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Aysun Doğmuş: Professionalisierung in Migrationsverhältnissen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Esther van Lück, 05.09.2023

Cover Aysun Doğmuş: Professionalisierung in Migrationsverhältnissen ISBN 978-3-658-37720-5

Aysun Doğmuş: Professionalisierung in Migrationsverhältnissen. Eine rassismuskritische Perspektive auf das Referendariat angehender Lehrer*innen. Springer VS (Wiesbaden) 2022. 442 Seiten. ISBN 978-3-658-37720-5. D: 65,41 EUR, A: 71,95 EUR, CH: 77,50 sFr.
Reihe: Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Research.

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Thema

Bisher sind kaum Studien vorhanden, die Professionalisierungsforschung und Rassismusanalyse für die Analyse des Referendariats, als vulnerable Phase der Lehrer*innenausbildung, zusammenführen. Hier setzt die Dissertationsschrift von Aysun Doğmuş an: Sie untersucht aus einer rassismuskritischen Forschungsperspektive die Professionalisierung angehender Lehrkräfte und wie migrationsgesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in diese eingelassen sind. Ausgehend von einem Verständnis des Referendariats als „migrationsgesellschaftlich relevanter und potentiell rassifizierender Professionalisierungsrahmen“ (S. 6) analysiert sie, wie Migrationsverhältnisse im Kontext der pädagogischen Handlungspraxis interpretiert und rassifizierende Positionszuweisungen von Referendarinnen (re-)produziert werden.

Autorin

Dr. Aysun Doğmuş ist Professorin für Lehren und Lernen in der Migrationsgesellschaft an der TU Berlin (Institut für Erziehungswissenschaft).

Inhalt

Seit Anfang der 1990er ist die Professionalisierung (angehender) Lehrer*innen Thema der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung. Ausgehend von der kritisch-reflexiven Migrations- und Rassismusforschung problematisiert Doğmuş jedoch eine verengte Perspektive auf ‚Kultur‘ und ‚interkulturelle Differenzen‘ und/oder ,Kompetenzen‘, die bis heute das empirische Feld der Lehrer*innenprofessionalisierung dominiert. Auch sind Studien, die das Referendariat als vulnerable Phase der Lehramtsausbildung fokussieren, bisher rar (siehe die umfangreichen Darstellungen im Forschungsstand, Kap. 2). Zentrales Desiderat und Ansatz der Dissertationsstudie ist demnach eine rassismuskritische Analyse der Professionalisierung von Referendar*innen im Kontext migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse.

Die theoretische Rahmung (Kap. 3) bilden Rassismus- und Professionalisierungstheorien, die in produktiver Weise mit Bourdieus Gesellschaftstheorie (vor allem in „Entwurf einer Theorie der Praxis“, 2009) zusammengeführt werden. Die zentralen analytischen Werkzeuge sind insbesondere die Konzeption des Habitus sowie die Konzepte der „symbolischen Gewalt“, der „symbolischen Kämpfe“ und der „autorisierten Sprecher*innen“ und der „Doxa“ die mit diskurstheoretischen Theoriebegriffen verknüpft werden (S. 74 ff.). Diese theoretisch-analytische Rahmung wird von Doğmuş grundlegend erarbeitet. Ausgehend von Bourdieus Hapituskonzept theoretisiert sie Rassismus zunächst als „symbolische Dimension sozialer Ungleichheit“ und betrachtet seine „habituelle Manifestation“ (S. 60 ff.). Anschließend wird die Lehrer*innenausbildung dargestellt und Professionalisierung als soziale Praxis konzeptioniert. Aufbauend auf diesen Auseinandersetzungen entwickelt Doğmuş in einer „methodologischen Synthese“ (S. 129) ein heuristisches Analysemodell zur Rekonstruktion der Professionalisierung in Migrationsverhältnissen. Methodische Grundlage ist die Dokumentarische Methode (Bohnsack et al. 2007), die durch Perspektiven der intersektionalen Mehrebenenanalyse (Winker/​Degele 2020) ergänzt wird. Die analytische Vorgehensweise ist kritisch-reflexiv angelegt und setzt sich mit forschungspraktischen (Re-)Produktionen von Differenz und ihren Effekten auseinander.

Das empirische Material besteht aus 17 narrativ-episodischen Interviews mit Referendar*innen sowie sechs Expert*inneninterviews mit Fachleiter*innen, d.h. den Ausbilder*innen (Kap. 4., Forschungspraxis). Im Zentrum ihrer Analyse stehen „handlungspraktische Orientierungen von Referendar*innen und die sich darin manifestierenden Diskursformationen und symbolischen Repräsentationen, denen Orientierungen von Fachleiter*innen und ihre Bezüge zu Diskursformationen und symbolischen Repräsentationen gegenübergestellt werden“ (S. 6).

Die Ergebnisdarstellung (Kap. 5) gliedert sich in drei Abschnitte. In der Betrachtung der „Mitgliedschaftspraxis“ (5.1.) wird beschrieben, auf welche Weise die Professionszugehörigkeit im Referendariat hergestellt oder abgelehnt wird. Dies zeigt sich anhand von drei verdichteten Habitusformen: (1) die affirmativ-fraglose Zugehörigkeitsarbeit, (2) die affirmativ-ambivalente Zugehörigkeitsarbeit und (3) die affirmativ-prekäre Zugehörigkeitsarbeit. Migrationsrelevante Ordnungen sind insbesondere für die dritte Habitusform relevant. Sobald Referendar*innen als „Migrationsandere“ adressiert und damit ent- oder abgewertet werden können, wird ihre Zugehörigkeit besonders prekär (S. 220).

