Michael Gehler, Ibolya Murber: Von der Volksrepublik zum Volksaufstand in Ungarn 1949–1957
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.05.2023

Michael Gehler, Ibolya Murber: Von der Volksrepublik zum Volksaufstand in Ungarn 1949–1957. Quellenedition zur Krisengeschichte einer kommunistischen Diktatur aus Sicht der Ballhausplatz-Diplomatie.
Studienverlag
(Innsbruck, Wien, München, Bozen) 2023.
930 Seiten.
ISBN 978-3-7065-6273-7.
Reihe: Österreichisches Staatsarchiv: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs - 62 (2023).
Thema
Nachbarn können Beobachter, Begleiter, Bedenker, Beeinflusser, Behüter, Beschützer, Berater, Besucher, Beirrer und Befreier sein.
Mit dem mit den Alliierten am 15. Mai 1955 abgeschlossenen „Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“ erhielt unser Nachbarland die volle, völkerrechtlich anerkannte staatliche Souveränität. Österreich verpflichtete sich zudem in einem Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955, zu einer „immerwährenden Neutralität“. Das hatte zur Folge, dass die österreichische Regierung sich bemühte, sowohl zu den (demokratischen) West-, wie zu den (kommunistischen) Ostmächten gedeihliche politische, ökonomische und kulturelle Beziehungen zu unterhalten.
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Die Kontakte zum Nachbarland Ungarn gestalteten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seit 1945 ambivalent. Einerseits gab es zahlreiche Verbindungen, Beziehungen, aber auch Irritationen und Abgrenzungen aufgrund der österreichisch-ungarischen Geschichte; andererseits entwickelte sich Österreich beim Ost-West-Konflikt und Kalten Krieg zu einem Ort des diplomatischen Austauschs – bis hin zu einem lebhaften Spionage-Betätigungsfeld (siehe z.B. den vom britischen Regisseur Carol Reed 1949 gedrehten SW-Film „The Third Man“). In den sowjetisch-kommunistisch dominierten und indoktrinierten „Bruder“-Ländern entstanden ab Mitte der 1950er Jahre geheime Unzufriedenheits- und Widerstandsbewegungen gegen das Regime (Hannes Lachmann, Die „Ungarische Revolution“ und der „Prager Frühling“, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/23837.php). Am 23. Oktober 1956 gingen ungarische StudentInnen in Budapest auf die Straße und forderten den Rücktritt der kommunistischen Regierung. Der Protest entwickelte sich zu einem Volksaufstand im ganzen Land. Wenige Tage später haben Truppen und Panzer aus Russland und den Ostblockstaaten die Rebellion gewaltsam und blutig niedergeschlagen. Der drohenden Verhaftung entzogen sich rund 200.000 Ungarn durch die Flucht in die westlichen Nachbarländer, vor allem nach Österreich. In den Aufnahmestellen und in den folgenden Integrationsprozessen entstanden Berichte über die persönlichen und gesellschaftspolitischen Lebensbedingungen der Ungarn. So entwickelte sich vor allem in Österreich eine reiche Fundgrube von Dokumenten und Quellenmaterialien für die Zeit vor, während des Aufstandes und danach.
Der Zeitgeschichtler vom Institut für Geschichte von der Universität Hildesheim, seit 2021 auch an die Andrássy Universität in Budapest berufene Michael Gehler und die Historikerin Ibolya Murber von der Eötvös Loránd University in Budapest legen in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Staatsarchiv in Wien eine erstmalige Quellenedition von Dokumenten zur Krisengeschichte einer kommunistischen Diktatur vor. Die 340 ausgewählten Quellenmaterialien zur ungarischen (diplomatischen und politischen) Geschichte von 1949 bis 1957 stammen zum größten Teil aus der Republik Österreich und seinen diplomatischen Vertretungen außerhalb des Landes, z.B. aus Belgrad, Moskau, Prag, Warschau, Washington oder New York von den Vereinten Nationen. Dadurch gelingt es, die politische Entwicklung jener Zeit mit einer umfassenderen Betrachtung der Ereignisse für die ungarische Bevölkerung zu verbinden.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung zur dokumentarischen Arbeit erläutert das Autorenteam die editorischen Grundlagen, die Kriterien bei der Auswahl der Quellenmaterialien, sowie die Handhabe bei der Transkription der Dokumente. In einer Kurzgeschichte werden die gesellschaftlichen und staatlichen, personellen und institutionellen Entwicklungen in Österreich und Ungarn benannt sowie Begründungen geliefert, wie es zur kommunistischen Herrschaft in Ungarn kam, welche Bedeutung in der gesellschaftlichen Entwicklung Akteure, Agenten, Administration, Allianzen, Agitatoren und Apparate hatten. Die dezidierte Schilderung der ungarischen revolutionären Aufstandsereignisse, der Nachweis der Namen und der Programme verdeutlicht, in welchem Dilemma sich die österreichische Regierung befand: Verurteilung des militärischen (Panzer-)Einsatzes durch die Ostblockstaaten bei gleichzeitiger Wahrung des verfassungsmäßigen Status der Neutralität.
