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Hans-Ernst Schiller: Die Wirklichkeit des Allgemeinen

Rezensiert von Sabine Hollewedde, 18.08.2023

Cover Hans-Ernst Schiller: Die Wirklichkeit des Allgemeinen ISBN 978-3-89691-087-5

Hans-Ernst Schiller: Die Wirklichkeit des Allgemeinen. Soziale Formen objektiver Vernunft: Wert, Technik, Staat und Sprache. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2023. 370 Seiten. ISBN 978-3-89691-087-5. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR.

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Thema

Das vorliegende Buch versammelt Essays, in welchen Hans-Ernst Schiller der Frage der Wirklichkeit des Allgemeinen in den gesellschaftlichen Verhältnissen nachgeht. Mit dem Untertitel ist benannt, wo Schiller Formen objektiver Vernunft ausmacht: in Wert, Technik, Staat und Sprache. Entsprechend ist der Band gegliedert, wobei der Rahmen dadurch gegeben ist, dass es dem Autor um die Begründung eines nicht-metaphysischen Begriffs von Vernunft geht, welchen er im Anschluss an die kritische Theorie Horkheimers darlegt. Wichtige Referenzen sind außerdem Aristoteles und dessen Kritik an Platons Ideenlehre, Wilhelm von Humboldt, Adorno, Marcuse und insbesondere Marx und Engels. Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie und die Frage danach, wie sich diese zur philosophischen Tradition verhält, stehen im Zentrum der Untersuchungen von Schiller. Es geht um das Verhältnis von Marx zu Aristoteles (Kap. 4) und die Begriffe Widerspruch, Totalität und Wert (Kap. 5) sowie um Produktivkraft (Kap. 6) und den bürgerlichen Staat (Kap. 7). Schließlich fokussiert Schiller auf das auf den Nägeln brennende Thema der Natur und des herrschaftlichen Zugriffs auf diese. Schiller spricht von einem ‚Krieg‘, welcher gegen die Natur geführt werde, und er untersucht, wie das objektive Zwecke in der Natur ablehnende Naturverständnis der neuzeitlichen Naturwissenschaften und der kapitalistische Zugriff auf die Natur zusammenwirken und in die dramatische ökologische Krise geführt haben. Auf Grundlage von Mimesis solle dagegen eine moralische Verpflichtung begründet sein, einen den Tieren zukommenden intrinsischen Wert anzuerkennen.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung beinhaltet der Band neun Kapitel, die jeweils in mehrere Unterabschnitte gegliedert sind. In der Einleitung stellt Schiller seinen Ausgangspunkt vor und verortet seine Untersuchung(en) im theoretischen Kontext kritischer Theorie. Als einen „Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von marxistischer Kapitalismus-Kritik und Philosophie“ (S. 11) seien die vorliegenden Analysen zu verstehen, welche einen „nichtmetaphysische[n] Begriff objektiver Vernunft“ (ebd.) herausarbeiten. Damit ist betont, dass Schiller sich in die Tradition der älteren kritischen Theorie stellt, welcher es darum ging, die Wirklichkeit des Allgemeinen in der sozialen Wirklichkeit zu erfassen und dabei zugleich eine Kritik idealistischer (Hegel’scher) Dialektik zu formulieren. So verweist Schiller gleich eingangs auf die programmatische Rede Horkheimers „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“ aus dem Jahre 1931. Eine metaphysische Theorie charakterisiert Schiller durch zwei von einer solchen vorausgesetzten Annahmen: „erstens die Identität von gedachter Form und Wirklichkeit und zweitens die Ewigkeit geistig erfasster Formen und Strukturen“. (S. 11 f.) Davon sei eine kritische Theorie abzugrenzen, welche notwendig materialistisch und historisch argumentiere. Der Ausgangspunkt für ein nichtmetaphysisches Verständnis des Allgemeinen ist für Schiller Aristoteles’ Ontologie und sein Konzept der Enérgeia (s. das 2. Kapitel). Wie Aristoteles Platon kritisiert habe, kritisiere auch Marx Hegel, womit Schiller die zentrale Bedeutung von Aristoteles für Marx betont. „Ausgehend von der Ontologie des Aristoteles lautet die These objektiver Vernunft, dass das Allgemeine nur als Form einer Materie im Prozess ihrer Verwirklichung besteht. In der gegenwärtigen Gesellschaft existiert das Allgemeine, das sich im Fortschreiten der Geschichte zum Allgemeinen der Gattung erweitert hat, als Wert, Werkzeug, Staat und Sprache.“ (S. 13) In der bürgerlichen Gesellschaft nimmt die Wirklichkeit des Allgemeinen eine unvernünftige Form an. Damit sind ihre Verselbständigung gegenüber den Subjekten und ihre Widersprüchlichkeit gemeint, durch welche die Verhältnisse den Menschen undurchsichtig sind. Ziel sei „die wirkliche Versöhnung des subjektiven und objektiven Aspekts der Vernunft, nicht nur die Versöhnung von individuellem und allgemeinen Interesse, sondern auch die des selbstbewussten Denkens mit der institutionellen Praxis und der in ihr vollzogenen objektiven Gedankenform.“ (S. 14) Hierzu ist, dies macht Schiller deutlich, auf das Verhältnis kritischer Theorie zur Philosophie zu reflektieren. Wenn Philosophieren „kategoriale Reflexion“ bedeutet, dann ist „auch die Kritik der politischen Ökonomie von Grund auf philosophisch“. (S. 16) An den traditionellen Marxismus könne aber nicht ohne Weiteres angeknüpft werden, da dessen zentrale Annahme – eine durch das Proletariat zu vollziehende Revolution – nicht mehr zu halten sei: „Eine führende Rolle in der Überwindung dieser Produktionsweise kann ihr aber schon deshalb nicht mehr zugewiesen werden, weil die Erwartung einer allgemeinen Proletarisierung und Verelendung, die das Kommunistische Manifest formuliert hatte, durch die Entwicklung in den kapitalistischen Zentren widerlegt worden ist.“ (S. 17) Da gleichwohl für Schiller kein Zweifel daran besteht, „dass das Verständnis der modernen Gesellschaft oberflächlich bleibt ohne die marxsche Theorie“ (S. 18), plädiert Schiller für eine an diese anknüpfende Weiterentwicklung kritischer Theorie. Eine Erweiterung ist in der Betonung der Bedeutung der Sprache zu sehen. Hier knüpft Schiller an Wilhelm von Humboldt an (vgl. das 8. Kapitel) und räumt sogleich das mögliche Missverständnis aus, damit die durch Habermas forcierte „kommunikationstheoretische Entkernung der kritischen Theorie“ zu befördern. Es sei falsch, eine Alternative aufzumachen zwischen der Bedeutung von Sprache und Arbeit. Vielmehr: „Materielle Arbeit ist ebenso auf sprachliche Tradition angewiesen wie Sprache auf geistige Arbeit. Herrschaftsfreie Verständigung aber lässt sich nicht allein oder vorrangig durch eine andere Kommunikation erreichen, sondern nur durch eine Bemächtigung der materiellen Produktivkräfte, durch welche die in die Produktionsverhältnisse eingelassene Klassenstruktur aufgelöst wird.“ (S. 19)

