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Marie-Louise Hermann (Editorin): Journal für Psychoanalyse

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 25.07.2023

Cover Marie-Louise Hermann (Editorin): Journal für Psychoanalyse ISBN 978-3-03777-261-4

Marie-Louise Hermann (Editorin): Journal für Psychoanalyse. Vom Stillen und Stimmen: Frauen in der Psychoanalyse. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2022. 166 Seiten. ISBN 978-3-03777-261-4. D: 24,00 EUR, A: 24,00 EUR, CH: 29,00 sFr.

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Thema und Zielgruppe

Der Titel macht zunächst stutzig, bis man die Einleitung liest: Ein Jahr nach dem Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz, welches erst 1971 eingeführt wurde, erschien dieser Band. Er widmet sich den frühen weiblichen Stimmen in der Psychoanalyse, den weiblichen Positionen bis hin zur Gegenwart, feministischen Debatten und der Rolle von Frauen und Müttern in der Profession der Psychoanalyse. Das Journal richtet sich in erster Linie an Psychoanalytiker*innen und tiefenpsychologisch ausgerichtete Therapeut*innen. Dieser Band ist jedoch auch für Kulturwissenschafter*innen und Historiker*innen sowie Therapeut*innen anderer Therapieschulen von Interesse.

Autorinnen

Die Autor*innen der Hauptbeiträge (abgesehen von 3 weiteren Autor*innen der Buchbesprechungen am Ende) sind erfahrene Psychoanalytikerinnen und/oder Wissenschaftlerinnen:

  • Marie-Luise Hermann (Zürich)
  • Ita Grosz-Ganzoni (Zürich)
  • Bigna Rambert (Zürich)
  • Nadia Kohler (Basel)
  • Cécile Huber (Düsseldorf)
  • Carolin Serena Cyranski (Berlin)
  • Monika Gsell (Zürich)
  • Anna Brenner und Victoria Preis (Berlin) und
  • Vera Luif (Zürich).

Aufbau 

Das Buch beginnt mit dem Editorial von Marie-Luise Hermann und thematisiert dann die kritische Auseinandersetzung der frühen und späteren Psychoanalytikerinnen mit den Weiblichkeitstheorien Sigmund Freuds, um anschließend mit dem Beitrag von Bigna Rambert auf persönliche, transgenerationelle Spurensuche zu gehen. Der Beitrag „Unerhörte Stimmen. Über die Wiederkehr des Vergessenen“ widmet sich der Biografie Sabina Spielreins, die – obgleich sie selbst wichtige fachliche Impulse lieferte, hauptsächlich als Geliebte C.G. Jungs bekannt wurde. Es folgt ein Beitrag zur psychoanalytischen Rechtstheorie, der patriarchal geprägten Theorien das „Gesetz der Mutter“ gegenüberstellt. Der nächste Beitrag interpretiert den Mythos „Orpheus und Eurydike“ aus der Perspektive von Eurydike. Ein weiterer Beitrag thematisiert einen Workshop zu „Psychodynamischen Aspekten der ästhetischen Chirurgie des weiblichen Genitales“, bei dem 5 Fallvignetten dargestellt und gedeutet werden. Zum Schluss widmen sich 2 unabhängig voneinander entstandene Beiträge dem Thema der Schwangerschaft und Mutterschaft von (analytischen oder tiefenpsychologischen) Therapeutinnen.

Am Ende des Buches finden sich noch 5 sehr unterschiedliche Buchbesprechungen.

Inhalt

Bei der Unterschiedlichkeit und großen Spannweite der Inhalte lassen sich in dieser Rezension nur ausgewählte Aspekte darstellen. Ich möchte mich hier besonders auf die Gruppendiskussionen und Gesprächsrunden mit psychoanalytisch orientierten Ausbildungskandidatinnen und Therapeutinnen zum Thema Schwangerschaft und Mutterschaft konzentrieren (S. 109 – 147):

