Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Verena Breitbach, Hermann Brandenburg (Hrsg.): Corona und die Pflege

Rezensiert von Volker Fenchel, 11.07.2023

Cover Verena Breitbach, Hermann Brandenburg (Hrsg.): Corona und die Pflege ISBN 978-3-658-34044-5

Verena Breitbach, Hermann Brandenburg (Hrsg.): Corona und die Pflege. Denkanstöße - die Corona-Krise und danach. Springer International Publishing AG (Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2022. 314 Seiten. ISBN 978-3-658-34044-5. D: 65,41 EUR, A: 71,95 EUR, CH: 77,50 sFr.
Reihe: Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft - Band 10. Research.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Entstehungshintergrund

Das Buch ist Ende 2022 erschienen und vereinigt Beiträge, die mitten in der Corona-Pandemie geschrieben wurden, also noch unmittelbar unter dem Eindruck der Wucht der Infektionswellen und schwerwiegenden Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens. Einige Beiträge waren ursprünglich im Rahmen von „Corona-Impulsen“ entstanden, die von der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) initiiert wurde. Das Buch hat zum Ziel, Anregungen zur kritischen Reflexion der Corona-Krise auf der Basis eines breiten Spektrums wissenschaftlicher Disziplinen zu geben. Auch wenn die Pflege im Fokus der Veröffentlichung steht, geht es darum, durch unterschiedliche Perspektiven ihrer gesamtgesellschaftlichen Verflochtenheit und Bedeutung gerecht zu werden.

Herausgeber und Autoren

Verena Breitbach (M.A.) ist Journalistin und arbeitet bei der Stiftung Humor Hilft Heilen. Prof. Dr. Hermann Brandenburg ist Professor für Gerontologische Pflege an der PTHV (mittlerweile: Vinzenz Pallotti University). Die Beiträge des Buches sind hauptsächlich von Lehrenden und Studierenden der PTHV geschrieben, aber auch von Autorinnen und Autoren anderer Hochschulen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich auf über 300 Seiten in vier Teile: „Grundlegende Perspektiven“ lautet der erste Teil des Buches und zeigt die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Pflege in fünf Beiträgen auf. Hermann Brandenburg greift in „Theologie, Ethik und Pflege“ die Vulnerabilität des Menschen auf, im Anschluss diskutiert Franziskus von Heeremann „Philosophie in der Pandemie“ die Chancen und Gefahren der Menschlichkeit in Zeiten von Corona. Andreas Albert, Ingo Bode und Sarina Parschick nehmen in „Corona, Pflege und Gesellschaft“ eine soziologische Perspektive ein und analysieren den gesellschaftlichen Umgang mit Krisenzuständen. Mark Schweda widmet sich in „Die Zeit läuft“ ethischen Aspekten in Bezug auf die Endlichkeit des Lebens. Der erste Teil des Buches schließt mit Alban Rüttenauers Ausführungen zu „Prophetischen Bildern von Krankheit und Heilung“. Den zweiten Teil, der „Gesellschaftsbezogene Perspektiven“ vereint,eröffnet Frank Schulz-Nieswandt mit „Lehren aus der Corona-Krise: Sozialraumbildung als Menschenrecht statt 'sauber, satt, sicher, still'“. Till Jansen, Hermann Brandenburg und Sabine Ursula Nover stellen im Anschluss die provokante Frage „Gibt es die Corona-Krise eigentlich?“. Diana Auth antwortet darauf in ihrem Beitrag „Care & Corona. Altenpflegearbeit in Zeiten des Virus“. Viktoria Christov zeigt in ihrem Beitrag „Pflegeheim und Corona“ die Auswirkungen des Lockdowns in Bezug auf die betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner. Mit der Analyse von Cornelia Kricheldorff zur „Gesundheitsversorgung und Pflege für ältere Menschen in der Zukunft“ schließt der zweite Teil des Buches. Der dritte Teil umfasst fünf Beiträge zu pflegefachlichen Perspektiven. Erika Sirsch und Daniela Holle nehmen dabei eine „Pflegewissenschaftliche Perspektive auf die Pandemie im Fokus der Akutpflege“ein, gefolgt von Maik H.-J. Winters Beitrag „Corona und die Lebenswelt Pflegeheim“. Markus Mai und Ursula Erlen diskutieren, inwiefern die „Corona Pandemie Herausforderung und Chance“ für die Pflege sein kann. Karin Wolf-Ostermann und Heinz Rothgang befassen sich in „Die erste Welle“ mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf in Deutschland. Letzter Beitrag dieses Teils ist eine Diskursanalyse von Marie Florence Labonte zur gesellschaftlichen Anerkennung Pflegender in der Corona-Pandemie. „Gedankenimpulse aus Sicht der Studierenden der PTHV“ sind im vierten und letzten Teil des Buches versammelt. Lena Christin Beuth reflektiert die veränderte „Erfahrung von Trauer in Zeiten von Corona“und Carolin Hostert-Hack konstatiert kritisch, dass die Kirche zu leisewar. Manuela von Lonski schildert ihre Erfahrungen zur „Nachhaltigen Systemrelevanz der Pflege“. Jennifer Reif, Moritz Koster und Sarah Zietlein bilanzieren im letzten Beitrag inwiefern die „Pandemie als Chance für die Pflege“ verstanden werden kann.

