Tobias Linnemann: Bildet Scham?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.09.2023
Tobias Linnemann: Bildet Scham? Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von weiß-mehrheits-deutsch Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse. Logos Verlag (Berlin) 2023. 530 Seiten. ISBN 978-3-8325-5299-2. D: 47,00 EUR, A: 48,30 EUR.
Critical Whiteness – Scham als affektive Eigenschaft
In der Identitäts- und Vorurteilsforschung wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Ressentiments Einstellungen sind, vor denen kein Mensch gefeit ist. Sich um Wahrheit, Richtigkeit und Wirklichkeit zu bemühen sind intellektuelle, lebenslange Wissens-Herausforderungen (s. MirandaFricker, Epistemische Ungerechtigkeit, 2023,) „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“, dieser Wunsch kann als Motto für Humanismus gelten; denn: die interkulturelle Entdeckung, dass das Dasein des Anderen, Fremden Bestandteil des Eigenen ist, kann Schlüssel und Türöffner sein., Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind menschen- und weltfeindliche Phobien, die es zu erkennen und zu bekämpfen gilt, und zwar individuell und kollektiv. In der interkulturellen, globalen Bildung werden die ethischen, moralischen, philosophischen und existentiellen Grundlagen dazu gelegt (s. Karen Gloy, Das Projekt interkultureller Philosophie aus interkultureller Sicht, 2022).
Entstehungshintergrund und Autor
Das interdependente, grenzüberschreitende, globale Zusammenwachsen der Menschen und Völker der Erde bewirkt einerseits ein Bewusstsein von der EINEN MENSCHHEIT; andererseits entstehen Mauern aus Ego- und Ethnozentrismus, die sich zu rassistischen und populistischen Einstellungen auftürmen. Anker, Angelpunkt, Abruf, Anleitung und Analyse sind Wissensinstrumente der Politischen Bildung. Der Sozialwissenschaftler Tobias Linnemann hat an der Oldenburger Carl von Ossietzky Universität seine Forschungsarbeit als Dissertation vorgelegt. Er will herausfinden: „Wie kommen weiß-mehrheitsdeutsch positionierte Menschen dazu, sich kritisch (selbst-reflexiv mit Rassismus und ihrer und ihrer Involviertheit in rassistische Verhältnisse auseinanderzusetzen?“. Der Forschungsfrage liegt die Annahme zugrunde, dass in den kommunikativen anthropologischen, kulturellen, ethischen und moralischen Auseinandersetzungen machtvolle und dominante oder machtlose, submissive Verhaltensweisen wirksam sind. Als beherrschend im rassistischen Diskurs wird die Hautfarbe der Individuen dargestellt: Das „Weißsein“, als selbstverständliche Existenz, wird im Gegensatz zum „Schwarzsein“, dem Anderen, Fremden, nicht Dazugehörenden, hervorgehoben und bewertet. Widerstand und Bollwerke gegen rassistische Einstellungen lassen sich durch die Reflexion und Auseinandersetzung mit „Scham als passivierende(r) Affekt-Emotion“ verwirklichen.
