Michael Sonntag: Bildung und Erziehung in der europäischen Psychogenese
Rezensiert von Prof. Dr. Mark Galliker, 05.06.2023
Michael Sonntag: Bildung und Erziehung in der europäischen Psychogenese.
Pabst Science Publishers
(Lengerich) 2022.
254 Seiten.
ISBN 978-3-95853-733-0.
D: 30,00 EUR,
A: 30,90 EUR.
Reihe: Die Psychogenese der Menschheit - Band 8.
Thema
Michael Sonntag thematisiert Änderungen in den Erziehungs- und Bildungsvorstellungen von der Antike bis in die frühe Moderne und verweist dabei auch auf parallele Abwandlungen der Mentalität. Es stellt sich die Frage, wie sich gesellschaftliche Hintergrundfaktoren auf die Veränderung des Bildungswesens und die Psychogenese auswirken.
Autor
Sonntags zentrale Untersuchungsgebiete sind die Historische Psychologie und der Zusammenhang mit der Politik-, Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Zu seinen Publikationen gehören u.a. „Die Seele als Politikum“ (1988), „Bandenführer und Triebtäter“ (2000) und „Die 'Quellen des Selbst' und der Mammutjäger“ (2017).
Entstehungshintergrund
Sonntag beabsichtigt nicht, einfach eine Ideengeschichte oder nur eine Problemgeschichte der Pädagogik zu schreiben. Der Autor möchte herausfinden, was sich die Zeitgenossen in den verschiedenen Epochen unter Bildung und Erziehung vorgestellt und wie sie dieselben in den Institutionen praktiziert haben.
Aufbau
Das Buch besteht neben einer wissenschaftskritischen Einleitung aus acht Kapiteln, die sich mit der Antike, dem Mittelalter, der frühen Neuzeit, dem Absolutismus, der bürgerlichen Gesellschaft, dem 19. Jahrhundert sowie der „Pädagogisierung des Lebens“ befassen. Außer dem letzten Kapitel enthält jedes Kapitel vier bis acht Unterkapitel.
Inhalt
Der Kürze halber kann hier nur ein Beispiel eines Kapitels herausgegriffen werden (Kapitel 6: Bürgerliche Gesellschaft: Selbstregulierung, S. 171–201). Die sechs Unterkapitel dieses Hauptkapitels, in dem der für die Gegenwart wichtige Übergang vom Absolutismus in die bürgerliche Gesellschaft beschrieben wird, werden im Folgenden inhaltlich kurz skizziert:
1. Eigennutz, Eigentum und Interesse
Nach dem Autor ergeben sich bereits im 15. und 16. Jahrhundert große Summen von Handelskapital, was auf ideeller Ebene zu einer positiven Einschätzung des bis anhin verpönten Eigennutzes, nicht zuletzt auch hinsichtlich des Gemeinnutzes führt. Anstelle der Dreiteilung in Klerus, Adel und Bauern tritt immer mehr das Anbieten und Nachfragen bei den Marktbeziehungen in den Vordergrund. Es wird davon ausgegangen, dass der bürgerliche Handel und die entsprechenden Verkehrsformen die Sitten verfeinern. Dem Erwerbsstreben werden erstmals auch moralische Qualitäten zugesprochen (vgl. Sonntag, 2022, S. 176).
2. Bürger-Bildung
Das Bürgertum setzt anstelle des ständischen Geburtsvorrechts das „Menschsein schlechthin“ in den Mittelpunkt und stattet es mit Grundrechten aus. Demnach sind im Prinzip sämtliche Menschen gleich. Humanität wird zum Kriterium, um den sozialen Status und die Verdienste einer Person abzuschätzen. Für einige Autoren (wie z.B. Christian Weise) ist das frühere religiöse Verdammungsurteil über die irdische Welt aufgehoben zugunsten weltzugewandter Aktivitäten, die weniger um das ewige Seelenheil als vielmehr um die Ertüchtigung im Hier und Jetzt kreisen. Zwar werden die Grundsätze der Moral nach wie vor der Religion entnommen, doch die Beurteilung menschlicher Handlungen erfolgt im Zusammenhang mit dem diesseitigen Leben und dessen gesellschaftlichen Maßstäben
3. „Literarische Öffentlichkeit“ als bürgerliche Besserungsanstalt
Ab 1763 erschien der „Patriot“, gelesen v.a. vom Handels- und Bildungspublikum in den wichtigen Handelsstädten. Auch erschienen die ersten Romane im modernen Sinne (z.B. „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe) sowie die ersten Bücher mit pädagogischem Inhalt (u.a. „Lienhard und Gertrud“ von Johann Heinrich Pestalozzi). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden „Geheimgesellschaften“ und „literarische Gesellschaften“. Gegenstand vieler Gesellschaften war die Gemeinnützigkeit, wobei das „gemeine Wohl“ nun von den Staatsgeschäften der großen Politik getrennt wurde. Der „Nutzen für alle“ wird stellenweise bereits in einem instrumentellen Sinne verstanden. Bildung soll zur Verbesserung der sozialen Lage der Menschen eingesetzt werden. Ernst Christian Trapp wird Inhaber der ersten Professur für Philosophie und Pädagogik in Halle (1779-1783). In seinem „Versuch einer Pädagogik“ (1780) schreibt er: „Man muß die menschliche Natur erst kennen, ehe man den Menschen erziehen kann“ (vgl. S. 187).