Mit der Einleitung ist der große Bogen umrissen, den Schiller in den folgenden neun Kapiteln schlägt. Referenz ist, wie auch in der Einleitung, zunächst Max Horkheimer: 1. Kapitel. Subjektive und objektive Vernunft bei Horkheimer. Hier werden die für die Untersuchungen leitenden Begriffe objektiver und subjektiver Vernunft eingeführt und erläutert, wobei die Anknüpfung an und die Differenz zu Hegels Konzept objektiver Vernunft bei Horkheimer zentral ist, was Schiller unter den Stichpunkten eines metaphysischen vs. eines gesellschaftskritischen Begriffs objektiver Vernunft fasst. „Horkheimer hat sich die These, Zwecke ließen sich aus objektiven Strukturen bestimmen, zu eigen gemacht, stellt sie aber in den Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie, in der die Zwecke nicht aus den ewigen Formen des Seins abgeleitet werden sollen, sondern aus den Widersprüchen der gegebenen gesellschaftlichen Grundstruktur.“ (S. 23) Stellt objektive Vernunft auf die Zwecke menschlichen Handelns ab, so ist der Begriff subjektiver Vernunft von der Abstraktion von den Zwecken gekennzeichnet. Subjektive Vernunft sucht das geeignete Mittel zur Erreichung eines gegebenen Zweckes. Sie ist wesentlich Methode – als solche notwendig und gar nicht zu kritisieren. Hingegen stellt die „verselbständigte subjektive Vernunft“, die „durch Formalismus und Schematismus“ charakterisiert ist, den Vorrang der Methode in der Neuzeit dar. (S. 25) Zwecke werden nicht mehr nach Maßstäben der Vernunft beurteilt. „Maßgeblich sind allein formale Kriterien, widerspruchsfreie Einordnung im Theoretischen, Vereinbarkeit mit allgemein geltenden Rechtsgesetzen im Praktischen.“ (S. 26) Nachdem der Formalismus als verselbständigte subjektive Vernunft und diese in Bezug auf die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften dargestellt wurde, kommt Schiller auf „[s]ubjektive Vernunft als Systemimperativ“ (S. 36 ff.) zu sprechen. Hier macht der Autor auf den Zusammenhang von kapitalistischer Naturbeherrschung und Formalisierung der Vernunft aufmerksam. „Im Dienste der Kapitalverwertung, d.h. einer wenigstens durchschnittlichen Profitrate, wird eine Erkenntnis organisiert und mobilisiert, die Natur unter dem Aspekt seiner Beherrschbarkeit erkennt.“ (S. 37) Das objektive Prinzip der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft ist es geradezu, subjektive, formalisierte Vernunft zu erzeugen und die Reflexion auf die Zwecke abzuschneiden. In einer Klassengesellschaft fallen zudem notwendig Selbstinteresse und Allgemeinheit auseinander, sodass die subjektive Vernunft der verschiedenen Klassen auf sich widerstreitende Interessen gerichtet ist. „In Klassengesellschaften, also auch in der unseren, geschieht die Reproduktion der Vielen nur, indem sie zugleich die Macht und den Reichtum derer vermehren, die über die Produktionsbedingungen, die Organisation und die Gewaltmittel verfügen.“ (S. 38) Die Versöhnung von objektiver und subjektiver Vernunft würde dementsprechend bedeuten, dass „die allgemeine Reproduktion […] ihrer antagonistischen Form der Herrschaft entledigt werden“ müsste. (S. 39)