An den Gesprächsgruppen zur Schwangerschaft während der Ausbildung nahmen 15 Frauen teil, zuvor konnten 39 Frauen für Vorgespräche und orientierende Fragen gewonnen werden. Deutlich wurde, welcher Mangel an Information und Reflexion zur Situation schwangerer Ausbildungskandidatinnen besteht, welche wirtschaftlichen Probleme und Abhängigkeiten erwachsen und wie Tendenzen entstehen, einen sozialen und wirtschaftlichen Konflikt intrapsychisch zu deuten. Regressive Phänomene während der Eigenanalyse können zudem dazu beitragen, dass die Kandidatinnen Hemmungen entwickeln, selbstbewusst für sich einzustehen und so die Schwangerschaft von Institutsvertreter*innen als zu problematisierende Abweichung eines „normalen“ Ausbildungsverlaufes betrachtet werden kann. Zugleich wird im Diskurs der Ausbildungsinstitute die Elternschaft männlicher Ausbildungskandidaten deutlich weniger problematisiert. Im Fazit heben Anna Brenner und Victoria Preis hervor, wie wichtig das Aufrechterhalten eines „sinnlichen, offenen und neugierigen analytischen Raums während der Schwangerschaft“ sei und welche Unterstützungsfunktion dabei die Institute hätten.

Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch Vera Luif, die mit 7 anderen Frauen unterschiedlichen Alters, die vor, während oder nach ihrer Weiterbildung Mutter geworden sind, eine Gesprächsrunde durchgeführt hat und diese mit konkreten Ausschnitten aus dem Gesprächsverlauf darstellt: Sie schildert Ängste „doppelt zu versagen“: Sowohl bei der Verkörperung der idealisierten (Analytikerin-)Mutter als auch zur schuldigen (beruflich aktiven) Mutter zu werden. Weiterhin werden ganz konkrete Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen thematisiert, die entstehen, wenn eine analytisch tätige Therapeutin offensichtlich schwanger ist. Schwangerschaft fordere die Analytikerin in einer biografischen Situation besonders heraus, in der sie selbst verletzlich sei. Es stellt sich unter anderem die Frage, wie die Analytikerin damit umgeht, Abstinenz und Neutralität aufzugeben, indem sie ihre „Umstände“ offenlegt und thematisiert. Die Übertragungs- und Gegenübertragungssituation während der Schwangerschaft könne zugleich dazu genutzt werden, den analytischen Prozess erheblich voranzutreiben.

Diskussion

Der historische Rückblick weckt Interesse, sich mit den interessanten Positionen von Analytikerinnen wie z.B. Sabina Spielrein näher zu beschäftigen, er zeigt auch, welche mutigen und hindernisreichen Wege die ersten Analytikerinnen gehen mussten und wie Debatten seit den 1970er Jahren immer wieder angestoßen wurden. Auch aktuell sind noch viele weibliche Schätze zu heben, wie die Gruppengespräche mit schwangeren Therapeutinnen zeigen. Zugleich wird das wichtige Thema der kosmetischen Chirurgie am weiblichen Genitale mit seinen möglichen integrativen (der Weiterentwicklung dienenden) Aspekten und mit seinen Abwehrfunktionen (der Inszenierung von Konflikten) angeschnitten. Allerdings haben sich mir hier einige der Deutungen im Zusammenhang mit dem weiblichen Kastrationskomplex (Fallvorstellung Miranda) nicht vollständig erschlossen.

Fazit

Das Heft macht mit seinen unterschiedlichen Beiträgen deutlich, wie wichtig es ist, sowohl historisch als auch in der Gegenwart weibliche Perspektiven im psychoanalytischen Diskurs noch klarer herauszuarbeiten. Insbesondere gilt es, patriarchal geprägte Theorieelemente kritisch zu hinterfragen und zugleich die Chancen besonderer weiblicher Perspektiven – wie z.B. im Umgang mit Schwangerschaft und Mutterschaft – für therapeutische Prozesse fruchtbringend zu reflektieren und zu nutzen. Hierbei unternimmt die vorliegende Publikation einen wichtigen Schritt und regt weitere Debatten, Studien und Reflexionen an.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 145 Rezensionen von Annemarie Jost.

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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 25.07.2023 zu: Marie-Louise Hermann (Editorin): Journal für Psychoanalyse. Vom Stillen und Stimmen: Frauen in der Psychoanalyse. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2022. ISBN 978-3-03777-261-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30830.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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