Drei Beiträge sollen hier etwas ausführlicher besprochen werden, vor allem deshalb, weil sie sich mit einer Personengruppe befassen, die in der Pandemie in besonderem Maße von Eingriffen in ihre Lebensführung betroffen war: die Bewohnerinnen und Bewohner von Seniorenheimen. Hier scheint eine Aufarbeitung der Geschehnisse für die Zeit nach der Pandemie besonders wichtig zu sein.

Entsprechende Lehren zieht Frank Schulz-Nieswandt, der aufzeigt, dass die Realität in den Seniorenheimen schon lange vor der Pandemie von einer „akutklinischen Atmosphäre“ und „hospitalisierenden Hygieneregimen“ geprägt war. Er kritisiert, dass das Leben im Heim vom gesellschaftlichen Leben in der Gemeinde abgekoppelt sei und findet diese Ausgrenzung selbst in der Sprache wieder, indem Seniorenheime als Sonderwohnformen bezeichnet werden. „Hier ist eine strukturelle Fehlwahrnehmung verankert. Dies codiert die Bewohnerinnen und Bewohner zu Quasi-Patientinnen und -Patienten und das Heim zum Quasi-Krankenhaus.“ Dem stellt der Autor die Orientierung an der Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner entgegen und plädiert für eine Normalisierung des Lebens in den Seniorenheimen sowie die Sozialraumbildung als entsprechendes Menschenrecht.

An diese Sonderform des Lebens im Heim knüpfen auch die Überlegungen von Maik H.-J. Winter an. Er sieht die Pflegekräfte und Heimbewohner während der Pandemie als „Schicksalsgemeinschaft“, von denen die einen durch eine prekäre Arbeitssituation und die anderen durch eine prekäre Lebenssituation betroffen sind. Ähnlich wie Frank Schulz-Nieswandt zeigt er Fehlentwicklungen in den Seniorenheimen auf, die sich schon lange angebahnt hätten. Dabei spiele die zunehmende Medizinalisierung der Altenpflege eine zentrale Rolle, die zwar dem zunehmend komplexen Krankheitsgeschehen und hohen Pflegebedarfen der Bewohnerinnen und Bewohner geschuldet sei, zugleich aber ein „Spannungsfeld zwischen konzeptionellen Ansprüchen und pflegefachlichen Realitäten“ erzeuge. Für die Pflegekräfte sei der Spagat zwischen beiden Zielsetzungen immer schwieriger zu leisten und lebensweltliche Ziele rückten dabei immer weiter in den Hintergrund. Winter kritisiert, dass die Interessen und Perspektiven der Bewohnerinnen und Bewohner weitgehend ausgeblendet blieben. Sein Fazit: „Eine tragfähige Zukunft dieses Versorgungssektors ist somit eng verknüpft mit dem politischen Willen und Vermögen zu umfassenden, nachhaltigen Reformen. Inwieweit dies gelingt, ist derzeit nicht absehbar bzw. durchaus mit Skepsis zu betrachten.“

Viktoria Christov hat bereits lange vor der Pandemie als Mitbewohnerin in einem Seniorenheim in einer ethnografischen Studie eine Leere in den Beziehungen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern beschrieben. Dabei hat sie in dem verbreiteten Schweigen eine aus deren Sicht wichtige Funktion entdeckt, die darin liege, Kommunikationssituationen entfliehen zu können, die oft als enttäuschend oder gar Zumutung empfunden würden. Die Gründe dafür sieht die Autorin unter anderem darin, dass im (über-)regulierten Tagesablauf der Heime keine Ressourcen für die gezielte Gestaltung der Beziehungen blieben. Diese Erkenntnisse haben in der Pandemie eine neue Aktualität erlangt, da das für das Wohlbefinden aller Menschen zentrale Bedürfnis nach gelingenden sozialen Beziehungen in den Heimen vollends missachtet worden sei. Die Autorin sieht diese Krise daher als Chance und Verpflichtung zugleich, nach dem Ende der Pandemie etwas zu ändern. „Der Lockdown durch Corona verschafft uns im sozialen Innehalten und Abstandnehmen aktuell die wichtige Chance, erstens mit neuen Augen hinzusehen und zweitens entlastende Interventionen und Methoden einzufordern, die das Pflegeheim endlich in seiner menschlichen Gesamtheit, gewachsenen Dichte und außergewöhnlichen Komplexität anerkennen.“ Dem ist nach Meinung des Rezensenten nichts hinzuzufügen.