In den nächsten beiden Kapiteln steht die Aristotelische Philosophie im Mittelpunkt. Im 2. Kapitel. Wirklichkeit als Verwirklichung. Das Enérgeia-Konzept in der Ontologie des Aristoteles stellt der Autor Verbindungen her zwischen Horkheimer, Platon, Hegel, Aristoteles und Marx, wobei insbesondere die Darstellung der Kritik der Ideenlehre Platons durch Aristoteles für die weitere Argumentation wichtig wird. Hier zeigt Schiller eine Parallele zwischen Aristoteles und Marx auf, welche für ihre Kritik am Allgemeinen bezeichnend sei: „Marxens Kritik an den verselbständigten Formen des Sozialen weist, wie wir bereits in der Einleitung behauptet haben, eine analoge Struktur zu Aristoteles’ Kritik der Verselbständigung gedanklicher Abstraktionen auf, die sich in Platons Ideenlehre vollzieht.“ (S. 43) Grundlegende Begriffe der Aristotelischen Philosophie werden besprochen und Schiller geht ausführlich auf das Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Einzelnem ein, woraufhin unter Bezugnahme auf Horkheimer und Marx ein kritischer Begriff von Metaphysik angesprochen wird, welcher den „Mythos der Identität von Denken und Sein“ angreife und damit die „überzeitliche Geltung der höchsten Begriffe des Denkens“ (S. 68) infrage stelle. Das 3. Kapitel Die Vernunft im Staat. Politische Philosophie bei Aristoteles geht aus vom Begriff des Staates und des Gesetzes. Die Differenz zwischen natürlichem und gesetztem Recht wird mit Aristoteles erklärt, wobei das gesetzte Recht in Übereinstimmung mit dem natürlichen Recht gebracht werden können muss. Geld als Vermittler im Tausch und Staatsformen werden in ihrem Bezug auf das Allgemeine diskutiert und die Tugend als übergeordnete Zielbestimmung aufgegriffen, welcher die staatliche Verfassung nach Aristoteles zu dienen habe. „In der Ethik wird als Endziel menschlichen Lebens die Eudaimonie, das Glück ausgegeben. Glück im Sinne der glücklichen Lebensführung könne nur in einer Tätigkeit bestehen, die das Ziel in sich selber hat. Die vollendete Eudaimonie besteht in der betrachtenden Tätigkeit der Vernunft, die über das politische Leben hinausweist, aber nur auf dem Boden eines richtigen Staates möglich ist.“ (S. 82) Schiller bemerkt an dieser Stelle, dass sich die Tugenden der freien Bürger von denen der Sklaven bei Aristoteles unterscheiden müssen. „Sklaven habe[n] keinen Anteil an jener selbstbestimmten Praxis, in der sich, wie beim Flötenspiel oder der Unterredung, die Tätigkeit selbst das Ziel ist.“ (S. 83) Während für die freien Bürger durch Erziehung und Muße selbstzweckhafte Tätigkeiten ermöglicht werden sollen, gilt dies nicht für die Sklaven, deren unfreies Dasein vielmehr die Basis dafür ist, dass sich die freien Bürger Muße verschaffen können: „Die vollkommene Lebensform zu verwirklichen, kann nur in dem Maß gelingen, als die notwendige Arbeit zur Beschaffung des Lebensnotwendigen von anderen erbracht wird, denen befohlen werden muss.“ (S. 84) Schiller macht darauf aufmerksam, dass Aristoteles, wenn es um die Legitimation der Sklaverei geht, sich in Widersprüche verwickelt, und er zeigt auf, dass es sich bei der Behauptung, es gebe Sklaven von Natur, um eine Urform der Ideologie handelt: „Für unser Thema lautet die entscheidende Frage: Ist die ideologische Naturalisierung sozialer Herrschaftsverhältnisse und Klassenstrukturen notwendig mit dem verbunden, was der Begriff objektiver Vernunft meint? Oder wird objektive Vernunft nur dadurch ideologisch, dass sie die bestehenden Verhältnisse in einem Reich ewiger Formen – sei es natürlich oder transzendent – verdoppelt und also ‚metaphysisch‘ verfährt?“ (S. 87)

An dieser Stelle ist der systematische Übergang gemacht zur Kritik des Allgemeinen durch Karl Marx. Zunächst analysiert Schiller im zentralen 4. Kapitel das Verhältnis von Marx und Aristoteles. Auffällig sei, dass Marx wohl über kaum einen anderen Philosophen mit solch bewundernder Anerkennung sich äußert wie über Aristoteles, den ‚großen Forscher‘ und ‚Denkriesen‘. Den systematischen Gründen dafür geht Schiller in diesem Kapitel nach. Er kommt zu dem Schluss, dass im Begriff der Substanz die Beziehung zwischen Marx und Aristoteles aufscheine (S. 98 ff.). Außerdem greife Marx auf Aristoteles’ Konzept der Enérgeia als freie Tätigkeit zurück, welche „in einer künftigen klassenlosen Gesellschaft verallgemeinert und produktiv verwirklicht werden soll.“ (S. 122)

