Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Boris Wandruszka: Philosophie des Leidens

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.07.2024

Cover Boris Wandruszka: Philosophie des Leidens ISBN 978-3-495-99808-3

Boris Wandruszka: Philosophie des Leidens. Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens. Verlag Karl Alber (Baden-Baden) 2023. 492 Seiten. ISBN 978-3-495-99808-3. 114,00 EUR.
Reihe: Seele, Existenz, Leben - 40.I.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Leben und Leiden

Der anthrôpos ist ein vernunftbegabtes, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigtes, zwischen Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unterscheidungsfähiges menschliches Lebewesen. Er ist auf Gemeinschaft mit den Mitmenschen angewiesen. Er hat Lebenskraft und –willen, friedlich und solidarisch zu existieren (Aristoteles). Die Menschheitsgeschichte freilich zeigt uns, dass diese Grundlagen allzu oft nicht ausgeübt und ausgefüllt werden. Dabei kommt zum Tragen, dass der Mensch ein unvollständiges, unfertiges Lebewesen ist, wie dies immer wieder verdeutlicht wird (Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25043.php). Das menschliche Dasein ist bestimmt von Freuden und Leiden, von Aktivitäten und Zufälligkeiten, von Wollen und Sollen.

Entstehungshintergrund

Der Mediziner und Philosoph, Facharzt für Psychotherapie und Hochschuldozent Boris Wandruszka will mit einer „Philosophie des Leidens“ darauf aufmerksam machen, dass leidvolle, menschliche Erfahrungen zum Leben gehören. Mit dem ersten Band der wissenschaftlichen Reihe „Seele, Existenz, Leben“ legt er eine „Phänomenologie des Leidens“ vor. Er setzt sich auseinander mit Fragen „was Leiden überhaupt ist und meint“ und „was geschieht, wenn wir leiden“. Es sind theoretische und praktische Überlegungen, die sich zusammenfassen lassen in die Wissensbereiche: „Phänomenologie oder Wissenslehre des Leidens“ – „Metaphysik oder Wirklichkeitslehre des Leidens“ – Pragmatik oder Handlungslehre des Leidens“ – „Epistemologie oder Erkenntnislehre des Leidens“ – „Poietik oder Kunst- und Gestaltungslehre des Leidens“ – Ethik und Lebenslehre des Leidens“ – „Hagiologie oder Religionsphilosophie des Leidens“. Der in Stuttgart praktizierende Arzt sieht in der Herausgabe seines Lebenswerks einer „Seinsstruktur des pathischen Lebens“ eine intellektuelle Pionierarbeit und die Bereitstellung eines Bausteins für die (bisher vernachlässigte) Forschung auf diesem emotionalen und existentiellen Gebiet.

Aufbau und Inhalt

Der 491 Seiten umfassende erste Band „Phänomenologie des Leidens“ wird neben der Einleitung, in der die „Grenzen des Phänomenalen“, Fragestellung und Zielsetzung der Forschungsarbeit“, „Leiden als Urphänomen des Lebens“ und die anthropologische „Konfliktträchtigkeit“ thematisiert werden, die ontologischen Bezüge verdeutlicht, als erlebbare, schmerzhafte Empfindungen, als emotionale und sprachliche Ausdrücke (vgl. dazu z.B. auch: Martin Schnell, u.a., Hrsg., Digitalisierung der Lebenswelt. Studien zur Krisis nach Husserl, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25358.php), der psychologischen und psychoanalytischen Verläufe, der Wahrheits- und Falschheits-Behauptungen. Weil Leiden objektiv und subjektiv wahrgenommen und erlitten wird. Es ist der leibliche Schmerz, der durch Unfall, Krankheit oder Zufügung entsteht: „Der Schmerz vom Leib her (dringt) auf das Erleben des Betroffenen, auf sein Ich (ein)“.

