Lars Reichardt: Zimmer für immer
Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 18.07.2023

Lars Reichardt: Zimmer für immer. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben. Kein & Aber AG (Zürich) 2023. 224 Seiten. ISBN 978-3-0369-5004-4. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 30,00 sFr.
Thema
In den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts führten Wohnungsnot und hohe Mietkosten zu einer wachsenden Verbreitung von Wohngemeinschaften. Die damalige Situation erinnert fatal an die Zustände auf dem heutigen Wohnungsmarkt. „Die Situation auf dem Wohnungsmarkt wurde seit Jahren immer schlimmer“, so der Autor (110). Es ist deshalb nicht überraschend, dass mehrere neue Veröffentlichungen zum Leben in Wohngemeinschaften erschienen sind. Das Buch von Lars Reichardt beleuchtet das Thema aus einer individuellen Perspektive.
Autor
Lars Reichardt, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und arbeitet heute in der Textredaktion des Magazins der Süddeutschen Zeitung. Er lebt in München.
Aufbau
Das Buch enthält 15 Kapitel, in denen der Autor vornehmlich über seine eigene Zweck-Wohngemeinschaft berichtet. Er informiert aber auch über verschiedene andere Wohngemeinschaftsmodelle. Dazu gehören eine Witwen-WG in München, die alternative Dorfgemeinschaft „Tempelhof“ in der Nähe von Dinkelsbühl, eine Jesuiten-Kommunität in München, ein Mehrgenerationenhaus in Südtirol, Baugemeinschaften in Hamburg und München und die Kommune „Utopiaggia“ in Umbrien. Einige Kapitel sind bereits als Artikel im SZ-Magazin erschienen.
Inhalt
Die Gedanken und Erörterungen des Autors kreisen um die Frage, welches der Ort zum Bleiben ist, was ein Zuhause ausmacht. Er ist jetzt 60 Jahre alt. Es wird – in seinen Worten – allerhöchste Zeit für ihn, sich darauf vorzubereiten, wie er mit achtzig Jahren leben möchte (118). Seine eigene WG-Historie beginnt mit seiner Mutter, die nach ihrer Scheidung von seinem Vater ihre Wohnung für viele Menschen, Freunde und Bekannte öffnete. Der Autor, damals 15 Jahre alt, fand das grauenhaft. Er schreibt: „Ich nenne die dreieinhalb Jahre Zeit bei meiner Mutter nicht nur deswegen Wohngemeinschaft, weil wir so gut wie immer mit anderen zusammenwohnten, sondern auch weil Erziehung so gut wie nicht mehr stattfand“ (100). Dennoch empfand er das Zusammenleben in einer WG insgesamt als sinnvolles Konzept, um sich gegenseitig zu unterstützen und lebt gegenwärtig in einer WG. Es ist eine Zweck-WG auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das Haus gehört Lars Reichard und er vermietet Zimmer im Haus. Ausführlich schildert er das Zusammenleben mit seinen wechselnden Mitbewohner:innen. Man lernt einiges über die Eigenheiten von Jan, Mike, Li, Astrid, Birgit, Rudi und Ralf und ihre persönlichen Entwicklungen kennen. „In einer Zweck-WG muss man sich nichts Persönliches erzählen“ (17), aber gegenseitiges Vertrauen ist sehr wichtig. „Meine Mitbewohner haben mich zur Offenheit erzogen“ (216).
In Reflektion zur eigenen Zweck-WG berichtet der Autor über ein paar ausgewählte Beispiele anderer gemeinschaftlicher Lebensformen und trägt ein buntes Spektrum zusammen. Dies reicht von der Jesuiten-Kommunität des Münchener Paters Bordt, in der fünf Jesuiten zusammenleben, bis zu Utopiaggia, der ältesten Kommune in Italien. Alle Berichte enthalten neben der generellen Beschreibung, wie das Gruppenleben organisiert ist und abläuft, interessante Einsichten. Die Jesuiten-Kommunität leistet sich beispielsweise eine Zugehfrau, um vom Stress des Putzens entlastet zu sein. In Utopiaggia sind die meisten der aktuell 21 Bewohnerinnen und Bewohner in Rente und die weitere Existenz der Kommune ist ungewiss. Es bleibt die Erkenntnis, dass es für das Zusammenwohnen sehr wichtig ist, „den Anderen in seinem Anderssein anzuerkennen“ (186).
Als Beispiel für eine Großkommune (mit rund 150 Personen) schildert der Autor „Tempelhof“. Das ist eine Art schwäbischer Hightech-Kibbuz mit sechsundzwanzig Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. Tempelhof war und ist ein Sozialexperiment und versucht den Spagat zwischen alten Ritualen und neuen Lebensentwürfen. „Die richtige Balance zwischen Freiheit und Verbundenheit zu finden, bleibt eine lebenslange Aufgabe“ (72).
Diskussion
Es ist ein sehr persönliches Buch. Man erfährt sehr viel über den Autor, seine Biografie, sein Leben, seine Beziehungen, seine finanzielle Situation. Es ist eine Form der Selbst-Offenbarung und kann als therapeutische Reise betrachtet werden. Man begleitet den Autor bei seiner Suche nach der besten Wohn- und Lebensform jenseits des Kleinfamilienmodells und findet – je nach Bedarf – eine ganze Reihe von Einsichten, zum Beispiel „Gemeinsames oder füreinander Kochen ist eines der wirksamsten Heilmittel für jede Wohngemeinschaft“ (109). Oder. „Mein Zuhause verschließt sich nicht, sondern lässt die Welt herein und begrüßt immer wieder Fremde“ (217). Bei der Auswahl von Mitbewohnern entscheidet der Autor immer nach seinem Bauchgefühl, „das stellt sich nach wenigen Sekunden ein“ (12). Das, was der Autor mit 15 Jahren so grauenhaft empfand, die Öffnung der eigenen Wohnung für viele Menschen, scheint letztendlich in gefilterter Form sein eigenes Modell geworden zu sein.
Fazit
Man merkt dem Buch, die langjährige journalistische Erfahrung des Autors an. Es ist sehr unterhaltsam geschrieben und liefert eine kursorische Impression über verschiedene gegenwärtige Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, vor allem über das Funktionieren der eigenen Zweck-WG des Autors.
Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 19 Rezensionen von Dieter Korczak.