Das folgende Kapitel widmet sich dann explizit der Marx’schen Theorie und ihm kommt nicht nur hinsichtlich der äußeren Struktur des Buches eine zentrale Stellung zu. Es geht um Widerspruch und Totalität in der realen Allgemeinheit des Werts. Schiller entfaltet hier Kernelemente der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie und stellt dar, was es bedeutet, dass die Kategorien der politischen Ökonomie ‚objektive Gedankenformen‘ sind. Zunächst wird die Marx’sche Warenanalyse vor dem Hintergrund der Platon-Kritik des Aristoteles gelesen. Damit zeigt sich, dass das Allgemeine nicht getrennt von seiner Verwirklichung in der Erscheinung begriffen werden kann, sondern als eine „prozessuale Wirklichkeit“ (S. 123), die allerdings bezogen auf den Wert als eine „‚verkehrte‘, eine verselbständigte (hypostasierte), den Individuen fremd und scheinbar unabhängig gegenüberstehende Realität“ (S. 124) in Erscheinung tritt. Es gilt daher die „unvernünftige Form der Vernunft“ (S. 125), d.h. die Widersprüche in der ökonomischen Grundstruktur kapitalistischer Gesellschaft zu begreifen. Hierzu greift Schiller Marxens Darstellung des Begriffs der Ware im „Kapital“ auf und setzt diesen in Bezug zu Hegels Begriff des Widerspruchs. Schillers These ist, dass sich die „marxsche Konstruktion des Widerspruchs der Ware […] auf die hegelsche bis zu einem gewissen Grad abbilden“ lässt (S. 131), es aber Differenzen zu Hegel gibt, welche für die Marx’sche Kritik gerade essentiell sind, da die Marx’sche Dialektik eben nicht zu einer positiven Aufhebung des Widerspruchs führe. „Eine solche Aufhebung bestätigt die Widersprüche, statt sie zu lösen, was allein durch die geschichtliche Tat geschehen kann.“ (S. 132) Nachdem der Begriff der abstrakten Arbeit diskutiert wurde, kommt Schiller auf die „Grenzen der Dialektik“ (S. 142) zu sprechen. „Eine solche Begrenzung der Dialektik ist zur Charakterisierung einer materialistischen Herangehensweise viel besser geeignet als die Metapher der ‚Umstülpung‘“. (ebd.) Schranken liegen laut Schiller in der Natur und der durch das Kapital angewandten Arbeitskraft. „Die wirkliche Bewegung der Widersprüche in der Produktion ist eine historische Tendenz, die auf eine endgültige Lösung zutreibt. Sie kann, Marx zufolge, nur in der Auflösung des Produktionsverhältnisses selbst bestehen, welches das Kapital seinem Begriff nach ist.“ (S. 147) Hier macht der Autor den entscheidenden Unterschied zwischen dem Begriff des Werts und Hegels Begriff des Begriffs fest: Wenngleich Marx’ Formulierungen auf die Hegel’sche Begriffslogik anspielten und es sich um eine Analogie handle, gebe es eine Grenze dieser Analogie: Nicht „die Kreisform, die Figur des Ewigen“, sondern „eher eine ins Unbegrenzte gezogene Linie“ charakterisiere den Marx’schen Kapitalbegriff. Dieser lineare Fortschritt stoße aber auf objektive Begrenzungen. „Der Prozess des Kapitals ist nicht unendlich, sondern findet seine absolute Schranke an den Ressourcen und Reproduktionsbedingungen der äußeren Natur sowie an der Notwendigkeit wertsetzender Arbeit. Der Prozess des Kapitals ist begrenzt und zwar in der Endlichkeit selbst.“ (S. 149) Insofern ist der Kapitalismus als eine Totalität zu verstehen, aber als eine relative oder ein „offenes System in dem Sinn, dass es auf ein natürliches und soziales Draußen zu seiner Reproduktion angewiesen bleibt.“ (S. 151) In dem dieses Kapitel abschließenden Teil wird der Frage nachgegangen, welche Rolle die objektiven Gedankenformen für die Konstituierung des Werts spielen. Schiller argumentiert gegen u.a. Helmut Reichelt, dass der Warentausch „durch Gedanken vermittelt ist, ohne in ihnen begründet zu sein.“ (S. 153) „Der Austausch findet nur mit Hilfe von unreflektierten Bewusstseinsoperationen statt […] aber diese Operationen sind nicht der reale Grund für die Wert- oder Preisform“. (S. 156) Gegen Interpretationen, die den Wert durch den Tausch konstituiert sehen, betont Schiller: „‚Wertgegenständlichkeit‘ verweist also zurück auf die Produktionssphäre. […] Systematisch verdankt sich die ausschließliche Zuweisung der Wertgegenständlichkeit an den Austausch einer Abstraktion, die im Zuge der Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses als Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozess rückgängig gemacht wird.“ (S. 157 f.)