Im zweiten Abschnitt wird die „Modellierung des „guten Unterrichts‘“ (5.2.) nachgezeichnet. Die symbolische Ordnung der Unterrichtspraxis ist demnach (1) „durch ein technologisch-funktionales Lernen und Vermitteln“ und (2) durch die „Autoritätssicherung im Lehrer*in-Schüler*innen-Verhältnis“ charakterisiert. Migrationsrelevante Aspekte zeigen sich beispielsweise darin, dass „ökonomisch schwache“ und/oder migrantische „schwierige Klassen“ konstruiert werden (S. 275) oder dass die „Vermittlung der ‚deutschen Leitkultur‘“ als Aufgabe der Schule betrachtet wird (S. 272). Es werden zudem (3) Identifikations- und Identitätsangebote betrachtet, die eine große Rolle in der Beziehungsgestaltung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen spielen. Die Ergebnisse dokumentieren den „Diskurs um passende, passend machbare oder unpassende Schüler*innen“ (S. 290).

Ausgehend von den bisherigen Ergebnissen stellt Doğmuş im dritten Abschnitt „Spielarten des Rassismus im Professionalisierungsprozess des Referendariats“ (5.3.) dar. Diese dokumentieren „das rassismusrelevante Wissen und demzufolge die sanfte Gewalt, mit der die objektive Realität im Ausbildungsfeld sinnstiftend, logisch-rational in symbolischen Grenzziehungen gegliedert werden kann“ (S. 306). Ein zentrales Muster ist die homogenisierende und essentialisierende Konstruktion von Schüler*innen, Eltern und Referendar*innen als defizitäre „radikal Andere“ (S. 299) („kulturell“ und/oder „religiös“, nicht-deutsch, nicht-deutschsprachig, familiär etc.) – im Gegensatz zum „ethnisierten Kultur-Deutsch“ (S. 305). Hieran wird aufgezeigt, wie (nicht)autorisierte Sprecher*innenpositionen im Referendariat geschaffen werden. Der konsequente Einbezug von Klassen- und Geschlechterverhältnissen in die rassismuskritische Analyse (z.B. S. 314 ff.) trägt zur intersektionalen Perspektive der Studie bei. Zudem werden Verdrängungen von Rassismus aber auch Subversionen und Widerstände thematisiert (S. 371 ff.).

Die Studie schließt mit der Konklusion (Kap. 6) der Ergebnisse, ordnet sie in den Forschungsstand ein und gibt Impulse für weitere Forschung.

Diskussion

Aysun Doğmuş gelingt mit ihrer über 400 Seiten starken Dissertationsschrift eine präzise Analyse der Ausbildungsphase angehender Lehrer*innen innerhalb rassismus- und migrationsrelevanter (intersektionaler) Machtverhältnisse. Die besonderen Stärken der Studie liegen erstens in der Modellierung einer reflexiven rassismuskritischen Forschungsperspektive sowie zweitens in der Herleitung und Zusammenführung von Rassismus- und Professionalisierungsforschung im Forschungsfeld Referendariat. Insgesamt leistet die Arbeit auf diese Weise einen wertvollen Beitrag sowohl zur (rassismus-)kritischen Migrationsforschung als auch zur Lehrer*innenbildungsforschung. Besonders hervorzuheben ist die große Relevanz der Studienergebnisse für die Praxis. Die Studie verdeutlicht eindrücklich, wie gewaltvolle rassismus- und migrationsrelevante Machtordnungen im Referendariat wirken. Dies zeigt sich anhand fortwährender natio-ethnokulturellen Zuschreibungen und rassistischen Diskriminierungen. Zudem wird deutlich, wie klassen-, leistungs- und migrationsrelevante Zuschreibungen und Deutungsmuster für die Herstellung eines „guten Unterrichts“ und „passender“ Schüler*innen – und somit auch der Konstruktion „leistungsschwacher“ und „störender“ Schüler*innen – fungieren. Diese Ergebnisse verdeutlichen einen dringenden Handlungsbedarf für eine rassismuskritische Gestaltung des Referendariats, in dem Machtverhältnisse reflektiert werden, und setzen damit wichtige Impulse für das Lehramt insgesamt.

Fazit

Die Dissertationsstudie „Professionalisierung in Migrationsverhältnissen. Eine rassismuskritische Perspektive auf das Referendariat angehender Lehrer*innen“ ist ein umfangreiches und äußerst relevantes Werk für Akteur*innen in den Forschungs- und Arbeitsfeldern (rassismus)kritische Migrationsforschung und Lehrer*innenbildung – eine Leseempfehlung für Wissenschaftler*innen als auch Praktiker*innen gleichermaßen.

Literaturangaben

Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I. & Nohl, M.-A. (2007) (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung.2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.

Bourdieu, P. (1985): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Winker, G. & Degele, N. (2010): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit. 2. Auflage. Bielefeld: Transcript.

Rezension von
Dipl.-Päd. Esther van Lück
Dipl.-Päd., wiss. Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Gender & Diversity Studies, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Es gibt 1 Rezension von Esther van Lück.

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Zitiervorschlag
Esther van Lück. Rezension vom 05.09.2023 zu: Aysun Doğmuş: Professionalisierung in Migrationsverhältnissen. Eine rassismuskritische Perspektive auf das Referendariat angehender Lehrer*innen. Springer VS (Wiesbaden) 2022. ISBN 978-3-658-37720-5. Reihe: Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Research. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30819.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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