Dieter Rucht: Kollektive Proteste und soziale Bewegungen
Rezensiert von M.A. Lena Herbers, 19.01.2024
Dieter Rucht: Kollektive Proteste und soziale Bewegungen. Eine Grundlegung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
240 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6518-3.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR.
Reihe: Grundlagentexte Soziologie. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779926245.
Thema
Mit seinem Buch „Kollektive Proteste und soziale Bewegungen. Eine Grundlegung“ hat Dieter Rucht, wie der Titel verspricht, eine grundlegende Einführung in die Theorien sozialer Bewegungen verfasst.
Autor:in
Prof. Dr. Dieter Rucht ist emeritierter Professor für Soziologie und Gründungsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Er war bis 2011 Ko-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin. Er forscht seit über 40 Jahren zu sozialen Bewegungen und Protesten und veröffentlichte in diesem Feld zahlreiche Publikationen. Der vorliegende Band verbindet verschiedene seiner Arbeiten.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist in neun Kapitel untergliedert, die jeweils einen bestimmten Gesichtspunkt in der Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen behandeln. Jedes der Kapitel endet mit einer knappen Zusammenfassung des vorher Dargestellten.
In den einführenden Bemerkungen reißt der Autor anhand verschiedener Fragen an, worum es im Folgenden gehen wird: „Worin besteht der Sinn und die Funktion von Protestgruppen und sozialen Bewegungen? Was bringt sie hervor? Was treibt sie an? Auf welchen Strukturen beruhen sie? Welche Dynamiken weisen sie auf? Welchen Beitrag leisten sie zur Gestaltung von Gesellschaft und Politik?“ (S. 9). Mit diesen Fragen wird deutlich, dass es um eine grundlegende, aber auch umfassende Einordnung geht.
Ausgehend von diesen Fragen nähert sich der Autor im ersten Kapitel „Was sind soziale Bewegungen?“ dem Gegenstand der sozialen Bewegungen an. Ausgehend von der Begriffsgeschichte nimmt er eine Arbeitsdefinition vor: „Eine soziale Bewegung ist (1) ein mobilisiertes Netzwerk von Gruppen und Organisationen, die, (2) gestützt auf eine kollektive Identität, (3) grundlegenden sozialen Wandel (4) vor allem mit dem Mittel des kollektiven öffentlichen Protests herbeiführen oder verhindern wollen.“ (S. 20).
Die vier Bestandteile der Definition werden in den folgenden Unterkapiteln näher erläutert. Im letzten Teil des einführenden Kapitels nimmt der Verfasser Abgrenzungen zu verwandten Phänomenen vor – wie politische, ökonomische oder kulturelle Bewegungen, aber auch zu Protestbewegungen, klientelorientierte Interessengruppen und zu Terrorismus, Revolution und Bürgerkrieg. Gleichzeitig verweist er darauf, dass in der Bewegungsforschung kontrovers diskutiert wird, inwieweit es sich bei bestimmten Gruppen/​Bewegungen tatsächlich um soziale Bewegungen handelt. Davon ausgehend wird in Kapitel 2 ein Blick zurück in die Geschichte sozialer Bewegungen geworfen. Daran anschließend werden soziale Bewegungen in den folgenden Kapiteln 3–6 näher beleuchtet, indem hier verschiedene Aspekte herausgegriffen werden: Zunächst nimmt der Autor in Kapitel 3 einen Blick von außen auf die Entstehung und Verläufe. Im folgenden Kapitel 4 wird dann das Innere sozialer Bewegungen beleuchtet: ihre Träger und Strukturen, aber auch ihre Organisation und Ressourcen, die Formen und Medien der Kommunikation von sozialen Bewegungen ebenso wie interne Framings zur Aufrechterhaltung der Motivation der eigenen Aktivist:innen. Auch mögliche Binnendifferenzierungen wie unterschiedliche Strömungen, Flügel und Spannungen werden hier thematisiert. In Kapitel 5 geht es um die Bedingungen und Formen des Handelns von sozialen Bewegungen, also beispielsweise die Handlungskontexte, Gelegenheitsstrukturen, Protestrepertoire, Strategien und das externe Framing zur Vorbringung von Deutungen. Um die Frage danach, was eine Bewegung erfolgreich macht, geht es im folgenden Kapitel 6: die Wirkungen von Protesten, der Schwierigkeit diese zu erheben und die Faktoren für Erfolg und Misserfolg. Kapitel 7 befasst sich mit methodischen Überlegungen zur Erforschung sozialer Bewegungen. Hier werden vielfach genutzte Methoden in der Bewegungsforschung vorgestellt: teilnehmende Beobachtung, Protestereignisanalysen, Claim-Analyse und Befragungen von Protestierenden. Anschließend eröffnet der Autor in Kapitel 8 einen theoretischen Blick soziologischer „Klassiker“ auf soziale Bewegungen. Im abschließenden Kapitel 9 wirft er einen Blick auf die gegenwärtige Protest- und Bewegungsforschung und stellt Fortschritte sowie noch offene Fragen dar.
