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Vero Bock, Lucia Bruns et al. (Hrsg.): Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren

Rezensiert von Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert, 15.12.2023

Cover Vero Bock, Lucia Bruns et al. (Hrsg.): Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren ISBN 978-3-7799-7294-5

Vero Bock, Lucia Bruns, Christin Jänicke, Esther Lehnert, Christoph Kopke et al. (Hrsg.): Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 1. Auflage. 153 Seiten. ISBN 978-3-7799-7294-5. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.

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Thema

Mit der Publikation werden Ergebnisse des Forschungsprojekts „Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren“ (JUPORE) veröffentlicht. Das Projekt war von 2020 bis 2022 an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin und der Hochschule

für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin angesiedelt, wurde durch das Institut für angewandte Forschung Berlin (IFAF) gefördert und fand mit folgenden Kooperationspartner*innen statt:

Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Rassismus; Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam; Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung; Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung.

Im Zentrum der Forschung steht eine rekonstruktive Untersuchung des sozialarbeiterischen und polizeilichen Handelns im Umgang mit rechten Jugendlichen Anfang der 1990er Jahre in Berlin und Brandenburg, mit dem Fokus auf die regionale Situation in Berlin-Lichtenberg und Cottbus. Die Projektergebnisse wurden auf einer Abschlusstagung am 24. März 2022 an der Alice Salomon Hochschule Berlinvorgestellt. Ein Teil der Beiträge der Publikation geht auf die Tagung zurück, diese wurden durch zusätzliche Beitrage aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft erweitert.

Herausgeber*innen

Die Herausgeber*innen haben alle in dem Forschungsprojekt „Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren“ mitgearbeitet.

Vero Bock: Sozialarbeiter*in, B. A., war studentische Mitarbeiter*in in dem Projekt an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Forschungsschwerpunkte: Gender, extreme Rechte, geschlechtsspezifische Gewalt.

Lucia Bruns: Erziehungswissenschaftlerin, M. A., war wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Forschungsschwerpunkte: Jugendarbeit und Rechtsextremismus, Diversitätsbewusste Sozialpädagogik, Rechtsextremismus- und Geschlechterforschung.

Christin Janicke: Sozialwissenschaftlerin, M. A., war wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Forschungsschwerpunkte: Extreme Rechte, Rechte Gewalt und Polizei, Zivilgesellschaft in Ostdeutschland.

Christoph Kopke: Politikwissenschaftler, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement, war gemeinsam mit Esther Lehnert Projektleitung. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus und Rechtsextremismus.

Esther Lehnert: Erziehungswissenschaftlerin, Dr. phil., Professorin für Geschichte, Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, war gemeinsam mit Christoph Kopke Projektleitung. Forschungsschwerpunkte: Rechtsextremismus und Gender, Soziale Arbeit und Rechtsextremismus, Soziale Arbeit im Nationalsozialismus.

Helene Mildenberger: Sozialwissenschaftlerin, B. A., war studentische Mitarbeiterin im Projekt an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kritische Polizeiforschung, polizeiliche Erfassung von Hasskriminalität, Institutionen und Ungleichheit.

Aufbau

Das Buch enthält insgesamt elf Beiträge. Es beginnt mit einem einleitenden Überblicksartikel der Herausgeber*innen: „Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren. Ergebnisse und Perspektiven“. Die nachfolgenden Beiträge werden in drei thematischen Böcken präsentiert:

I. Forschungsergebnisse „Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren“

II. Antisemitismus, Rassismus und rechte Gewalt. Interdisziplinäre Perspektiven auf die 1990er Jahre in Ostdeutschland

III. Jugendarbeit und Polizei revisited. Wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Erkenntnisse für die Gegenwart

Inhalt

In ihrem einleitenden Beitrag „Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren. Ergebnisse und Perspektiven“ geben die Herausgeber*innen einen gebündelten Überblick über die unterschiedlichen Fachdiskurse in der Sozialen Arbeit und der Polizeiforschung und skizzieren die Rahmenbedingungen rechter Gewalt zu Beginn der 1990er Jahre. Die politische, ökonomische und soziale Situation der beiden ausgewählten regionalen Schwerpunkte, Berlin-Lichtenberg und Cottbus wird jeweils kurz vorgestellt.

