Virginia M. Axline (Hrsg.): Kinder-Spieltherapie im nicht-direktiven Verfahren
Rezensiert von Ulrike Ziemer, 12.09.2023
Virginia M. Axline (Hrsg.): Kinder-Spieltherapie im nicht-direktiven Verfahren. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2023. 12. Auflage. 341 Seiten. ISBN 978-3-497-03196-2. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR.
Autorin
Die Autorin des Buches, Virginia Mae Axline (1911 – 1988) war eine amerikanische Psychologin und Psychotherapeutin. Sie ist die Gründerin der nicht – direktiven Spieltherapie.
Entstehungshintergrund
Die amerikanische Originalausgabe „Play Therapy. The Inner Dynamics of Childhood“ by Virginia Mae Axline, erschien 1947. 1971 wurde dieses Buch von Ruth Bang ins Deutsche übersetzt. Das Vorwort der deutschen Ausgabe schrieb Dr. Reinhard Tausch (1921 – 2013), der zu dieser Zeit Professor für Psychologie am Psychologischen Institut in Hamburg war. Bei dem hier vorgestellten Werk handelt es sich um die 12. Auflage. Herr Tausch stellt 1971 eine Frage, die aktuell immer noch gültig erscheint: „Wie kommt es, das dieses vor 25 Jahren geschriebene Buch in seinem Wert eher zugenommen hat?“ Mittlerweile sind 76 Jahre seit der Veröffentlichung der amerikanischen Originalausgabe vergangen und der Inhalt hat über die Jahre weiter an Wert gewonnen. Frau Axline hat damals die Grundhaltungen der von Carl Rogers (1902 – 1987) entwickelten Klienten – zentrierten Psychotherapie für die Therapie mit Kindern angepasst.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus fünf Teilen mit Unterkapiteln. Zusätzlich gibt es ein Vorwort von Dr. Reinhard Tausch, ein Sachverzeichnis mit alphabetisch geordneten Stichworten und ein Verzeichnis der beschriebenen Fälle mit Seitenangaben.
I. Einführung
Ziel des Buches ist es, zu verdeutlichen wie ein Umgang mit auffälligen Kindern gelingen kann. Erläutert wird eine Methode, die Kinder befähigen möchte, eigene Lösungen zu entwickeln. Es handelt sich hierbei um das Konzept der Spieltherapie.
II. Die nicht – direktive Spieltherapie – Situation und Teilnehmer
Bei der Spieltherapie handelt es sich um ein Konzept der Selbsthilfe bei Kindern mit Problemen. Das kindliche Spiel ermöglicht Kindern ihre Gefühle und Konflikte „auszuspielen“. Diese Art der spielerischen Selbstdarstellung ist vergleichbar mit der Möglichkeit die Erwachsene haben, sich im Rahmen einer Therapie über Probleme auszusprechen. Bei der Spieltherapie wird zwischen der direktiven und der nicht – direktiven Spieltherapie unterschieden. Bei der direktiven Spieltherapie übernimmt der Therapeut die Leitung und Interpretation der Spielsituation, bei der nicht – direktiven Spieltherapie wird die Verantwortung und Führung der Spielsituation eher dem Kind überlassen. Frau Axline stellt in ihrem Buch die nicht – direktive Spieltherapie vor.
Der Therapeut in der nicht – direktiven Spieltherapie nimmt das Selbst des Menschen ohne Druck und Wertung an und ermöglicht ihm, er selbst zu sein. Dem Kind wird eine Wachstums- und Reifungshilfe angeboten. Das Spieltherapiezimmer ist hierfür besonders vorbereitet. Für Kinder entsteht eine unbekannte Situation, in der sich der Erwachsene mit seinen Kommentaren und Lenkungsversuchen zurückhält. Vorsichtig kann das Kind seine Möglichkeiten entdecken, sich ausprobieren und seine Eigenständigkeit erleben. Die Gefühle werden vom Therapeuten wie durch einen Spiegel reflektiert. Kernpunkt ist das vorbehaltlose Annehmen des Kindes und seiner Verhaltensweisen. Spielmaterial dient als Werkzeug in diesem Prozess. Im Rahmen dieses Konzeptes gibt es die Möglichkeit, die nicht – direktive Spieltherapie als Einzeltherapie, als Gruppentherapie oder in Kombination anzubieten.
Das Konzept steht in enger Verbindung mit der nicht – direktiven Beratung, wie sie Carl R. Rogers entwickelt hat.
