Lothar Böhnisch: Milieu und Milieubildung
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann, 15.11.2023

Lothar Böhnisch: Milieu und Milieubildung. Einführung in die milieuorientierte Soziale Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 203 Seiten. ISBN 978-3-7799-7558-8. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
In der aktuellen Sozialen Arbeit kann das Konzept von „Milieu und Milieubildung“ einen zentralen Platz einnehmen. Es handelt sich um eine Herangehensweise, die das Verständnis und die Intervention in sozialen Problemen in den Kontext der sozialräumlichen und soziokulturellen ‚Lebensumgebung‘ und sozialen Milieus einbettet. Dieses Konzept, das von Lothar Böhnisch in seinem Buch „Milieu und Milieubildung. Einführung in die milieuorientierte Soziale Arbeit“ kompakt lesefreundlich, gleichwohl ausführlich genug behandelt wird, stellt die Wechselwirkungen zwischen individuellen Lebensumständen und den sie umgebenden sozialen Strukturen in den Mittelpunkt. „Milieu wird in diesem Sinne als ein lebensweltlich bewegter und gleichzeitig sozialstrukturell geprägter und wertdurchsetzter Erfahrungs- und Bewältigungsraum betrachtet, der im jeweiligen – pädagogisch beeinflussbaren – Habitus der Adressat:innen aufscheint.“ (Klappentext)
Autor
Lothar Böhnisch, Dr. rer. soc. habil., hatte den Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden inne und lehrte abschließend Soziologie an der Freien Universität Bozen. Er hat mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen zur Sozialisation, insbesondere der differenzierten Darlegung zur Sozialpädagogik der Lebensalter sowie zur Jungenarbeit die Sozialpädagogik maßgeblich bereichert und durch seine fundierte soziologische Expertise nachhaltig geprägt. Sein Konzept der Lebensbewältigung hat dabei einen bedeutsamen Stellenwert, insbesondere im Zusammenspiel mit der Alltags- und Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch (1986).
Aufbau und Inhalt
Das Buch startet mit einer kurzen Einleitung, um dann zunächst in Kapitel I in eine „Milieutheoretische Grundlegung“ (S. 10) einzuführen, in der neben einer geschichtlichen Bezugnahme zentrale Begriffe geklärt und für die weitere Verwendung jeweils kompakt und zugleich kenntnisreich verortet werden. Kapitel II widmet sich dem „Milieu als Sozialraum “ (S. 49). Hier finden sich kurze und zugleich klärende Ausführungen bspw. zur ‚sozialräumlichen Perspektive‘, dem Aspekt der ‚Aneignung‘, dem Konzept des ‚Lebensstils‘ über die ‚Dialektik der Begegnung‘ über weitere zentrale Bezugspunkte (Netzwerke, Milieu und Öffentlichkeit, innovative Milieus) bis hin zu ‚virtueller Milieubildung‘.
Dem folgt Kapitel III „Milieu und soziale Integration“ (S. 68), das aufgrundlage seiner zuvor formulierten Klärung zum ‚sozialen Subjekt‘ als „Mittelpunkt des milieuorientierten Konzepts Sozialer Arbeit […] als soziales Wesen in der gegenseitigen Angewiesenheit auf andere Menschen[…]“ (S. 18) zentrale Aspekte zur ‚Sozialintegration und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt‘, dem Zusammenleben und Zugehörigkeit, über das ‚Soziale Klima‘ bis hin zu ‚intergenerationalen Milieus‘ und das Kapitel abschließend mit Ausführungen zu ‚Sozialisationsmilieus‘ und auch ‚Organisationsmilieus‘ abrundet.