Diskussion
Der Band bietet einen fundierten Überblick über bestehende Theorien zu Protest und sozialen Bewegungen sowie theoretischen Einblicke, die mithilfe von Beispielen konkreter sozialer Bewegungen illustriert werden. Er liefert eine komplexe Betrachtung der bestehenden Landschaft der Bewegungsforschung. Dass ausgehend von unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven auf soziale Bewegungen verschiedene theoretische Ansätze im Feld der Bewegungsforschung dargestellt werden, macht Sinn und zeigt die Stärken und Schwächen der Ansätze.
Dennoch stehen sie nicht direkt nebeneinander und ein Vergleich dieser Ansätze ist nicht direkt möglich – und auch nicht die Intention des Buches. Dass in Kapitel 8 auch auf klassische soziologische Theorien und deren Bezug zu sozialen Bewegungen eingegangen wird, erhöht auf erfreuliche Weise die Komplexität des Bandes. Der Autor bezieht auch aktuelle Publikationen mit ein. Auch in den Beispielen nutzt er neuere und ältere soziale Bewegungen und bildet so die Bandbreite der sozialen Bewegungen ab. Der Blick im letzten Kapitel auf die gegenwärtige Protest- und Bewegungsforschung mit ihrem Erreichten, aber auch ihren noch offenen Fragen, ist erkenntnisreich und bildet einen guten Abschluss, auch wenn dieser vergleichsweise recht knapp geraten ist. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Buch wie der Name erwarten lässt, auch um eine Grundlegung im Sinne einer grundlegenden und fundierten Einführung. Darüber hinaus könnte auch ein Theorieentwurf erwartet werden, der die sozialen Phänomene kollektive Proteste und soziale Bewegungen in eine philosophische/​politisch-theoretische/​soziologische Grundlagentheorie einbettet. Dies ist nicht der Fall.
Fazit
Das Buch wird seinem Anspruch als ‚Grundlegung‘ in dem Sinne gerecht, dass es einen guten und umfassenden Überblick über die Theorien sozialer Bewegungen bietet. Eine neue soziologisch-theoretische Grundlage von sozialen Bewegungen wird hingegen nicht entwickelt. Auch aufgrund der Thematisierung offener Fragen – vor allem in den letzten beiden Kapiteln – ist der Band nicht nur als Einführung von Interesse. Damit leistet Dieter Rucht einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen und Protest.
Rezension von
M.A. Lena Herbers
Diplom-Juristin, Soziologin M.A., Doktorandin, Institut für Soziologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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Es gibt 1 Rezension von Lena Herbers.
Zitiervorschlag
Lena Herbers. Rezension vom 19.01.2024 zu:
Dieter Rucht: Kollektive Proteste und soziale Bewegungen. Eine Grundlegung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-6518-3.
Reihe: Grundlagentexte Soziologie. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779926245.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30797.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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