Sonja K. A. Ritter: Das Kind im Umgangsverfahren
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 07.06.2023
Sonja K. A. Ritter: Das Kind im Umgangsverfahren. Kindeswohl und Kindeswille als Maßstab des familiengerichtlichen Umgangsverfahrens.
edition sigma im Nomos-Verlag
(Baden-Baden) 2023.
429 Seiten.
ISBN 978-3-7560-0454-6.
89,00 EUR.
Reihe: Interdisziplinäre Studien zu Mediation und Konfliktmanagement - Band 8.
Thema
Das Kindeswohl ist zentraler Maßstab im Umgangsverfahren und deshalb handlungsleitend für das Familiengericht. Gleichwohl findet sich keine umgangsspezifische Definition des Kindeswohls; das Verhältnis von Kindeswohl und Kindeswille zueinander ist ebenfalls ungeklärt. An diesen Missstand knüpft die Autorin an und entwickelt – ausgehend vom Verfassungsrecht, welches das Familienrecht durchdringt, und relevante völkerrechtliche/​europäische Rechtsquellen einbeziehend – eine eigene Definition des Kindeswohls im Umgangsverfahren. Darauf aufbauend werden die legislatorisch verankerten Rollen und Handlungsbefugnisse der professionellen Verfahrensbeteiligten mit dem Ziel untersucht, die kindeswohldienliche Lösung des Umgangskonflikts zu optimieren. Legislatorische und rechtspraktische Verbesserungspotenziale werden ausgelotet und daraus konkrete Handlungsvorschläge abgeleitet.
AutorIn oder HerausgeberIn
Sonja K. A. Ritter ist Juristin und viele Jahre für den Kinderschutzbund ehrenamtlich aktiv – sowohl als Vorstandsmitglied im Ortsverband Mannheim sowie auch als Umgangsbegleiterin.
Entstehungshintergrund
Bei diesem Titel handelt es sich um die Dissertation der Autorin, die im Sommersemester 2022 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder eingereicht wurde. Im Nomos Verlag gliedert sich das Buch als Ausgabe 8 in die Interdisziplinären Studien zu Mediation und Konfliktmanagement ein.
Aufbau
Dieser Titel gliedert sich in zwölf Abschnitte und entspricht dabei dem gängigen Format einer Dissertation. Dazu kommen ein Abkürzungsverzeichnis, das Vorwort sowie das Literaturverzeichnis. Der Gesamtumfang beträgt rund 420 Seiten.
Inhalt
Nach der Einleitung beleuchtet die Autorin zunächst die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Arbeit und beschreibt die Rechtsposition des Kindes im Spannungsfeld zu Elternrechten und staatlichen Wächteramt gemäß dem Grundgesetz. Danach werden völkerrechtliche und europäische Rechtsquellen und ihre Bedeutung für das familienrechtliche Umgangsverfahren sowie der Begriff des Kindeswohls als omnipräsenter Bewertungsmaßstab im familienrechtlichen Umgangsverfahren untersucht. Es folgen die Darstellung des verfahrensrechtlichen Handlungsrahmen sowie der materiellrechtliche Handlungsrahmen des Familiengerichts. Die Zusammenarbeit des Familiengerichts mit dem Jugendamt sowie die Beteiligung von Verfahrensbeistand und Sachverständigen bilden die Praxis im Umgangsverfahren ab, bevor anhand verschiedener Beispiele aus den Bundesländern gerichtliche Kooperationsmodelle vorgestellt werden und die Möglichkeit der Einbindung von Mediation im familiengerichtlichen Umgangsverfahren. Abschließend werden die Ergebnisse der Dissertation präsentiert.
An dieser Stelle sollen nun zwei Teilbereiche aus den vorgestellten Kapiteln näher erläutert werden, damit sich potenzielle Leser*innen einen ersten Eindruck von den Inhalten machen können. Zunächst soll das Kapitel zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt vorgestellt werden, das sich zu Beginn mit der Struktur des Jugendamtes als Teil der Kommunalverwaltung beschäftigt, um die entsprechenden Grundlagen einzuführen. Danach erfolgt die Betrachtung der Rolle des Jugendamtes im Wandel der Zeit – vom Eingreifer zum Unterstützer. Hierbei markiert die Autorin die Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1991 als grundlegender Meilenstein – ein Paradigmenwechsel, der die Jugendämter dazu verpflichtete, „an den individuellen Bedürfnissen ausgerichtete Hilfen anzubieten“, was „zu einer stärkeren Orientierung an der Lebenssituation jedes Einzelnen in der Jugendhilfe geführt hat“ (S. 254). Thematisiert wird auch das Dilemma zwischen Hilfe und Kontrolle, das sich auch beim Thema Umgang widerspiegelt: „Die Mitarbeitenden (…) müssen helfend und unterstützend tätig sein, aber gleichzeitig auch ihre aus dem staatlichen Wächteramt hergeleitete kontrollierend-repressive Rolle wahrnehmen“ (S. 254). Um das zu verdeutlichen, erfolgt eine Darstellung des Beratungsprozesses des Jugendamtes, den das SGB VIII bei Umgangsfragestellungen definiert. Aber welche Rolle genau hat das Jugendamt nun im familiengerichtlichen Umgangsverfahren? Ritter stellt der Beantwortung dieser Frage zuvorderst heraus, dass Jugendamt und Familiengericht „als institutionelle Akteure und Inhaber des staatlichen Wächteramtes agieren“ (S. 266), was dazu führt, dass „zum Schutz des Kindeswohls notwendig [ist], dass dem Familiengericht und dem Jugendamt die Aufgaben, Arbeitsweise und Philosophie des jeweils anderen bekannt sind“ (S. 267). Im Folgenden wird die Beteiligungspflicht des Jugendamtes in Umgangsverfahren beschrieben, das dazu führt, dass das Jugendamt gegen Entscheidungen des erstinstanzlichen Familiengericht Beschwerde einlegen kann. Es folgt ein für die Praxis sehr interessantes Thema, nämlich die Kostentragung und Anordnungskompetenz für die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Dass die Kostentragung beim Jugendamt liegt, ist durch das Prinzip der Vollzugskausalität geregelt, dass „die Kostenlast nicht der für die Gesetzgebung zuständigen Ebene (beim SGB VIII also dem Bund), sondern der für die Ausführung zuständigen Ebene auferlegt“ (S. 272 f.). Für die Praxis aber noch relevanter ist die Tatsache, dass das Familiengericht den Eltern auferlegen kann, bestimmte Jugendhilfemaßnahmen durchzuführen – und zwar nur den Eltern: „[E]ine Anordnungskompetenz des Familiengerichts [besteht] nicht gegenüber dem Jugendamt“, was dazu führt, „dass die angeordneten Maßnahmen ohne die Bereitschaft des Jugendamtes, diese auch durchzuführen, faktisch ins Leere laufen“ (S. 273).