Diskussion

Die einzelnen Beiträge des Buches spannen einen weiten Bogen um die Pflege in der Corona-Pandemie und eröffnen ein breites Spektrum an Zugangswegen. Eine Besonderheit des Buches ist der philosophische und theologische Einstieg, in dem Grundfragen der menschlichen Existenz mit den Erfahrungen während der Pandemie kontrastiert werden. Die Analysen sind präzise, zum Teil unbequem und schmerzhaft, da sie die vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Schieflagen sezieren und die bis heute nicht verheilten Wunden offenlegen. Dasselbe geschieht in den spezielleren Abhandlungen, die den Kreis um die Pflege enger ziehen. Im Wesentlichen geht es um zwei Perspektiven: zum einen die der Pflegeberufe, zum anderen die der betroffenen Menschen, die Pflege benötigen. Ein kritischer Blick auf das Pflegesystem verdeutlicht, dass sich schon lange fragwürdige Zustände herausgebildet haben, die durch die Pandemie nur verstärkt und beschleunigt wurden. In dem Buch werden auch die Leserinnen und Leser in die Verantwortung genommen, indem jeder Beitrag mit Reflexionsfragen zum kritischen Nachdenken über eigene Haltungen und Einstellungen anregt. Die Gesamtbilanz des Buches darf als ernüchternd bezeichnet werden, auch im Hinblick auf die Zukunft der Pflege. Die kritische Bestandsaufnahme, die mehr als berechtigt ist, wird ergänzt um die Analyse von Chancen, die die Pandemie für die Pflege aufgetan hat und wie sie von den beiden Herausgebern in ihrem Ausblick am Ende des Buches formuliert wird. Die gerade in Kraft getretene Pflegereform scheint allerdings eher die skeptischen Erwartungen zu bestätigen, da die in dem Buch angemahnten strukturellen Reformen in ihr nicht einmal ansatzweise zu erkennen sind.

Bei Veröffentlichungen, die die Corona-Pandemie zum Gegenstand haben, stellt sich immer auch die Frage, wann der richtige Zeitpunkt zur Veröffentlichung ist. So ist es natürlich auch bei diesem Buch, vor allem deshalb, weil die Fachbeiträge bereits vor dem Frühjahr 2021 verfasst worden sind. Bedenken bezüglich ihrer Aktualität treffen hier aber ins Leere, es ist sogar zu konstatieren, dass dieses Buch sogar genau zur rechten Zeit kommt! Nämlich zu einem Zeitpunkt, zu dem die Gefahr besteht, dass die drei Jahre des Corona-Geschehens schnell in Vergessenheit geraten. Das Buch holt eindringlich die Zumutungen dieser Zeit in die Gegenwart zurück und ist nicht nur für Interessierte zu empfehlen, die selbst beruflich oder privat mit Pflege zu tun haben. Vielmehr ist es von gesamtgesellschaftlichem Interesse und sollte insbesondere für politische Entscheidungsträger zur Pflichtlektüre werden. Und zu guter Letzt gilt es auch, die Frage zu beantworten, welche Bedürfnisse die Menschen haben, die Pflege benötigen und welche Pflege sie sich wünschen. Darüber hinaus ist zu diskutieren, ob ihnen – unabhängig davon, ob sie zuhause oder in einem Heim leben – nicht die gleichen Rechte zustehen, wie allen anderen Mitgliedern dieser Gesellschaft.

Zum Schluss sei angemerkt, dass es äußerst bitter und unverständlich ist, dass die pflegewissenschaftliche Fakultät an der PTHV, der die Herausgeber und einige Autorinnen und Autoren entstammen, in diesem Jahr aufgelöst wird. Der deutschen Pflegewissenschaft wird damit eine wichtige kritische Stimme fehlen, die Pflege nie nur in engen Grenzen von innen heraus gedacht hat. Dieses Buch und viele weitere richtungsweisende Veröffentlichungen werden mit Sicherheit zu ihrem Vermächtnis gehören.

Fazit

Nach dem Ende der Corona-Pandemie muss dringend eine Aufarbeitung der Zumutungen für die betroffenen Menschen, hier sind natürlich die Pflegekräfte mitgemeint - erfolgen. Dies ist ein Gebot der Stunde, weil die Missstände in dieser Zeit deutlich hervorgetreten – aber mit dem Virus nicht verschwunden sind. Das Buch zeigt deutlich die Stellen auf, an denen dringend angesetzt werden sollte, um Veränderungen auf den Weg zu bringen. Gefragt sind hier nicht nur Politik und Verwaltung, sondern insbesondere auch große Teile der (Pflege-) Wissenschaft, die sich in ihrem Elfenbeinturm von immer neuen technokratischen Anforderungen lösen und ihre Aufmerksamkeit mehr den Bedürfnissen und Interessen der Menschen mit Pflegebedarf widmen sollten.

Rezension von
Volker Fenchel
Diplom-Gerontol., M.A.; Senior Referent für Pflege in der Abteilung Fort- und Weiterbildung an der Hans-Weinberger-Akademie der AWO e.V. in Augsburg und Trainer für My Home Life Deutschland
Mailformular

Es gibt 1 Rezension von Volker Fenchel.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Volker Fenchel. Rezension vom 11.07.2023 zu: Verena Breitbach, Hermann Brandenburg (Hrsg.): Corona und die Pflege. Denkanstöße - die Corona-Krise und danach. Springer International Publishing AG (Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2022. ISBN 978-3-658-34044-5. Reihe: Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft - Band 10. Research. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30821.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht