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Cecilia Essau: Depression bei Kindern und Jugendlichen

Rezensiert von Dr. Hans-Adolf Hildebrandt, 25.01.2024

Cover Cecilia Essau: Depression bei Kindern und Jugendlichen ISBN 978-3-8252-5965-5

Cecilia Essau: Depression bei Kindern und Jugendlichen. Psychologisches Grundlagenwissen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2023. 3. unv. Auflage. 226 Seiten. ISBN 978-3-8252-5965-5. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 26,90 sFr.

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Thema

Als Lehrbuch beansprucht die vorliegende Veröffentlichung einen umfassenden, systematischen Überblick über Theorie und Forschung zur Depression im Kindes- und Jugendalter und eine Einführung in Klassifikation und Behandlung zu geben.

Autorin

Die Autorin ist Professorin für Entwicklungspsychologie und hat im Bereich der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, die sich u.a. auf Angststörungen und Depressionen beziehen publiziert.

Entstehungshintergrund

In der Einleitung weist die Autorin daraufhin, dass einige Teile des Buches auf ihrer Habilitationsschrift basieren, die sie an der Universität Bremen vorgelegt hat.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Teil des vorliegenden Buches werden die unterschiedlichen Ausprägungen depressiver Störungen, die Methoden der Erhebung diagnostischer Informationen, der Krankheitsverlauf, die Verbreitung nach Alter und Geschlecht sowie das Zusammentreffen mit weiteren psychischen Störungen dargestellt. Im zweiten Teil behandelt die Autorin verschiedene Erklärungsmodelle zur Depressivität sowie familiäre und kognitive Faktoren. Der dritte Teil ist verschiedenen Behandlungskonzepten gewidmet.

Grundlage der Diagnose depressiver Störungen sind die von der Autorin ausführlich dargestellten Klassifikationssysteme des DSM und des ICD. Die subjektiven Beschwerden können mittels altersangemessener Erhebungsinstrumente, dazu zählen strukturierte diagnostische Interviews, Selbst- und Fremdbeurteilungs-Fragebögen und Rating-Skalen, diagnostisch eingeordnet werden. Die Aussagekraft der hierdurch gewonnenen Informationen kann allerdings durch das Antwortverhalten der Patienten und durch das Design der Erhebungsinstrumente beeinträchtigt werden. In einem Überblick wird dem Lesenden eine Auswahl von Interviewschemata, deren Qualität und Aussagekraft nur eingeschränkt vergleichbar sind, dargestellt. An ausgewählten epidemiologischen Studien wird eine tendenzielle Zunahme von Depressionen in Abhängigkeit von Geschlecht und Alter aufgezeigt. Eine familiäre Häufung von depressiven Erkrankungen wird als Prädikator für bestimmte depressive Störungen verstanden. Lassen sich familiäre Faktoren mit statistischen Daten nachweisen bleiben hingegen ursächliche Zusammenhänge aufgrund unklarer, bzw. widersprüchlicher Datenlage und Aussagekraft der Studien vage.

Mit dem Beginn der Pubertät lässt sich ein Anstieg der Depressionsraten feststellen von dem besonders Mädchen betroffen sind. Häufig treten neben einer depressiven Störung Angst- und somatoforme Störungen auf. Es lässt sich dabei auch ein früher Beginn von Angststörungen aufzeigen. Die Ursache von Komorbidität bleibt den von der Autorin vorgestellten Studien zufolge unklar. Eine Verzerrung der Stichprobenauswahl oder eine wechselseitige Bedingtheit von Angst und Depressivität sind mögliche Erklärungen für dieses Phänomen. Die Ausführungen zur Komorbidität bleiben auf der deskriptiven Ebene einer Gleichzeitigkeit verschiedener Symptome. Im Hinblick auf den Krankheitsverlauf, seine Dauer, die Prädikatoren von Genesung und Rückfall liefern die zitierten Studien zum Teil widersprüchliche Ergebnisse aufgrund ihres unterschiedlichen Designs. Daraufhin gewiesen wird, dass die ermittelte Genesungsrate je nach Studie stark variiert. Es gibt Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen kritischen Lebensereignissen und depressiven Episoden. Im vorgestellten Buch geht die Autorin auch auf verschiedene Entstehungsmodelle von Depression ein. Hier stehen die kognitiv-behavioralen Modelle im Vordergrund. Psychodynamische Modelle hingegen bleiben randständig. Jedes einzelne Kapitel des Buches schließt mit einer Reihe von Übungsfragen ab.