Das 6. Kapitel behandelt die Gesellschaftliche Produktivkraft. Die objektive Vernunft von Werkzeug und Maschine. In den ersten Abschnitten wird begründet, warum Technik und Produktivkraft als eine Form objektiver Vernunft zu begreifen sind. Schiller zeigt, dass Marx hier an Hegel anknüpft, der dem Werkzeug objektive Vernünftigkeit der Arbeit attestiert. Diese Form der verobjektivierten Vernunft verkehrt sich jedoch in der kapitalistischen Produktion, in welcher sich „die Produktionsmittel gegenüber den mit ihnen Arbeitenden verselbständigen, ihre Fähigkeiten verkümmern und zum Mittel ihrer Beherrschung werden.“ (S. 168) Schiller geht darauf ein, dass in der Entwicklung der Produktivkraft eine Verwirklichung von Vernunft liege. „In einer Welt von acht Milliarden Menschen, in der fast ein Zehntel hungert und insgesamt ein Viertel von höchstens 3,20 Dollar pro Tag (Kaufkraftparität) leben müssen, scheint es unmöglich, auf industrialisierte Landwirtschaft und die Produktivität zu verzichten, die mit Maschinen erreicht werden kann. Das ist Grund genug, um über ihre Vernünftigkeit nachzudenken.“ (S. 169) Anschließend setzt sich Schiller mit der Maschine und ihrer Bedeutung für die Mehrwertproduktion auseinander. Er zeigt die „zwiespältige Wirkung“ (S. 177) der Maschinerie innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses auf, die notwendige Arbeit zu verringern und zugleich zum Zweck zu haben, möglichst viel Mehrarbeit abzupressen, woraus der tendenzielle Fall der Profitrate erwächst. Die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital wird schließlich nicht zuletzt durch die technologischen Errungenschaften bewerkstelligt, sodass mittels Maschinen „die Unterordnung des Arbeitsprozesses unter den Verwertungsprozess, die Formung des ersteren durch die Forderungen des zweiten“ verwirklicht wird. (S. 180) Marx’ Stellung zur Produktivkraft und seine Einschätzung ihrer emanzipatorischen Funktion wird abwägend betrachtet und schließlich kritisch bewertet: „[I]n Marxens Vorstellung vom notwendigen Eintritt der sozialen Revolution vollzieht sich eine Hypostasierung der Produktivkräfte als historischen Subjekts, die seiner Kritik am Fetischismus der ökonomischen Kategorien diametral entgegengesetzt ist.“ (S. 232) Schiller kritisiert, dass Marx in einen Hegelianismus zurückfalle, welchen er eigentlich mit seinen „ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ (1844) bereits überwunden habe, schließlich aber wieder „einen objektiv determinierten Prozess“ unterstelle. (S. 231) „Widersprach der junge Marx noch der hegelianisierenden Subjektivierung der Geschichte […] so wird ihm nun, keine zehn Jahre später, Geschichte eben doch zum Subjekt, das die Individuen als Werkzeug benutzt. Hier vollzieht sich eine punktuelle Rehegelianisierung des Geschichtsbegriffs“ (S. 233).

Im 7. Kapitel Abstrakte Allgemeinheit des modernen Staates. Die politische Form bei Marx und Engels geht Schiller auf der Grundlage einer Ähnlichkeit zwischen Fetisch und Staatstheorie den Bestimmungen des Staates als verwirklichter Allgemeinheit nach. „Auf der Grundlage der widersprüchlichen gesellschaftlichen Beziehungen der Produktion, des Austauschs, der Familie und Erziehung bildet sich – unter den historisch bestimmten Bedingungen der Klassenspaltung – ein Institutionengefüge, das von der Gesellschaft unabhängig zu sein und über sie zu herrschen scheint, während es in Wahrheit von ihr bestimmt bleibt, indem es die Interessen der herrschenden Klassen verfolgt und deren Herrschaft durch einen Gewaltapparat sowie durch die Verbreitung ideologischer Wirklichkeitsinterpretationen sichert. Der Staat ist Klassenstaat.“ (S. 236) Schiller geht auf die Funktionen des Staats zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft ein, durch welche sich der Staat als Allgemeines darstelle. Das diskutiert der Autor im Anschluss an Marx auch am Verhältnis von politischer und menschlicher Emanzipation. Hervorzuheben ist des Weiteren der „Exkurs: Menschenrechte und objektive Vernunft“, in welchem genau diese Frage gestellt und beantwortet wird. „In einer Klassengesellschaft und als Rechte eines modernen Staates müssen die Menschenrechte eine zwiespältige Existenz besitzen.“ (S. 264) Schiller zeigt, dass die durch den bürgerlichen Staat garantierte formelle Freiheit der Individuen verknüpft ist mit dem Schutz des „System der Privateigentümer“ (ebd.). Die Kritik des Staates sieht Schiller insgesamt skeptisch vor dem Hintergrund seiner bereits zuvor geäußerten Diagnose, nach welcher eine kommunistische Revolution unrealistisch sei. „Die Gedanken, in welche die Kritik an Kapital und Staat mündet, regredieren zur abstrakten Utopie, wenn es keine ‚wirkliche Bewegung‘ mehr gibt, die den jetzigen Zustand aufzuheben strebt. […] Hinzukommt, dass in einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr mit der unmittelbaren Produktion beschäftigt ist, so dass es fraglich wird, ob die Zielvorstellung einer ‚Selbstregierung der Produzenten‘ zum alleinigen Aufbauprinzip einer neuen Gesellschaft dienen kann.“ (S. 320)