Das Spielzimmer und das Material müssen nicht unbedingt speziell nur für diese Therapiesituation hergestellt werden, es genügt oft auch ein kleines Köfferchen mit entsprechendem Spielmaterial. Wenn es möglich ist, einen extra Raum als Spielzimmer herzurichten, dann sollte der Raum möglichst schalldicht sein, ein Waschbecken mit fließende kaltem und heißem Wasser haben, Fenster sollten durch Gitter oder Fliegenfenster geschützt sein und der Fußboden aus leicht zu reinigendem Material bestehen. Für Beobachtungen sind eine Ein-Sicht Scheibe und ein Anschluss für eine Bandaufnahme erforderlich. Zum Spielmaterial sollte zum Beispiel gehören: Babyflasche, Puppenfamilie, ein möbliertes Puppenhaus, Spielsoldaten, Haushaltsgegenstände, Bastelmaterial und Handpuppen. Auch eine große Sandkiste ist sinnvoll. Alles sollte robust sein und durch den Therapeuten immer so gepflegt werden, dass kein Kind einen chaotischen Raum vorfindet.
Kinder, die zur Spieltherapie kommen, sind erst einmal dort, weil Erwachsene annehmen sie seien „Problem-Kinder“. Manche der Kinder erwecken den Eindruck, als wollten sie für immer ein Baby bleiben, andere sind nervös, haben Alpträume, Tics, Essstörungen, Sprachschwierigkeiten, Lernstörungen oder zeigen andere auffällige Verhaltensweisen. Die Spieltherapie möchte Pädagogen, Psychologen und Ärzten dabei helfen Techniken zu entwickeln, die Kinder zu verstehen. Es gilt einen „Teufelskreis“ zu durchbrechen. Ziel ist es, dass sich die Kinder bewusst werden, dass sie ein „Individuum mit eigenem Handlungsrecht“ sind und sie so akzeptiert werden wie sie sind.
III. Die Grundprinzipien der nicht – direktiven Spieltherapie
In der nicht- direktiven Spieltherapie werden 8 Grundprinzipien angewandt. Der Therapeut sollte:
- eine warme, freundliche Beziehung zum Kind aufnehmen.
- das Kind in seinem Sosein annehmen.
- eine Umgebung des „Gewährenlassens“ schaffen, in der die Emotionen frei ausgedrückt werden können.
- die Gefühle von Kindern erkennen und reflektieren.
- die Fähigkeit des Kindes achten, Veränderungen eigenständig zu beginnen.
- beachten, dass das Kind die Richtung vorgibt und er ihm folgt.
- geduldig sein und nichts beschleunigen.
- Grenzen da setzen, wo sie erforderlich sind.
Der Therapeut ist sich bewusst, dass es sich bei der nicht -direktiven Spieltherapie nicht um „Zauberei“ handelt und das auch diese Methode, wie alle anderen auch, Grenzen hat.
IV. Die Anwendung der therapeutischen Grundprinzipien in der Erziehung
Auch auf die allgemeine Erziehung haben die Grundprinzipien Auswirkungen. Die traditionelle Erziehung wird erweitert und ergänzt durch fortschrittliche Methoden und dennoch wird deutlich, dass beide Richtungen keine ausreichenden Konzepte haben, um die seelische Gesundheit zu fördern. Frau Axline vertritt die Annahme, dass die Art und Weise der Beziehung zwischen Pädagogen und Kindern bestimmt, wie sich die seelische Gesundheit entwickelt. Hierbei sind die Grundprinzipien entscheidend. Die Annahme eines Kindes in seinem Sosein ist ein Kernpunkt, der Erwachsene herausfordert Kinder mit einem neuen Blickwinkel anzusehen.
V. Therapieberichte mit Kommentaren
Im Spiel bekommen Kinder die Möglichkeit ihre Gefühle auszudrücken. Frau Axline beschreibt sehr ausführlich Situationen aus der Praxis, in dem sie Auszüge aus Gesprächen zur Verfügung stellt.
Geschildert werden:
- Auszüge aus Therapien mit Einzelkontakten wie zum Beispiel: „Der Fall Michael – Alter 7 Jahre – Auszug aus dem Gespräch des Erstkontaktes“; „Der Fall Giesela – Alter 7 Jahre – Auszug aus einem Gespräch beim 5. Besuch“; „Der Fall Waltraut – Alter 6 Jahre – Auszug aus einem Gespräch beim 4. Besuch“.
- Auszüge aus gruppentherapeutischen Berichten
Vollständiger Bericht über eine Gruppentherapie und ihre Auswertung
Die geschilderte Gruppentherapie umspannte 8 Termine mit teilweise 5 Jungen, die zeitweise in einer Pflegeeinrichtung lebten.
- Kombinierte einzel- und gruppentherapeutische Kontakte
- Fallbericht über eine Behandlung eines körperbehinderten Kindes durch eine therapeutisch arbeitende Lehrerin. Über diese Therapiesequenz wurde im April 1945 im Journal of Abnormal and Social Psychology von Carl R. Rogers und Virginia Mae Axline berichtet.
Diskussion
Ich habe mich bei der obigen Inhaltszusammenfassung bei der Entscheidung bezüglich einer gendergerechten Sprache, an die damalige Zeit gehalten, in der immer die männliche Form von Berater, Therapeut und Klient gewählt wurde.