Diskussion

Das vorliegende Buch wird vom Verlag laut Umschlagtext als Lehrbuch bezeichnet. Ein Lehrbuch kann verschiedenes sein, eine Sammlung von Meinungen, die in Ausbildungen und Fachkreisen gelehrt werden und einen Diskurs anregen (sollen), selbstredend auch eine Sammlung von Tatsachen oder Beobachtungen, die je nach methodischer Ausrichtung und wissenschaftlichen Erkenntnissen interpretiert werden (müssen). Der Anspruch der Autorin mit dem vorliegenden Buch „einen umfassenden Überblick über den derzeitigen Forschungsstand im Hinblick auf depressive Störungen bei Kindern und Jugendliche zu geben, der sowohl wissenschaftlich (z.B. Prävalenz- und Komorbiditätsraten, Risiko- und Schutzfaktoren depressiver Störungen) als auch klinisch (z.B. Prävention und psychologische Intervention) relevant ist“ (Vorwort) wirft vor allem zwei Fragen auf. Zum einen die Frage nach dem Wissenschaftsverständnis, das die Autorin ihren Ausführungen zugrunde legt. Da beim Leser die Erwartung geweckt wird, näheres darüber zu erfahren, wie depressive Störungen aus der Perspektive der vier Richtlinienverfahren (Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Psychoanalytische Therapie und Systemische Therapie) behandelt werden, wird das Interesse auch darauf gerichtet, welche Ansicht die Autorin bezüglich der verschiedenen Behandlungsmethoden vertritt.

Wenden wir uns zunächst dem Wissenschaftsverständnis der Autorin zu. Hier fällt vor allem auf, dass der Lesende mit einer Vielzahl (auf sage und schreibe 23 Buchseiten) von ausschließlich tabellarisch dargestellten Studien konfrontiert wird, deren Kurzbeschreibung keine Information über die tatsächliche Qualität der jeweiligen Studie erlauben. Auf die Problematik eines unkritischen Umgangs mit Studien oder Umfragen wurde kürzlich von M. Spiewak hingewiesen (ZEIT v. 32/2023). Sofern Angaben zur Anzahl der Probanden vorliegen, sind erhebliche Zweifel an der Aussagekraft der Untersuchung angebracht, weil die angegebene Zahl als viel zu gering erscheint um zu einem fundierten Ergebnis führen zu können.

Erwähnt in diesem Zusammenhang sei es auch, dass selbst die Feststellung, eine Studie sei repräsentativ keinen Aussagewert hat, weil dieser Begriff weder definiert noch geschützt ist. Der „inflationäre“ Gebrauch von vermeintlich wissenschaftlichen Studien sagt also nichts über die tatsächliche Qualität der so gewonnen Feststellungen aus. Für den Leser verwirrend ist der häufige Hinweis der Autorin, dass viele Studien zu gegensätzlichen Ergebnissen gelangen. Da wir wissen, dass die Güte einer Studie unter anderem von der Anzahl und Auswahl der Teilnehmer:innen, der Randomisierung, der Anwendung der Untersuchungsverfahren, der Abbruchquote und vielen weiteren Faktoren abhängt, bestehen Zweifel am Aussagewert der aufgeführten (ausführlich dargestellt und kritisch rezensiert werden sie bedauerlicherweise nicht) Studien bezüglich der tatsächlichen Natur depressiver Erkrankungen. Die bloße Benennung von Studien gibt hierüber jedenfalls keinen Aufschluss.

Da wir wissen, dass die Wissenschaft in der heutigen Zeit unter großem Druck steht viel zu publizieren, Forschungsgelder einzuwerben oder in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu gewinnen ist die Praxis eines unkritischen Umgangs mit solchen Studien fatal, weil der Rezipient sich keine eigene Meinung bilden kann, sondern gutgläubig hinnehmen muss, was ihm vorgesetzt wird. Nicht unwesentlich nach Auffassung des Rezensenten ist es auch, dass hier eine Faktenhudelei betrieben wird, anstatt sich mit der viel essentielleren, für depressiv erkrankte Menschen typischen, Beziehungsqualität zu befassen. Aus der Vielzahl von aufgeführten Studien lässt sich zumindest schließen, dass die Autorin einem nomothetischen, bzw. nomologischen Wissenschaftsverständnis anhängt. Der Stand der nomologischen Psychologie als Wissenschaft wird geprägt von einer Theorie-Fragmentierung mit minimalen Geltungsbereichen, die mit mathematischen Methoden ihre Gültigkeit beweisen soll. Hinzu kommt eine Kluft zwischen Theorie und Praxis, die häufig auf unterschiedlichen Wertvorstellungen von Forscher:innen und Praktikuer:innen beruht. Man kann von der Krise des nomologischen Paradigmas sprechen als unmittelbare Folge des Versuches, ohne Rücksicht auf die Eigenarten des Gegenstands die Forschungsmethodik der Physik zu imitieren. Die psychodynamischen Zusammenhänge und unbewussten Motive können jedoch weder über ein an den naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden orientiertes noch über ein empathisches Vorgehen unmittelbar verstanden werden. Daher bedarf es einer weiteren Wahrnehmungseinstellung, der „hermeneutischen“. Es gilt dabei, den verborgenen, unbewussten Sinn, sei es im umgangssprachlich formulierten Text des Patienten/der Patientin oder in seinem/​ihrem interaktionell gezeigten Verhalten der Umwelt oder dem Therapeuten/der Therapeutin gegenüber – im Sinne des griechischen Wortes „hermeneuo“ = ich lege aus, erkläre, dolmetsche, übersetze (Duden 1971) – verstehend zu erkennen. Zwar kann es sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht als problematisch erweisen, dass jede:r Behandler:inn, bzw. Forscher:in sowohl durch seine/ihre Persönlichkeit als auch durch sein/ihr Verständnis der psychologischen Theorie selektiv und konstitutiv auf die Interaktion mit seinem Probanden einwirkt. Als wesentlich erscheint jedoch, dass hermeneutische Verfahren sowohl hinsichtlich der Methode als auch des Verfahrens der Verifikation denselben Objektivitätsanspruch erheben können, wie er in den Naturwissenschaften üblich ist