Das Buch schließen zwei kürzere Kapitel über Sprache und ihr emanzipatorisches Potenzial ab. Zunächst erarbeitet Schiller im 8. Kapitel Das Enérgeia-Konzept der Sprache bei Wilhelm von Humboldt. Die Quintessenz ist, dass Sprache dadurch, dass sie die Subjekte in eine Beziehung zur Natur und zu anderen Subjekten setze, eine die Emanzipation der Subjekte befördernde Potenz beinhalte. „Am Horizont der humboldtschen Sprachauffassung erscheint schließlich die Möglichkeit eines anderen, nicht bornierten, auf Beherrschung und Ausnutzung eingegrenzten praktischen Verhältnisses zur Natur. Durch ihre Gewebestruktur wird Sprache zum Modell eines Denkens, in dem sich die Menschen als Teil eines umfassenden Zusammenhangs begreifen, den sie bewahren und befrieden sollten.“ (S. 338) Das 9. Kapitel Sprache als Modell der Naturbetrachtung. Ähnlichkeit und Analogie knüpft daran an. Im Anschluss an die Identitätskritik von Horkheimer, Adorno und Marcuse, die das Verhältnis von identifizierendem Denken und Herrschaft thematisierten, stellt Schiller insbesondere durch Bezugnahme auf Adorno die Bedeutung der Mimesis für die Erkenntnis heraus. „Der Reflexion auf die Ähnlichkeit von Subjekt und Objekt, letztlich auf das Innewerden leiblicher Natur im erkennenden Selbst, entspricht die Erkenntnis des objektiven Zusammenhangs, der durch Ähnlichkeit, nicht durch hierarchische Über- und Unterordnung unterschiedlich abstrakter Begriffe gestiftet wird.“ (S. 343) Während Ähnlichkeit und Analogie bis in die romantische Naturphilosophie wichtige Erkenntnismittel gewesen seien, basierten die neuzeitlichen Naturwissenschaften darauf, dass „[n]aturimmanente Zwecke, außer dem einen der Selbsterhaltung, der sich im Organismus als funktionaler Zusammenhang verwirklicht, […] aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnis verbannt“ werden. (S. 345) Dadurch sei es in der Praxis möglich, „in der Natur Zwecke zu verfolgen, die ihr prinzipiell äußerlich sind und deren Verwirklichung keinesfalls mehr als ‚Nachahmung der Natur‘ verstanden werden kann.“ (ebd.) Die Naturbeherrschung, die schließlich in die „ökologische Krise“ (S. 344) geführt habe, sei ohne die neuzeitlichen Naturwissenschaften nicht möglich gewesen. Schiller betont zugleich, dass nicht allein die Wissenschaften Grund für die zerstörerische Beherrschung von Natur sind, sondern der die Gesellschaft insgesamt beherrschende Zweck: „die Vermehrung von Kapital“. (S. 346) Die Entwicklung der Naturwissenschaften ist daher in Bezug auf diesen Zweck der Verwertung von Wert zu beziehen, wobei Schiller kritisch auf Georg Lukács rekurriert, ihn zugleich dafür würdigt, dass er versuchte, „einen Zusammenhang zwischen Warenform und naturwissenschaftlicher Denkweise sowie industrieller Arbeit und Experiment herzustellen“. (S. 350) Indem naturimmanente Zwecke negiert werden und Natur dem übergeordneten Zweck der Verwertung des Werts dienstbar gemacht wird, wird sie mit bloß subjektiver Vernunft betrachtet. Dagegen formuliert Schiller abschließend Überlegungen über „Objektive Vernunft in der Naturbetrachtung“ (S. 351 ff.) Grundlegend für die Geltendmachung von Objektivität sei es, „den Blick auf die Zusammenhänge zu richten, die in der Entstehung und Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse aufgetrennt werden.“ (S. 351) Schließlich geht es dem Autor um die Erkenntnis der „Verwandtschaft im Leiden“, die die Menschen mit den übrigen Lebewesen verbinde. Diese Verwandtschaft lege „den Menschen eine moralische Verpflichtung auf, den Tieren so wenig wie möglich zu schaden, sie als Wesen mit einem intrinsischen Wert anzuerkennen, deren Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen. Diese Verpflichtung kann aber nur existieren, weil wir uns in wesentlichen Eigenschaften von den Tieren eben auch unterscheiden. Zu nennen ist zuvörderst das Bewusstsein der Gattung“. (S. 356) Schiller hebt hervor, dass es um eine Ähnlichkeit, nicht um eine Gleichsetzung gehe und verweist zu Recht darauf, dass eine Gleichsetzung von Mensch und Tier wiederum fatale Folgen hätte: „Wer diese Differenz verleugnet, indem er eine moralische Gemeinschaft zwischen Tieren und Menschen behauptet oder zumindest höhere Tiere wie Schweine und Affen als ‚Personen‘ tituliert, läuft Gefahr, die Natur und die Stärke unserer Verpflichtungen gegenüber den Tieren zu vernebeln. Die praktische These objektiver Vernunft in der Natur erfordert keine Moralisierung unserer tierischen Verwandten, sondern beruht auf der Anerkennung ihrer materiellen Subjektivität, zumal ihrer Leidensfähigkeit.“ (S. 356 f.)