Im ersten Teil des Buchs versammeln sich zwei Beiträge zu den Forschungsergebnisse des Projekts „Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren“, beginnend mit dem Text von Christin Jänicke und Helene Mildenberger „>Ja, klar haben wir versagt! < Polizeilicher Umgang mit jugendlichem Rechtsextremismus in den 1990er Jahren“. Die Autor*innen bündeln den Forschungsstand zum polizeilichen Umgang mit Rechtsextremismus und Rassismus seit den 1990er Jahren. Mit Hilfe unterschiedlicher Quellen und methodischer Zugänge untersuchen sie die Kritik am polizeilichen Handeln und den Vorwurf des Versagens vor dem Hintergrund desr gesellschaftlichen Umbruchs zu Beginn der 1990er Jahre. Durch die Auswertung der Interviews mit Akteur*innen der Polizei und die Analyse zeithistorischer Dokumente rekonstruieren die Verfasser*innen ein komplexe und widersprüchliche Szenarien: „Die Ergebnisse des Forschungsprojektes weisen auf ein komplexes Ursachenkonglomerat für das polizeiliche Versagen hin. Deutlich geworden ist, dass die gesellschaftliche und institutionelle Transformation zwar Einfluss auf das polizeiliche Handeln hatte, jedoch nicht als alleinige Erklärung fungieren kann.

Vielmehr ist aus Sicht der Autorinnen die Betonung auf den gesellschaftlichen Umbruch als Entlastungs- und Ausweichstrategie zu interpretieren, die eine Entpolitisierung und systematische Unterschatzung des jugendlichen Rechtsextremismus in dieser Zeit verschleierte“ (S. 34). In dem Beitrag wird auch deutlich, dass die Wahrnehmung des jugendlichen Rechtsextremismus als bloße ‚Jugendgewalt‘, als jugendkulturell geprägt und Begleiterscheinung gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zur Entpolitisierung und Verharmlosung des Rechtsextremismus führten.

Im zweiten Beitrag des Forschungsprojekts „>Bei mir haben sich auch die härtesten Nazis im Liebeskummer ausgeheult<. Genderreflektierende und antisemitismuskritische Perspektiven auf den sozialpädagogischen Umgang mit rechten Jugendlichen Anfang der 1990er Jahre“von Vero Bock, Lucia Bruns und Esther Lehnert wird der Fachdiskurs zu Beginn der 1990er Jahre kritisch reflektiert. Dabei werden die Bezugnahmen auf die akzeptierende Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen (Krafeld 1992) und das Desintegrationstheorem (Heitmeyer 1994) herausgearbeitet, auch in der Interpretation eines Interviews mit einer ehemaligen Fachkraft aus Berlin-Lichtenberg, die exemplarisch als Einblick in die Forschungsergebnisse vorgestellt wird.

Im Fokus der Beiträge des zweiten Kapitels „Antisemitismus, Rassismus und rechte Gewalt. Interdisziplinäre Perspektiven auf die 1990er Jahre in Ostdeutschland“ stehen zeithistorische Rahmungen und Einordnungen, mit denen die Forschungsergebnisse weiter kontextualisiert werden. Ursula Birsl rekonstruiert unter der Überschrift „Kontextbedingungen des Rechtsextremismus und rechter (Jugend-)Gewalt in Ostdeutschland zu Beginn der 1990er – eine Zeitreise“ die Entwicklung rassistischer Gewalt in der Transformationsgesellschaft vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Strukturwandels in der DDR seit den 1970er Jahren.

Heike Radvan betont in ihrem Beitrag „Perspektiven auf die Wahrnehmung extrem rechter Frauen in Forschung und Praxis der 1990er Jahre. Ein Plädoyer für die Differenzkategorie Ost/West und Intersektionen“ die fehlende Wahrnehmung für die Involviertheit von Mädchen und jungen Frauen in die rechte Szene, sowohl in der sozialpädagogischen Praxis als auch in den Anfängen der Forschung. Vor diesem Hintergrund arbeitet sie die Notwendigkeit heraus, Intersektionen von Ost/West, Klasse und Geschlecht in die Analyse der Spezifik des Rechtsextremismus in Ostdeutschland einzubeziehen. In dem Beitrag „Erklärungspotenziale rassismuskritischer Polizeiforschung“ stellt Fiona Schmidt dar, das rassismuskritische Forschungsperspektiven auf die Polizei, insbesondere zu institutionellem Rassismus in der Polizei dazu beitragen können, ein individualisierendes Verständnis von Rassismus zu überwinden und die Reproduktion von Rassismus in und durch die Polizei in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang zu verstehen.

Das dritte Kapitel „Jugendarbeit und Polizei revisited. Wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Erkenntnisse für die Gegenwart“ beginnt mit dem Beitrag „Hundert Jahre Erziehung zu Gewalt und Hass. Zur Kontinuität rechtsextremer Jugendarbeit in Deutschland“ von Gideon Botsch. Der Politikwissenschaftler zeigt eine beständige Kontinuitätslinie rechtsextremer politischer Jugendarbeit in Deutschland, in der pädagogische Praktiken tradiert werden, die sich unmittelbar auf den Nationalsozialismus und seine rechtsextremen Vorläufer zurückführen lassen.