Aufbau und Inhalt
Neben den üblichen danksagenden und in die Thematik einführenden Texten gliedert der Autor seine Forschungsarbeit in sechs Kapitel und schließt sie mit dem Schlusswort ab: „Inhaltlicher und theoretischer Rahmen der Studie“ – „Theoretisches Eingangsverständnis von Scham“ – „Methodische und methodologische Überlegungen“ – „Empirische Dimensionen von Scham weiß Positionierter“ – „Systematisierung und Retheoretisierung von Scham“ – „Scham und (politische) Bildung“. Die Fokussierung der Studie auf vorwiegend affektiv-emotionale (und weniger auf kognitivistisch-aktive ) Anforderungen bedingt, dass das machtvolle, dominante Weißsein „als gesellschaftlich unmarkierte Norm“ gilt. Die wissenschaftliche, empirische Auseinandersetzung mit Scham und den begleitenden emotionalen Formen bedeutet freilich nicht, die affektiven, nicht-rationalen Verhaltensweisen der Menschen kleinzureden bzw. sie sogar zu verhindern; vielmehr ist es lohnenswert und gefordert, das konstruktive, reflexive und transformative Potential von Scham als identitätsstiftendes, bildendes Element zu erkennen und zu fördern. Es sind die vielfältigen, disziplinären und interdisziplinären Ausweise im lokalen und globalen, wissenschaftlichen Diskurs, die immer wieder auf die „kritische Verortung von Selbstreflexion“ und auf die existentielle Verantwortung verweisen, das individuelle Selbst und Sein in das kollektive, ganzheitliche, theoretische und praktische Sosein einzuordnen. Es ist das Selbstbild, das sich im humanen Bildungsprozess lebenslang entwickelt und zu „euzôia“, zum guten Leben führen kann (Aristoteles). Die Auseinandersetzung mit dem Affekt „Scham“ bedingt, auch andere, affektiv-emotionale Phänomene zu beachten, in Beziehung zu setzen oder sie abzugrenzen, wie z.B.: Schuld – Peinlichkeit – Zorn – Demütigung. Die empirische, reflektive Studie zeichnet sich dadurch aus, dass der Autor mehrere biographisch-narrative Interviews mit Personen führte, „die sich mit Rassismus und Weißsein auseinandersetzen“. Dadurch entstehen keine repräsentativen Aussagen, sondern interpretative Hinweise, wie im Diskurs über das Schamverständnis Erkenntnisse, Handlungsaspekte und Perspektivenwechsel gewonnen werden können. Die detailliert und interpretierend vorgestellten Erzählungen der Gesprächspartner vermitteln unterschiedliche, gelingende und scheiternde Lebenserfahrungen, die beim idealen Selbstbildungsprozess bedeutsam werden: „Besonders, empfindsam, handlungsfähig“ – „Scheitern als dauerhafte Krise“. Scham wird gemacht, entsteht situativ und entwickelt sich kontinuierlich. Die kontrovers diskutierten Fragen, ob schamrelevante Themen in der Politischen und Anthropologischen Bildung hilfreich oder schädlich sind, lassen sich relativ leicht und sicher beantworten: „Als Herausforderung für politische Bildung lässt sich formulieren, auf die Reflexion und Veränderung von Perspektiven, Begehren abzuzielen, ohne der Illusion Vorschub zu leisten, dass dieser Weg aus den Widersprüchen hinausführe“. Die Forschungsstudie weist zwei wesentliche, wissenschaftliche Erkenntnisse aus, die den Zusammenhang von Scham und Bildung verdeutlichen. Zum einen zeigt sich, dass im Denken und Handeln von weißen Subjekten potentiale, rassistische Gefahren und Gefährdungen vorhanden sind und in Bildungs- und Aufklärungsprozessen bewusst gemacht werden müssen; zum anderen variieren Selbstbild und Selbstkonzept, was zur Erkenntnis führen: „Ich bin mir meiner Privilegiertheit und Involviertheit bewusst“.
Diskussion
Es sind kommunikative Fragen wie „Wann ist dir das erste Mal bewusst geworden, dass du weiß bist?“, die zur Reflexion über „Wer bin ich?“, und „Wie bin ich geworden, was ich bin?“ herausfordern (s. Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022). Die in den Interviews ausführlich und interpretierend dargestellten Aussagen lassen sich auch als (auto-)biographische Texte lesen: „Wenn es ein Effekt von Scham ist, im Blick der Anderen zum Objekt zu werden und sich des eigenen Objektstatus gewahr zu werden, so liegt dem durch Scham veranlassten Bildungsprozess das ambivalente Potential inne, die privilegienbedingte Illusion des Subjektstatus zurückzugewinnen“.
Fazit
Schamvermeidung – Schamauseinandersetzung! Weil es schwierig ist, nicht rassistisch zu sein (Annita Kalpaka, u.a., 2017), sind emanzipierte, gleichberechtigte, menschenrechtliche und dialogische Bildungs- und Aufklärungsprozesse gefordert. Es kommt darauf an, die Phänomene von Scham zu erkennen, zu reflektieren, antirassistisch und human damit umzugehen. Die umfangreiche Forschungsarbeit, die sich auch im 71seitigen Literatur- und Quellenverzeichnis zeigt, sollte in schulischen und Erwachsenenbildungs-Einrichtungen Beachtung finden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1667 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.09.2023 zu:
Tobias Linnemann: Bildet Scham? Zusammenhänge von Scham und Bildungsprozessen von weiß-mehrheits-deutsch Positionierten bezüglich ihrer Involvierung in rassistische Verhältnisse. Logos Verlag
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-8325-5299-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30826.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.