Diskussion

„Weder die Verleugnung unserer Animalität und natürlichen Bedürftigkeit noch die Beschönigung des Krieges, den wir spätestens seit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Natur führen, vertragen sich mit einer Haltung objektiver Vernunft zur Natur.“ (S. 357) Natur ist nicht bloß mittels subjektiver Vernunft zu erkennen und zum Zweck ihrer Benutzung anzueignen. Schiller verweist darauf, dass ein solcher bloß zweckrationaler Zugriff auf die Natur, welcher die Reflexion auf die Zwecke und die Reflexion auf Zwecke in der Natur abschneidet, die Menschheit und den Planeten in eine ökologische Krise ungekannten Ausmaßes getrieben hat. UN-Generalsekretär Guterres stellt im Juli 2023 fest: „Der Klimawandel ist da. Er ist erschreckend“. Der Juli 2023 war der heißeste bisher aufgezeichnete und Untersuchungen haben ergeben, dass es vermutlich seit 120 000 Jahren auf der Erde nicht mehr so heiß war wie derzeit. Insofern spricht Guterres von einer neuen Ära, der „Ära des globalen Kochens“, welche uns nicht irgendwann bevorstehe, sondern welche angebrochen sei. – Vor diesem Hintergrund mit Schillers Worten von einem Krieg gegen die Natur zu reden, scheint durchaus berechtigt, wenn man sich die Ausmaße der Zerstörung von Ökosystemen, das Artenstreben und die schneller als prognostiziert voranschreitende Erhitzung der Erde (und der Meere, nicht zu vergessen) vergegenwärtigt. – Allein die ‚Kriegsparteien‘ bedürfen einer genaueren Bestimmung. Die „rastlose Expansion der Naturbeherrschung“ (S. 344), welche laut Schiller zur ökologischen Krise führte, hat einen Antrieb, ohne welchen sie gar nicht zu verstehen ist. Dies ist das Kapital, das sich als Zweck setzt und das nur seiner in beständigen Vermehrung existiert. Zu diesem Zweck werden Regenwälder abgeholzt, werden Tiere zusammengepfercht in Ställen gehalten und die Natur ausgeplündert. Wie Schiller auch an anderer Stelle betont, sind nicht bereits die Naturwissenschaften Grund der Zerstörung der Natur, sondern es ist ihre Anwendung durch das Kapital. So wäre das obige Zitat zu präzisieren: Nicht „wir“ führen einen Krieg gegen die Natur, sondern es ist das Kapital, welches einen Widerspruch generiert, der notwendig zerstörerische Auswirkungen auf die Natur hat.

Eine sich von der bürgerlich-kapitalistischen wesentlich unterscheidende Naturbetrachtung ist nötig, denn diese hat ihre Verkehrtheit erwiesen, hierin ist dem Autor zuzustimmen. Schiller geht es um das Erkennen der Ähnlichkeit zwischen Menschen und Tieren, welche in der Leidensfähigkeit bestehe. Aus dieser Verwandtschaft erwachse eine moralische Verpflichtung den Tieren gegenüber. Schiller kritisiert Positionen, wie sie in der Tierrechtsbewegung verbreitet sind, die den Unterschied zwischen Menschen und Tieren leugnen und Tieren den Status von Personen andienen möchten. Auch so verpasse man die Besonderheit der Natur und die Grundlage der moralischen Verpflichtung, welche an das Vernunftvermögen der Menschen gebunden ist. Gleichwohl ist anzumerken, dass die Argumentation, über „Ähnlichkeit“ eine moralische Verpflichtung zu begründen, auf Probleme stößt. Schiller bezieht seine Argumentation nur auf Tiere. Es drängt sich sogleich die Frage auf, was mit den Pflanzen und Pilzen ist. Wäre hier von einer indirekten Verpflichtung zu sprechen, weil sie die Lebensgrundlage für Tiere und Menschen darstellen? Was ist mit Tieren, deren Ähnlichkeit zu den Menschen kaum erkennbar ist? Wie ist es mit Insekten? – Diese und weitere Fragen stellen sich, wodurch das Anliegen des Autors keineswegs insgesamt infrage gestellt werden soll. Der Kardinalfehler des neuzeitlichen Naturbegriffs, welcher die Grundlage bildet für den schrankenlosen kapitalistischen Zugriff auf die Natur (die Tiere und die Pflanzen), ist, dass der Natur jeglicher immanenter Zweck abgesprochen wird. Dadurch „wird der Weg für eine Praxis frei, in der Natur Zwecke zu verfolgen, die ihr prinzipiell äußerlich sind“. (S. 345) Doch nicht nur sind die Zwecke der Natur äußerlich – sie stehen in einem Gegensatz zu den besonderen natürlichen Zusammenhängen und wirken deshalb in der o.g. Art und Weise gewaltsam und zerstörerisch.