Im Dokumententeil (I) werden 331 Quellenmaterialien abgedruckt, beginnend mit der vom österreichischen Gesandten weitergeleiteten Note des Vatikanischen Staatssekretärs (4. 1. 1949) aufgrund der Verhaftung des ungarischen Kardinals Mindszenty, an den österreichischen Außenminister. Dieser Gewaltakt der ungarischen Regierung hat weltweite Empörungen und Proteste hervorgerufen. Die Anklage wegen Hochverrats begründete das Regime mit dem Widerstand der katholischen Kirche gegen die eingeleiteten staatlichen Reformen, wie z.B. die Landreform mit der Enteignung von Agrarland und Produktion. Diese auf den Predigtstühlen und den Medienorganen der Kirche ausgedrückte Kritik wuchs zu einer Gefahr für die kommunistische Regierung heran. Mit der Anklage gegen den Kirchenfürsten sowie die Kleriker und Gläubigen in den katholischen Gemeinden wollte das ungarische Regime ein Zeichen setzen. Der Vatikan forderte die ungarische Regierung u.a. auf, dafür zu sorgen, „dass überall die Rechte der Kirche und der Gewissen, sohin nicht nur die Freiheit des Kultus, sondern auch die Freiheit der Predigt, der Propaganda, die Freiheit für alle katholischen Institutionen und im besonderen für die christliche Erziehung der Jugend respektiert werden“. In der Note des Heiligen Stuhls wurde auch vor Bemühungen gewarnt, gegen die „eine, heilige katholische Kirche“ in Ungarn eine Art „Nationalkirche“ mit willfährigem und angepasstem Klerus einzurichten. Mit dem Bericht (331) informiert der österreichische Gesandte in Ungarn über Äußerungen des stellvertretenden, ungarischen Außenministers (Sebes) bei einer Parlamentsdebatte (23. 12. 1957) zu den aktuellen ungarisch-österreichischen Beziehungen: Walther Peinsipp thematisiert dabei seine Einschätzung, dass die ungarische Regierung eine „Normalisierung“ und „Entspannung“ bei den schwierigen, kontroversen und bipolaren Beziehungen der beiden Länder anstrebt.
Im Teil (II) werden die Dokumente 332 – 340 abgedruckt mit dem Tenor: „Das Ende einer Tragödie“, der Analyse des österreichischen Vertreters in Budapest über den Rücktritt des ungarischen Regierungschefs Kádár und Vermutungen darüber, wie die bipolaren Kontakte zwischen den beiden Ländern mit seinem Nachfolger (Münnich) gestaltet würden: „Ein Verhandeln und ein Begegnen mit ihm wird einerseits leichter sein, da er der Intellektuellere, wenn auch nicht Charaktervollere als sein Vorgänger ist, weil er einen größeren Horizont besitzt als sein engstirniger Vorgänger, der nie in der Lage war, über den Schatten des Parteilokales hinauszusehen und da er nicht in dem Ausmaß Gegenstand des Hasses und der Verachtung der öffentlichen Meinung des Westens ist“. Andererseits gibt der Gesandte zu bedenken: Auch er „ist gezwungen, seine Herrschaft mit denselben Stützen zu halten, auf denen sein Vorgänger sie aufgebaut hat: Polizei, Staatsgewalt und Gericht“. Mit dem letzten, zeitlich gegliederten Dokument (340) vom 4. 7. 1958 übermittelt der österreichische Botschafter in Jugoslawien (Walter Wodak) an das Wiener Außenamt die jugoslawische Protestnote gegen die Hinrichtung von Imre Nagy und Genossen.
Diskussion
Die in der Quellenedition zur Krisengeschichte einer kommunistischen Diktatur übermittelten Dokumente zum Volksaufstand in Ungarn stellen eine bemerkenswerte Sammlung von Texten dar. Die aus der österreichischen „Ballhausplatz-Diplomatie“ stammenden, systematisch ausgewählten Materialien vermitteln ein differenziertes Bild über die nationale, bipolare und internationale Korrespondenz zum Vorgang. Die österreichischen Vertretungen in Ungarn, Polen, Jugoslawien, Italien, Frankreich und der UdSSR kommunizierten und berichteten dem österreichischen Bundeskanzleramt/Auswärtige Angelegenheiten über die revolutionären Aktivitäten und Vorfälle. Interessant und durchaus überraschend ist, wenn das Autorenteam feststellt, dass in der jüngeren ungarischen Historiographie die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv bearbeitet wird – im Gegensatz zu den eher spärlichen und lückenhaften Forschungen in den westlichen Staaten.
Die 32seitige Bibliographie verweist auf den Literaturbestand zum Thema. Das Abkürzungsverzeichnis, das Orts-und Länderregister, das Sach- und Personenregister erleichtern die Benutzung der Quellenedition als Handbuch und Verweis auf weiteres Forschungsbemühen.
Fazit
Es sind die Akten der österreichischen Gesandtschaft in Budapest und zahlreiche weitere diplomatische und administrative Berichte und Analysen, die es ermöglichen, Blicke hinter die offiziellen und offiziösen sowie historischen Diktionen zu richten. Die umfangreiche Forschungsarbeit kann als Handbuch Verwendung finden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.05.2023 zu:
Michael Gehler, Ibolya Murber: Von der Volksrepublik zum Volksaufstand in Ungarn 1949–1957. Quellenedition zur Krisengeschichte einer kommunistischen Diktatur aus Sicht der Ballhausplatz-Diplomatie. Studienverlag
(Innsbruck, Wien, München, Bozen) 2023.
ISBN 978-3-7065-6273-7.
Reihe: Österreichisches Staatsarchiv: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs - 62 (2023).
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30816.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
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