militarisierten Sprache zu vertiefen.

Im 9. Aspekt befasst er sich mit Kunst und Kultur, zitiert hier unter anderem Noteboom „Das Ambivalente an der Kunst war, daß sie den Abgrund sichtbar machte und gleichzeitig einen Schein von Ordnung darüberspannt“.

Im 10. Aspekt und 11. Aspekt schneidet er die zunehmende soziale Ungleichheit, die bürokratische Eigengesetzlichkeit und die „Endmoränen des Gigantismus“ an und formuliert im 12. Aspekt u.a. Möglichkeiten und Grenzen der Regelkritik nach Habermas:

  1. Reflexion des sittlichen Zusammenhangs
  2. Demokratische Meinungs- und Willensbildung
  3. Rationalität und
  4. Kompromissbildung

Nach einem Aspekt, der die Seuche als Verstärker der Angst betrachtet, kommt Franz Josef Illhardt schließlich auf Ethik, Moral und Recht zu sprechen und begründet die Bedeutung von Regeln für das Zusammenleben. Hierbei formuliert er auch (mit Rückgriff auf Sokrates) das Dilemma, wie man Entscheidungen treffen sollte, wenn die Regeln offensichtlich verkehrt sind: „Im Zweifelsfall für die Gemeinschaft.“ Wir sollten uns auch dann an Regeln halten, wenn wir nicht sicher seien, dass sie helfen. Zusammenleben erfordere Regeln. Regelvermittlung sollte narrativ sein und den Lebenskontext der Bürger erfassen.

Diskussion

Franz Josef Illhardt bezieht sich oft auf „Querdenker“, wenn er auf Maßnahmenkritiker*innen zu sprechen kommt, ohne genau einzugrenzen, welche Gruppierungen er darunter subsummiert. Gleich zu Beginn konstatiert er (S. 16): „Extrem in die falsche Richtung läuft die Spaltung der Gesellschaft durch die Bewegung der Querdenker v.a. mit ihrer Liaison mit Reichsbürgern und anderen extrem rechten Gruppen.“ Etwas später (S. 30): „Querdenken ist ein Art Behaupten, dogmatisches Denken, Verzicht auf Nachdenken.“ Wenn er auf Menschen zu sprechen kommt, die sich nicht gegen Covid 19 impfen lassen möchten, wechselt er begrifflich zwischen Impfgegnern und Impfverweigerern, letztere gerahmt als Kommunikationsverweigerer (S. 228). In der Kommunikation mit „Impfgegnern“ meint er zugleich (S. 45) dass „wir“ (wer ist damit gemeint?) eine Debatte über Wirkung und Nebenwirkung der Impfung genau nicht brauchten. Immer wieder beklagt er sich, dass „eine Streitkultur für Zusammen-leben ohne Spaltung“ fehle (S. 197), allerdings lässt er selber in seiner Rahmung und Argumentation nicht erkennen, wie er mit dem vorliegenden Buch zu einer konstruktiven Diskussionskultur mit Maßnahmenkritiker*innen beitragen kann. Seine eigene Standortbestimmung ist deutlich: „Schließlich bin ich geboostert und auch sonst recht clever“ (S. 30). Weiterhin vertritt er auch 2023 noch eine – nicht auf bestimmte Berufsgruppen begrenzte – Impfpflicht (S. 31) als Akt der Solidarität. Auf Argumente, dass seit mehr als einem Jahr deutlich wurde, dass die Impfung nicht vor Weitergabe des Virus schützt, geht er in diesem Zusammenhang nicht ein.

Einen weiten Raum nehmen Reflexionen über das Zusammen-leben und die dafür notwendigen Regeln ein. In Coronazeiten seien wir damit konfrontiert gewesen, unter Unsicherheiten Regeln zu erlassen, um leben und handeln zu können. Er reflektiert, dass es dabei nicht nur um fachliche Expertisen, sondern auch um Interessen gehe. Zu berücksichtigen sei, dass hinter einer Krankheit Beziehungen zu einer Welt stecken, die immer auch die Welt der anderen sei. Bei der Begründung der Regeln seien Rollentausch, Perspektivenwechsel und Diskursfähigkeit entscheidend. Meiner Meinung fehlt jedoch eine tiefere Reflexion, wie damit umzugehen ist, dass im Falle einer Pandemie die Welt der anderen global ist und dass demzufolge auch globale Organisationen, in diesem Fall die WHO, stark an der Regelsetzung beteiligt sind. Wie kann es in globalen Organisationen gelingen, die Regeln unter Berücksichtigung ganz unterschiedlicher Lebenswelten so zu gestalten, dass sie nationale und regionale Diskurse berücksichtigen? Und welche Gefahren liegen in der Einflussnahme durch wirtschaftliche Interessen (public private partnership) und militärische Agenden (health security)? Hier greift meiner Meinung nach die Analyse im vorliegenden Buch von Zusammen-leben, Regelerstellung und Regelvermittlung deutlich zu kurz. Zugleich liegen – gerade nach den Erfahrungen mit der deutschen Geschichte – auch erhebliche Gefahren in der Befolgung von falsch gesetzten Regeln, die meiner Auffassung nach noch deutlicher hätten reflektiert werden müssen.

In der (nicht neuen) Analyse des Gesundheitssystems und der Offenlegung von Schwachstellen bei der Anerkennung und Entlohnung des Personals und der Krankenhausfinanzierung fehlt meiner Meinung nach völlig eine Betrachtung des Versagens im ambulanten Sektor bei der Begleitung und Behandlung von Menschen mit Coronainfektionen und ihrer Angehörigen. Weiterhin wird auf Missstände in Gemeinschaftsunterkünften und Pflegeheimen und auf die mangelnde Systemrelevanz Sozialer Berufe nicht eingegangen. Hier folgt der Autor dem Krankenhausfokus der vorherrschenden Berichterstattung, ohne sich als Medizinethiker tiefer mit dem gesamten Gesundheitssystem auseinanderzusetzen.

Das Buch hätte in der Endredaktion noch sorgfältiger sein können, es enthält z.B. nicht gelöschte Änderungsmarkierungen, unbelegte Behauptungen (z.B. S. 44 zur Wirksamkeit des Lockdowns) und einen eklatanten sachlichen Fehler (S. 67), wo SARS auch als Schweinegrippe bezeichnet wird.

Fazit

Der Medizinethiker Franz Josef Illhardt schneidet in seiner Analyse der Probleme des Zusammen-lebens im Zuge der Coronapandemie zahlreiche Aspekte an und greift hierbei auf sein Verständnis sehr unterschiedlicher Schriftsteller zurück. Seine Betrachtungen vertiefen die einzelnen Aspekte weniger, möchten zum Nachdenken über Regeln des Zusammen-lebens inspirieren und stellen zugleich – bei einer Befürwortung einer Impfpflicht – bestimmte Formen der Maßnahmen- und Regelkritik (meist als Querdenkerbewegung bezeichnet) als völlig unangemessen dar. In der Auseinandersetzung mit Maßnahmenkritiker*innen wird der Autor leider seiner von ihm selbst für wichtig erachteten neuen Kommunikationskultur für ein gutes Zusammen-leben nicht gerecht.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 141 Rezensionen von Annemarie Jost.

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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 03.07.2023 zu: Franz Josef Illhardt: Ruin des Zusammen-lebens. Corona und die Erneuerung der Gesellschaft. Verlag Karl Alber (Baden-Baden) 2023. ISBN 978-3-495-99697-3. Reihe: zeitGeist. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30785.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.


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