4. Die „Natur“, der „nackte Mensch“ und die neuen Lebensformen
Wenn gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Konzept der „Natur des Menschen“ immer häufiger genutzt wurde, war damit meistens der gutsituierte männliche Bürger Europas gemeint. An dessen Maßstab wurde zu einer Zeit, in welcher der englische Sklavenhandel seinen Höhepunkt erreichte, die Menschheit bemessen – mit dem Hintergedanken, die Überlegenheit der eigenen Kultur zu bekräftigen. Doch Rousseau entwarf ein Gegenbild des Menschen, in dem der „degenerierten Kultur“ die „gute Natur“ anderer Völker gegenübergestellt und der „Rückzug auf die Natur“ postuliert wurde. „(Die Natur) wird zum Kernbegriff der moralisch-empfindsamen Gefühlswelt des Bürgers, zum Ausgangspunkt der Kritik an der herrschenden Adelskultur […] und zum Zentrum allen pädagogischen Bemühens“ (S. 189).
5. Die Aristokratie der Talente
Die damals in Deutschland an bestimmten Orten praktizierte Fürstenkritik reduzierte sich auf die Forderung eines „guten Herrschers“ und setzte dabei ebenfalls auf Bildung. „Dieser Anspruch unterstellt den Herrscher dem Maßstab der bürgerlichen Gesellschaft, lässt ihn aber als solchen unangetastet“ (S. 194). Zwar gibt es nach der Französischen Revolution die Volksgesellschaften, die deutsche Form der Jakobinerclubs, doch vermochten sie nur während kurzer Zeit ihre Forderungen nach Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger zu erheben. Während in England die neue „Subjektivität“ Ausdruck der Emanzipation der Marktgesellschaft vom Staat war, blieb sie in Deutschland eher die Reaktion auf die weitere Vorenthaltung politischer Rechte; allerdings letztlich nur für die bessergestellten Bürger. „Der Anspruch auf Überschreitung der Standesgrenzen hat nahezu ausschließlich die Schranken adliger Vorrechte im Auge; die unterbürgerlichen Schichten dagegen werden mehr oder weniger rigoros auf ihren angestammten Platz verwiesen“ (S. 193).
6. Gesellschaftliche Selbstregulierung
Die Geschichte wird als Ensemble und Folge menschlichen Handelns aufgefasst und nicht mehr als Realisierung eines göttlichen Plans. Institutionen verkörpern menschliche Interessen und Motive und nicht mehr die Gebote Gottes. Zumindest die Vertreter der politischen Ökonomie (u.a. Adam Smith) gingen inzwischen von etwas aus, das stärker geworden war als Recht und Gesetz: die eigenständigen Mechanismen des Marktes. Demnach reguliert sich die Marktgesellschaft selbst, basierend auf dem Warentausch sowie dem Konkurrenzverhalten zwischen den Betrieben und den einzelnen Menschen. „Neue Ökonomie und neue Psychologie sind aufs engste miteinander verflochten“ (S. 199). Beide Bereiche werden – man könnte einfügen: verdinglichend – als „reine Natur“ angesehen, mit all ihren ideologischen Folgen: „Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf ist das Pendant zum Kampf der Arten ums Überleben in freier Wildbahn“ (S. 200).
Diskussion
Der Autor betrachtet die Geschichte von Bildung und Erziehung nicht nur als Problemgeschichte oder gar ausschließlich als Ideengeschichte, sondern in Abhängigkeit von politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen. Im sechsten Kapitel wird diese anspruchsvolle Vorgehensweise realisiert. Für den weitergehenden Anspruch, auch das tatsächliche Vorgehen von Lehrer_innen und Erzieher-innen in den Institutionen sowie die Sozialisation und die soziale Integration junger Menschen zu berücksichtigen (vgl. u.a. S. 35), scheint dies weniger zuzutreffen. Das wäre auch viel schwieriger gewesen, liegen doch die hierzu notwendigen Quellen kaum vor. Sonntag muss sich im behandelten Kapitel meistens auf – mit Vorteil – frühere (Re-)Konstruktionen von Autoren (u.a. Philosophen und Pädagogen, Vertreter der politischen Ökonomie) beschränken. Wieviel davon auch im Volk, von den Eltern gegenüber den Kindern, realisiert wurde, ist eine nicht ohne Weiteres beantwortbare Frage. Hinsichtlich des relativ quellenreichen 19. und 20. Jahrhunderts hat sich u.a. Alice Miller (1980/1990) mit den z.T. nicht bewussten Auswirkungen der Pädagogik von einer Generation zur nächsten eingehend beschäftigt.
Fazit
In Sonntags ebenso reichhaltigem wie aufschlussreichem Werk werden Bildung und Erziehung nicht für sich selbst betrachtet, sondern in ihrer Abhängigkeit von ihren politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen. Das Werk ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer geschichtswissenschaftlicher Psychologie oder eben auch Pädagogik im Sinne der Sozialgeschichte im Unterschied zur bloßen Individualgeschte, Ideengeschichte oder Problemgeschichte (vgl. Lück 1991/2009).
Literatur
Lück, H. E. (1991/2009). Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen und Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer.
Miller, A. (1980/1990). Am Anfang war Erziehung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Sonntag, 2022
Rezension von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
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Zitiervorschlag
Mark Galliker. Rezension vom 05.06.2023 zu:
Michael Sonntag: Bildung und Erziehung in der europäischen Psychogenese. Pabst Science Publishers
(Lengerich) 2022.
ISBN 978-3-95853-733-0.
Reihe: Die Psychogenese der Menschheit - Band 8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30814.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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