Der seelische Schmerz wirkt auf das „Erleben des Betroffenen, seinem Selbstgefühl und muss von ihm subjektiv als echter eigener Akt vollzogen werden“. Es ist kein Entweder-Oder, sondern duale Empfindungen: „Sowohl der physische als auch der seelische Schmerz sind Phänomene der Unruhe, Spannung und Beeinträchtigung; sie bedrängen, setzen unter Druck, erzeugen, wenn sie das subjektive Maß der Erträglichkeit übersteigen, die Situation der Ausweglosigkeit und Not“. Betroffenheit wird zur Getroffenheit: „Leiden ist notwendig an ein Erleiden, Erleiden aber nicht notwendig an ein Leiden geknüpft“. Muss Leiden sein? Der „Leidensdruck“ erzeugt Ohnmacht; und die Ereignisse, wie Trauer, Angst, Wut, Verzweiflung, Scham, Schuld…: „Wenn wir begreifen, dass jedes Leiden von einem jeweils spezifischen Leidensdruck bestimmt ist, werden auch die grundlegenden Formen der Minderung des Leidensdruckes verständlich“. Mit Viktor von Weizsäcker und Jakob von Uexküll zeigt der Autor auf, „dass es keine sinnliche Wahrnehmung ohne physische Bewegung und keine Bewegung ohne sinnliche Wahrnehmung gibt“ („Gestaltkreis“). Es ist das existentielle Dasein, „das einfach da ist“ – „antwortet und reagiert“ – „etwas schafft und schöpft“, das den Autor zur Definition bringt: „Leiden ist der reaktiv-antwortende und damit reaktiv-synthetische Akt oder Selbstvollzug eines individuellen oder kollektiven Subjekts im Angesicht einer kollisiv-erlittenen, darum hemmenden, im Augenblick des Erleidens und Leidens nicht integrierbaren, ‚fremden‘, … ‚schmerzenden und störenden’, aber doch vom Subjekt (vergeblich) zu integrieren (oder loszuwerden) bestrebten Wirklichkeit“. Es sind die verstandesgemäßen, gefühlsbetonten, körperlichen und seelischen, traumatischen Leidenserfahrungen, die das zeitbedingte, individuelle und kollektive, subjektive und intersubjektive, bewusste und unbewusste Leiden bedingt: „Der Mensch erwacht als personales – wahrnehmendes, fühlendes, handelndes – Wesen im Leib“. Es sind die Widerstände, aber auch die Leidensfähigkeit, die den Autor zu der Überzeugung bringt: „Wer leidet, kann nicht vollständig determiniert, kann aber auch nicht vollständig frei sein“. Es ist seine „exilische Existenz“, mit der seine „irdischen Leiden (als) Geburtswehen im Vergeistigungsprozess der Natur durch den immer mehr im Endlichen erwachenden und sich durch das Endliche hindurchkämpfenden, potenzialunendlichen, zum Aktualunendlichen berufenen Menschengeist“ werden.

Diskussion

Der Sinn des Lebens ist, ein gutes, gelingendes, gesundes, störungsarmes und freies Leben zu führen. Das Leben zu leben, nicht zu erleiden, das ist der hoffnungsvolle, anthropologische Anspruch. Die Bedeutung des pathologischen Leidens lässt sich im Leib-Seele-Diskurs erkennen und therapieren; etwa, wenn Rebecca Böhme vom „Human Touch“ spricht (2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25261.php; wenn Bernd Traxl „Körpersprache, Körper-Bild und Körper-Ich“ hervorhebt (1016, www.socialnet.de/rezensionen/​22874.php); und Eugenio Gaddini davon spricht, dass „das Ich vor allem ein körperliches ist“ (2015, www.socialnet.de/rezensionen/​19463.php); oder wenn Hans-Peter Waldhoff mit der Frage „Eros und Thanatos“ eine psychoanalytische, erkenntniskritische, philosophische Untersuchung vorlegt (2017, www.socialnet.de/rezensionen/​23350.php).

Fazit

Wesen und Seinsstruktur des Leidens ist menschlich: „Alles Werden, alles Leben, ja vielleicht sogar alles kosmische Sein ist Leiden“. Diese Erkenntnis muss nicht fatalistisch sein; vielmehr kommt es darauf an zu erkennen und zu akzeptieren, dass es der „Vergänglichkeit und dem Selbstverlust ausgesetzt ist…, weil es in einem allgemeinen Kampf steht und immer verletzt werden kann…, weil es von einem unlöschbaren Durst, einer auf das Ganze gehenden Sehnsucht getrieben wird, die aus sich allein nie zur Ruhe kommt“.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular

Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245