Dem verselbständigten Allgemeinen gilt Schillers Kritik. Damit schließt der Autor an die ‚traditionelle kritische Theorie‘ um Horkheimer und Adorno an. Zentral ist das Verhältnis kritischer Theorie zur Philosophie, genauer zur Hegel’schen Philosophie. Schiller präzisiert gleich eingangs, dass es ihm (und kritischer Theorie insgesamt) um einen nichtmetaphysischen Begriff objektiver Vernunft gehe. Damit grenze sich kritische Theorie notwendig von Hegel ab. Zu verweisen ist in diesem Kontext auf das Buch „Hegels objektive Vernunft. Kritik der Versöhnung“, in welchem Schiller dem Verhältnis zu Hegel nachgeht. Das verselbständigte Allgemeine ist mit Marx zu bestimmen als ein Herrschaftsverhältnis, als Wert, der sich als „übergreifende[s] Subjekt“ des gesellschaftlichen Produktionsprozesses setzt und dem es einzig um seine „Selbstverwertung“ zu tun ist. (vgl. Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, MEW 23, S. 169) – So kann zunächst irritieren, dass Schiller im Untertitel seines Buches Wert in eine Reihe setzt mit Technik, Staat und Sprache (im ‚Klappentext‘: „Markt und Nationalstaat, Technik und öffentliche[r] Sprachgebrauch“), sind doch – mit Marx – Technik und Staat nur auf der Grundlage des Wertbegriffs in ihrer Funktion für die bürgerliche Gesellschaft zu verstehen. Sprache scheint nun gar auf einer anderen Ebene angesiedelt zu sein. Im Buch aber klärt sich diese Irritation auf: Die Verselbständigung des Allgemeinen in der bürgerlichen Gesellschaft wird auf der Basis der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie entfaltet, die Bedeutung der Technik in Bezug auf die Verwertung des Werts behandelt und so gezeigt, dass die Grundlage der Verkehrung im Kapitalverhältnis liegt. Bezogen auf die emanzipatorische Funktion der Sprache grenzt Schiller seine Herangehensweise grundsätzlich von an Habermas anschließenden kommunikationstheoretischen Verflachungen kritischer Theorie ab. Er argumentiert, „dass die im Zeichen der kommunikationstheoretischen Entkernung der kritischen Theorie konstruierte Alternative, ob Sprache oder Arbeit der Schlüsselbegriff in der Gesellschaftstheorie sein soll, nicht sinnvoll ist.“ (S. 19)

Wenngleich Schiller die Marx’sche Theorie ins Zentrum seiner Untersuchungen stellt, spart er Kritik an derselbigen nicht aus, sondern zeigt, dass vom jeweiligen historischen Standpunkt aus Theorie aufzunehmen und weiterzudenken ist. Insbesondere die Hoffnung auf die „Aneignung der Produktivkräfte“ scheint Schiller heute eine „bloße Utopie“ (S. 19) zu sein, welche „längst nicht mehr auf der Tagesordnung [stehe; S.H.] [,] und obwohl man in der Geschichte mit einem ‚Niemals‘ vorsichtig sein sollte, wäre es realitätsblind und verantwortungslos, von einer realen Möglichkeit [zu; S.H.] sprechen.“ (S. 18) „Sie [die Aneignung der Produktivkräfte durch die Arbeiter; S.H.] ist aber untrennbar verbunden mit der marxschen Analyse und die einzige Möglichkeit, die Produktivkraftentwicklung in eine andere, weniger destruktive Richtung zu lenken.“ (S. 19) Schiller sieht in der Sprache eine Möglichkeit der permanenten Aneignung. „Das Konzept muss nicht und sollte nicht auf materielle Produktivkräfte eingeschränkt werden.“ (ebd.) – Hier und auch wo Schiller die Frage nach der Vernünftigkeit industrialisierter Landwirtschaft aufwirft (S. 169), scheint aber eine Verteidigung Marxens mit Adorno angebracht. Wie Marx sah auch Adorno das Potenzial zur Befreiung in den Produktivkräften, und zwar ganz materiell darin: „daß der Stand der Produktivkräfte heute es erlauben würde, den Mangel in der Welt prinzipiell zu beseitigen.“ (Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt a.M. 2006, S. 251) Dass heute fast ein Zehntel der Weltbevölkerung Hunger leidet, gründet aber in der kapitalistischen Organisation der Lebensmittelproduktion. Diese baut auf industrialisierter Landwirtschaft auf, welche gerade nicht dazu führt und nicht dem Zweck dient, die Menschen mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln zu versorgen, sondern systematisch ‚unnötigen‘ Mangel erzeugt. Wenn aber die industrialisierte Landwirtschaft gerade das Elend erzeugt, dann ist sie offenbar nicht die Lösung des von ihr erzeugten Problems. Das Problem der Ernährung der Weltbevölkerung wie auch die ökologische Krise sind nicht durch mehr industrieller Landwirtschaft zu lösen. Die Lösung dieser Menschheitsprobleme setzte voraus, dass die vorhandenen Produktivkräfte nicht mehr dem Zweck der Wertverwertung subsumiert werden, sondern für vernünftige Zwecke, auf welche Vernunft im Sinne Horkheimers zu reflektieren hat, eingesetzt werden. Insofern bleibt es dabei, dass die Produktivkräfte angeeignet und vernünftigen Zwecken dienstbar gemacht werden müssen.

Fazit

Schiller stellt in diesem Band ausgehend von der kritischen Theorie und von der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie soziale Formen der Wirklichkeit objektiver Vernunft dar, indem er zugleich die verselbständigte Allgemeinheit kritisiert. Dabei wird das Verhältnis kritischer Theorie zur traditionellen Philosophie befragt und insbesondere die Bedeutung der Aristotelischen Philosophie für Marx in origineller Weise herausgearbeitet. Kern der versammelten Studien ist eine an Horkheimer anschließende Kritik verselbständigter subjektiver Vernunft, die auf das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur und die daraus resultierende ökologische Krise zu beziehen ist.

Rezension von
Sabine Hollewedde
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Es gibt 21 Rezensionen von Sabine Hollewedde.

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Zitiervorschlag
Sabine Hollewedde. Rezension vom 18.08.2023 zu: Hans-Ernst Schiller: Die Wirklichkeit des Allgemeinen. Soziale Formen objektiver Vernunft: Wert, Technik, Staat und Sprache. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2023. ISBN 978-3-89691-087-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30807.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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