Hierauf baut in Kapitel IV unter der Überschrift „Milieubildung als Konzept Sozialer Arbeit“ (S. 81) die zentrale Grundlegung eben dieser konzeptionellen Fassung auf. Es werden ‚Arbeitsprinzipien der Milieubildung‘ geklärt und zentrale Faktoren der ‚Sorge als moralische Kategorie‘, der ‚Konflikt‘, die ‚Beteiligung als Faktor der Milieubildung‘ sowie der ‚Milieurückhalt‘ und ‚Respekt‘ und auch ‚Vertrauen‘ als Kategorien der Milieubildung herausgestellt.
Kapitel V zur „Methodik der Milieubildung“ (S. 98) gibt einen durchweg kompakten Ansatz in handlungsmethodische Ansätze, um die zuvor dargelegte ‚Milieubildung‘ in handlungsbezogene Konkretisierungen zu führen. So wird bspw. eine ‚Milieu- und Habitusanalyse‘ ausgeführt als „ein Zusammenspiel von Gruppendiskussion, Interview (mit auswertender dokumentarischer Methode) und der Anfertigung von subjektiven Raumkarten“ (S. 98). Hier zeigt sich durchweg ein deutlicher Bezug zu Veröffentlichungen ‚seines‘ früheren Promovenden Christian Reutlinger. Des Weiteren gibt es kurz gehaltene Darlegungen zur ‚Habitusreflexiven Kasuistik‘, ‚Habitusarbeit‘, ‚Milieubildung über Projekte und funktionale Äquivalente‘ sowie einen ‚Exkurs: Therapeutisches Milieu und sozialpädagogische Milieubildung‘.
Das umfangreichste Kapitel VI ist überschrieben mit „Milieubildung in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern“ (S. 114) und widmet sich verschiedenen Handlungsfeldbezügen Sozialer Arbeit bspw. der ‚Milieubildung in der Jugendarbeit‘, den ‚Straßenmilieus und Streetwork‘, der Heimerziehung bis hin zur ‚Milieubildung beim Übergang in die Arbeit‘. Es schließen sich zahlreiche weitere spezifizierende Fokussierungen an (Erlebnispädagogische Milieus, transfamiliale Milieubildung, weibliche Bildungsmilieus, gewaltnahe Milieus, milieubildende Gemeinwesenarbeit, solidarökonomische Milieus, Milieubildung in der Migration, Arbeit mit alten Menschen als Milieubildung, politische Milieubildung, Armutsmilieus, Zwangsmilieus, die ›Soziale Stadt‹, Milieubildung in der Schule, Milieubildung in den Organisationen der Sozialen Arbeit).
Am Ende des Kapitels folgt ein „Schluss: Der sozialpädagogische Erkenntnisgewinn“ (S. 193), der sich laut des Autors neben anderem maßgeblich darin zu finden ist: „[…] die Erkenntnis der Gegenseitigkeit im Sozialen und damit der gegenseitigen Angewiesenheit. Auf ihr basieren zentrale sozialpädagogische Ziele wie Gemeinsinn, Respekt und Verantwortung. Auch fordern sie entsprechende sozialpädagogische Methoden – wie vor allem die Arbeit mit der Gruppe – heraus“(S. 194).