Im Hinblick auf die dargestellten Entstehungsmodelle von Depression und der verschiedenen Behandlungskonzepte räumt die Autorin den kognitiv-behavioralen Konzepten, also der Verhaltenstherapie, einen breiten Raum ein. Damit wird das Anliegen dieses Lehrbuchs, nach den Worten der Autorin im Vorwort „einen umfassenden Überblick (…) zu geben“ konterkariert. Ganz offensichtlich gibt die Autorin einem technokratisch-medizinischen Erklärungs- und Behandlungsmodell (M. B. Buchholz – Psychotherapeutenjournal 2/2019) mit den Vorgaben formalisierter Diagnosen nach dem DSM-5 oder ICD-10, mit manualisierten Behandlungsinventaren und der technik-affinen Vorstellung, dass innerseelische Probleme „ingenieurwissenschaftlich“ lösbar seien den Vorzug. Nach der Erfahrung des Rezensenten suchen Menschen Psychotherapeuten auf, weil Gespräche mit vertrauten Bezugspersonen nicht weitergeführt haben und erwarten ein „klärendes Gespräch“. Geht der/die so angesprochene Psychotherapeut:in auf diese Erwartung ein, dann sollte er die vom/von der Patient:in geschilderten Symptome als Kompromiss verstehen zwischen einem tabuisierten Bedürfnis oder Wunsch und der unzulänglichen Abwehr dagegen.

Als „klärendes“ Gespräch lässt sich dann die Suche nach dem verborgenen Sinn hinter der Oberfläche der mitunter wechselnden und uneindeutigen Symptome verstehen. Durch das Aufdecken – psychoanalytisch als Deutung bezeichnet – des unbewussten Sinns werden die Symptome im Verlauf des psychotherapeutisches Prozesses überflüssig oder weniger einflussreich auf die Alltagsbewältigung oder das Wohlbefinden der Patienten. Ein Lehrbuch sollte auf jeden Fall den breiten Diskurs zwischen dem hier nur kurz angesprochenen kontextuellen und dem technokratisch-medizinischen Hintergrundmodell darstellen, damit der Leser als Lernender den Unterschied zwischen einer manualisierten, symptomorientierten Behandlungsform und einer emotional hochbesetzten, aufdeckenden Therapieform erfährt.

Fazit

Das vorliegende Buch läßt sich mit einem gewissen Wohlwollen als „Fleißarbeit“ bezeichnen. Den Anspruch, ein „psychologisches“ Grundlagenwissen zu vermitteln, wörtlich verstanden als „sich in der Seele auskennen“ – erfüllt es nicht. Ebenso wenig den üblichen Anspruch eines Lehrbuchs, nämlich den Leser zur Entwicklung einer kenntnisreichen und reflektierten eigenen Meinung zu verhelfen.

Rezension von
Dr. Hans-Adolf Hildebrandt
Diplom-Pädagoge, M.A., Kinder- und Jugendpsychotherapeut ­(bkj, DFT), Gruppenanalytischer Organisationsberater, und Diplom-Supervisor (D3G, DGSv), Gruppenpsychotherapeut (D3G), Forensischer Sachverständiger Familienrecht (IQfSV)
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Es gibt 11 Rezensionen von Hans-Adolf Hildebrandt.

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Zitiervorschlag
Hans-Adolf Hildebrandt. Rezension vom 25.01.2024 zu: Cecilia Essau: Depression bei Kindern und Jugendlichen. Psychologisches Grundlagenwissen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2023. 3. unv. Auflage. ISBN 978-3-8252-5965-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30843.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.


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