Als zweites Kapitel näher betrachtet werden soll Der Sachverständige im Umgangsverfahren. Hier stellt die Autorin an erster Stelle die Qualifikationserfordernisse vor, die „als hoch einzustufen“ (S. 318) sind: „Ein familienpsycholgischer Sachverständiger soll sich ferner nicht nur durch ein einschlägiges Psychologiestudium und ggf. [sic!] Qualifikationen wie eine Dissertation oder Habilitation, sondern auch eine rechtspsychologische Weiterbildung und praktische Erfahrungen auf diesem Gebiet auszeichnen“ (S. 318). Auch die Anforderungen an ein Gutachten werden diskutiert. Hier zitiert die Autorin Ergebnisse einer mit Richtern besetzten Arbeitsgruppe am Oberlandesgericht Celle, die Empfehlungen für Fragestellungen von Gutachten in Umgangsverfahren erarbeitet hat:
- „Hat das Kind eine positive Beziehung zum Umgang begehrenden Elternteil? Wie ist die Qualität der Beziehungen zu beiden Elternteilen einzuschätzen? (…)
- Gibt es Hinweise auf belastendes Verhalten eines Elternteils, das sich auf die Einstellung des Kindes zum Umgang auswirkt? (…)“ (S. 320).
Auch die Art und Weise, wie eine Mitwirkung des Kindes und der Eltern an einem Gutachten aussehen soll, wird in diesem Kapitel näher erläutert. Hierbei wird klargestellt, dass ein Elternteil das Recht hat, die Exploration zu verweigern, was keine negativen Auswirkungen haben darf. Abschließend diskutiert die Autorin den Schlichtungsauftrag des Sachverständigen, der in der Regel mit der Gutachtenerstellung einher geht.
Diskussion
Dem Titel ist anzumerken, dass die Autorin viel Engagement in das Thema investiert hat und deshalb sehr akribisch gearbeitet hat. Diese Dissertation dürfte ein Herzensprojekt gewesen sein. Die klare inhaltliche Strukturierung ermöglicht es Leser*innen problemlos, einfach die Teile zu lesen, für die sie sich interessieren. Das ist ein großes Plus dieses Buches, das sicherlich eher weniger für die breite Masse der Sozialarbeiter*innen gedacht ist, sondern sich vor allem an Jurist*innen und Fachkräfte der Sozialen Arbeit mit einer hohen Affinität zu rechtlichen Grundlagen wenden. Spannend ist die Tatsache, dass es den Leser*innen ermöglicht wird, auch über den eigenen fachlichen Tellerrand hinaus zu blicken, was durch das Kapitel über die Rolle des Verfahrensbeistandes als Anwalt des Kindes und die Rechtsvertreter der Eltern eindrucksvoll gelingt. Wohltuend aufgefallen ist dem Rezensenten, dass dieser Titel trotz seines fachlich hohen Niveaus in einer verständlichen Sprache verfasst worden ist, was man beileibe nicht von allen Werken, die sich rechtlichen Aspekten der Sozialen Arbeit widmen, behaupten kann. Ganz abgesehen vom fachlichen Input zeigt diese Veröffentlichung noch etwas sehr Interessantes: Nämlich wie eine Dissertation als reine Literaturarbeit gut gelingen kann. Eine Tatsache, die der Juristerei der Sozialen Arbeit wohl weit voraus haben dürfte. Denn in der Sozialen Arbeit sind reine Literatur-Dissertationen sehr selten zu finden – und das bei einer ohnehin nicht sehr hohen Zahl an Dissertationen in diesem Fachbereich.
Fazit
89 Euro sind viel Geld – für diejenigen aber, die sich für juristische Feinheiten interessieren, ist es sicherlich gut angelegtes Geld, da sich auch für Personen außerhalb der Juristerei viele interessante Aspekte wiederfinden, die für das Tätigwerden in Umgangsverfahren von Bedeutung sein können.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Es gibt 111 Rezensionen von Wolfgang Schneider.
Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 07.06.2023 zu:
Sonja K. A. Ritter: Das Kind im Umgangsverfahren. Kindeswohl und Kindeswille als Maßstab des familiengerichtlichen Umgangsverfahrens. edition sigma im Nomos-Verlag
(Baden-Baden) 2023.
ISBN 978-3-7560-0454-6.
Reihe: Interdisziplinäre Studien zu Mediation und Konfliktmanagement - Band 8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30809.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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