Diskussion
Nun kann ob der Vielfalt (bis hin zur Beliebigkeit nebeneinanderstehender) Konzepte und theoriebezogener Modelle in der Sozialen Arbeit gefragt werden, ob denn ein weiteres wie dieses zu ‚Milieu und Milieubildung‘ notwendig sei. Die Antwort scheint in diesem Fall ein klares ‚Ja‘. Die vielfältigen geschichtlichen Herleitungen und theoretischen Rahmungen zu begrifflichen Klärungen führen durch die zugleich handlungsfeldbezogenen Praxisbezüge zum Ende des Buches zumindest im Ansatz zu handlungsmethodischen Prinzipien und Vorgehensweisen. Es finden sich zahlreiche Bezüge zu bestehenden konzeptionellen Ansätzen, die (ggf. in einem weiteren Band hierzu) durchaus noch stärker und tiefgehender (bspw. der Lebensweltorientierung, des Empowerment etc.) bzw. überhaupt erst (bspw. dem Fachkonzept Sozialraumorientierung) hergestellt sein könnten, um so einen insbesondere für Studierende und Praktiker:innen der Sozialen Arbeit etwas klareren Zusammenhang zu ermöglichen und die Anschlussfähigkeit dieser ‚Milieubildungsperspektive‘ deutlicher herzustellen. Sehr konsequent zeigt der Autor den zentralen Aspekt des hier dargelegten Fachverständnisses auf: „In dieser Anlage einer tendenziell von Selbstbestimmung getragenen Milieubildung können die Klient:innen aus dem Zwang der Klientelisierung herauskommen und einen Bürger:innen-Status erreichen. Das gilt sowohl für die Jugendhilfe als auch für die Schule. Das Milieukonzept kann somit sozialtheoretisches wie handlungswissenschaftliches Rüstzeug vermitteln, was einer handlungswissenschaftlichen Disziplin wie der Sozialen Arbeit besonders entgegenkommt“ (S. 194).
Die grundlegende Idee von Böhnisch ist es, dass Soziale Arbeit mehr als nur die individualisierende Hilfe für Einzelpersonen ist. Stattdessen betont er die Bedeutung des Verständnisses und der Einbeziehung des sozialen Umfelds und der Sozialstruktur bzw. der Milieus, in die Menschen eingebettet sind. Seine Arbeit betont, wie die Umgebung eines Individuums – sei es die Familie, die Nachbarschaft, die Schule oder die Arbeitsstelle und der Stadtteil – einen entscheidenden Einfluss auf sein Wohlbefinden und seine Entwicklung hat. Böhnisch fokussiert dabei sorgfältig verschiedene Milieus und wie durch eine entsprechend umgesetzte Milieubildung die „sozialintegrative Perspektive“ (S. 194) entfaltet werden kann.
Das Buch bietet nicht nur eine theoretische Grundlage für eine milieuorientierte Soziale Arbeit, sondern stellt auch konkrete Ansätze und Methoden vor, wie Sozialarbeiter:innen in diesen komplexen sozialen Umgebungen mit Bezug zu ihren unterschiedlichen Handlungsfeldbezügen arbeiten können. In einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft ist „Milieu und Milieubildung“ ein wichtiger Leitfaden für Fachleute und Studierende der Sozialen Arbeit, die sich darauf vorbereiten, in einer Welt zu arbeiten, in der die sozialen Herausforderungen eng mit den verschiedenen Milieus verbunden sind.
Fazit
Ein durchaus voraussetzungsvolles, durchweg anspruchsvolles und rundum lesenswertes sowie sprachlich zugänglich gestaltetes Fachbuch, dass zumindest in den Studiengängen Sozialer Arbeit nutzbar gemacht werden sollte und zugleich die Praxis bereichern wird.
Es verbleibt nur ein Wunsch nach dieser ‚Einführung‘: eine deutliche konkretere Ausführung zur handlungsmethodischen Umsetzung in einem weiteren Band.
Literatur
Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik, Weinheim.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann
Professor für Soziale Arbeit im Fernstudium an der IU Internationale Hochschule und Studiengangleiter sowie seit 2000 in freier Praxis als Sozialarbeitsforscher, Praxisberater und Trainer tätig [www.eins-berlin.de].
Schwerpunkte: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Inklusion, Partizipation, Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, Lösungsfokussierter Beratungsansatz, Inklusion, Partizipation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen Sozialer Arbeit, Gestaltung von Qualitätsmanagementprozessen, partizipative Praxisforschungen und Evaluationen.
Website
Mailformular
Es gibt 32 Rezensionen von Stefan Godehardt-Bestmann.
Zitiervorschlag
Stefan Godehardt-Bestmann. Rezension vom 15.11.2023 zu:
Lothar Böhnisch: Milieu und Milieubildung. Einführung in die milieuorientierte Soziale Arbeit. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7558-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30848.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.