Frau Axline begründete ihre theoretischen Ausführungen mit zahlreichen ausführlichen Fallbeispielen, die einen Einblick in den Verlauf der Therapie geben. Gerade diese praktischen Beobachtungen und Erfahrungen sind sehr wertvoll und aussagekräftig. Sie lassen sie sich im Rahmen einer Rezension nicht umfassend darstellen, da es hier auf jede Aussage und jede Reaktion in der jeweiligen Situation ankommt. Es lohnt sich, diese Falldarstellungen durchzuarbeiten. In jedem Beispiel tauchen klar die 8 Grundprinzipien auf. Die Haltung des Therapeuten gegenüber dem Kind prägt die Beziehung zwischen ihnen. Die Falldarstellungen sind in Dialogform geschrieben. Zusätzlich gibt es Anmerkungen zum Therapieverlauf.
Interessant ist, dass zwischen dem Verfassen des Buches und dem Erscheinen der 12. Auflage mittlerweile 76 Jahre vergangen sind. Die Welt und die Einstellungen der Gesellschaft zur Erziehung haben sich gewandelt. Auch die technischen Möglichkeiten, um eine Therapiesitzung aufzuzeichnen, sind heute anders.
Die Grundprinzipien von Frau Axline sind jedoch noch immer aktuell und prägen ein Menschenbild, in dem Kinder in ihrem Sosein geachtet und akzeptiert werden. Frau Axline stellt das Spiel als Medium in den Mittelpunkt. Im Spiel können Kinder ihre Gefühle frei äußern und verdrängte Emotionen gelangen so an die Oberfläche. TherapeutInnen und PädagogInnen haben die Möglichkeit diese Gefühle zu verbalisieren und widerzuspiegeln. Das Ziel ist dem Kind zu vermitteln, dass es angenommen und verstanden ist, so wie es gerade ist. Es besteht die Chance, dass das Kind sich so selbst besser kennenlernt und die Möglichkeit erhält, sein Verhalten anzupassen. Die Spieltherapie stellt den geeigneten Rahmen dar. Die Gestaltung des Raumes, die Auswahl des Materials und die Haltung des Therapeuten wirken ineinander und geben Sicherheit. Nicht immer ist es erforderlich, einen entsprechenden Raum herzurichten. Spieltherapie ist auch möglich, wenn es gelingt, einen geeigneten Rahmen vorzugeben, in dem die acht Grundprinzipien gelten. Je unklarer die Rahmenbedingungen sind, umso schwerer wird es sein, Kindern die nötige Geborgenheit und Sicherheit zu geben ihre Gefühle auszuleben. Kinder einfach spielen lassen und hoffen allein dies habe eine therapeutische Wirkung, ist hier nicht gemeint. Frau Axline hat jede Reaktion, auch das nicht Reagieren wohl bedacht und gezielt eingesetzt.
Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um einen Klassiker der Kinderpsychotherapie. Frau Axline war ihrer Zeit voraus und hat bereits damals erkannt, dass die Haltungen, die Menschen zueinander haben und entwickeln, die Kraft haben Menschen zu vermitteln, dass sie angenommen und akzeptiert sind. Nur wenn diese Basis vorhanden ist, ist Entwicklung und Veränderung möglich. Kinder gewähren lassen war damals unüblich und unerwünscht, heute ist es eher verbreitet, wird aber meist unangemessen umgesetzt und falsch verstanden. Frau Axline erläutert das „Gewährenlassen“ sich in einem Konzept bewegt, das geprägt ist von einer annehmenden Beziehung und dem Setzen von erforderlichen Grenzen. Die acht Grundprinzipien können nur dann heilsam wirken, wenn sie ineinandergreifen. Dazu gehört auch das Setzen von Grenzen.
Das vorliegende Werk hat zwei Schwerpunkte. Zum einen ist es die Erläuterung der acht Grundprinzipien, die die spieltherapeutische Haltung prägen. Zum anderen sind es die sehr ausführlichen, dialogischen Falldarstellungen. Es ist faszinierend zu erleben, welche Kraft Worte und Haltungen haben. Mit Hilfe der nicht – direktiven Spieltherapie werden problembelastete Kinder gestärkt und befähigt mutig und selbstbewusst ihr Leben zu gestalten.
Fazit
Das Buch „Kinder – Spieltherapie im nicht-direktiven Verfahren“ ist ein Klassiker der Kinderpsychotherapie. Die Autorin Virginia Mae Axline (1911 – 1988) ist die Gründerin der nicht-direktiven Spieltherapie. Sie stellt die acht Grundprinzipien der Spieltherapie dar und gibt Einblick in die praktische Arbeit.
Rezension von
Ulrike Ziemer
Dipl. Heilpädagogin (FH)
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Zitiervorschlag
Ulrike Ziemer. Rezension vom 12.09.2023 zu:
Virginia M. Axline (Hrsg.): Kinder-Spieltherapie im nicht-direktiven Verfahren. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2023. 12. Auflage.
ISBN 978-3-497-03196-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30844.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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