Im Zentrum des Beitrags „Der NSU-Komplex in der Geschichtswerkstatt. Erinnerungspolitische Ansätze in der Arbeit mit Jugendlichen zur Aufarbeitung von Zeitgeschehen in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft mit Bezug zur Jugendhilfe der 1990er Jahre“ von Danilo Starosta steht die Aufarbeitung der Rolle der Jugendarbeit in Bezug zum NSU-Komplex, die Starosta in der „Verantwortung der Jugendarbeit selbst“ (S. 123) sieht. Durch die Initiierung von Geschichtswerkstätten in Zwickau und Chemnitz sind beispielsweise Workshops, Ausstellungen und ein App-basierter Stadtrundgang in Chemnitz entstanden.

Das Geschlecht immer noch eine Leerstelle in der öffentlichen Wahrnehmung des Rechtsextremismus und auch in Teilen der Rechtsextremismusforschung ist, bildet den Ausgangspunkt für die Fragen von Judith Rahner nach dem „Gender Gap in der Rechtsextremismusprävention“. Sie untersucht in ihrem Beitrag, wie es aus zivilgesellschaftlicher Perspektive um die Verbindung von Rechtsextremismusprävention und Geschlecht bestellt ist, nimmt eine entsprechende Bestandsaufnahme vor und skizziert die Voraussetzungen einer geschlechterreflektierenden Rechtsextremismusprävention.

Unter der Überschrift „Polizei im Umbruch – Politische Aktions- und Reaktionsformen auf den Rechtsextremismus seit 1990“ arbeitet Hans-Gerd Jaschke vier verschiedene Muster in den politischen Aktions- und Reaktionen im polizeilichen Umgang mit dem Rechtsextremismus heraus:

  1. Das Defensivmuster: Ignorieren, Herunterspielen, Verharmlosen, Unterschätzen
  2. Das „Hufeisenmodell“: die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus
  3. Das Präventions-Muster
  4. Das Reflexionsmuster: Rechtsextremismus und Rassismus in den eigenen Reihen.

Diese Muster waren und sind seit den 1990er Jahren unterschiedlich wirksam und sie unterliegen einem notwendigen Wandel, hin zur Prävention von Rassismus und rechter Gewalt und der kritischen Reflexion strukturellen Rassismus in der Polizei.

Im abschließenden Beitrag der Publikation „Multiperspektivische und intersektionale Perspektiven auf die ‚Baseballschlagerjahre‘ – Erinnerungspolitisches Gedenken der Initiative Cottbus 92“ von Miriam Friz Trzeciak und Stefanie Lindner für die Initiative Cottbus 92 stellen die Verfasser*innen ihre erinnerungspolitische Arbeit zu den progromartigen Angriffen auf eine Geflüchtetenunterkunft in Cottbus-Sachsendorf im August 1992 vor. Sie skizzieren den sozialen und politischen Kontext der Zeit, die vielfach als ‚Baseballschlagerjahre‘ bezeichnet werden. Mit dem Projekt kommen bisher wenig repräsentierte Perspektiven zu Wort, in dem Betroffene als Hauptzeug*innen des Geschehens im Fokus der Aufarbeitung stehen.

Diskussion

Mit der Publikation werden die rassistischen Ausschreitungen und rechten Gewalttaten zu Beginn der 1990er Jahre vor dem Hintergrund sozialpädagogischen und polizeilichen Handelns im Umgang mit Rechtsextremismus reflektiert. Dabei geht es um eine Zeit, die seit 2019 in zeitgeschichtlichen Beschreibungen als die „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet wird. Die Verwendung des Begriffs geht auf die Initiative eines Zeitonlinejournalisten zurück, in der unter dem Hashtag #Baseballschlägerjahre Erfahrungsberichte von Betroffenen geteilt werden, in denen davon erzählt wird, welchen Terror rechte Jugendliche im Alltag ausgeübt haben, auf der Straße, auf Schulhöfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Konzerten – verbal, mit Fäusten, Messern, Schreckschusspistolen oder eben mit Baseballschlägern.

Fazit

Die bisher wenig beachteten Perspektiven der Betroffenen von Rassismus und rechter Gewalt bilden auch in den Beiträgen der Publikation einen zentralen Fokus. Fragen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in gesellschaftlichen Diskursen über Rassismus, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit sowie den Aufgaben und Konzepten von Sozialer Arbeit und Polizei werden in diesem lesenswerten und im open access zur Verfügung stehenden Sammelband kenntnisreich bearbeitet und verständlich dargestellt. 

Rezension von
Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert
Hochschule Mittweida, Fakultät Soziale Arbeit
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Es gibt 33 Rezensionen von Gudrun Ehlert.

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ISSN 2190-9245