Marina Chernivsky, Friederike Lorenz-Sinai: Antisemitismus im Kontext Schule
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 11.03.2024

Marina Chernivsky, Friederike Lorenz-Sinai: Antisemitismus im Kontext Schule. Deutungen und Praktiken von Lehrkräften.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
102 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7430-7.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Antisemitismus in institutionellen Kontexten. .
Thema
Der 7. Oktober 2023 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Noch nie nach 1945 hat es eine solche Welle antisemitischer Übergriffe gegeben, noch nie war die Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden so hoch wie nach dem Massaker der Terrororganisation Hamas an der israelischen Bevölkerung. Einen von vielen Orten der Gefahr stellen, wie die Ereignisse in den letzten Monaten deutlich zeigen, die staatlichen Bildungseinrichtungen, Hochschulen und Schulen, dar. Entsprechend gefordert ist das Lehrpersonal. Wie aber steht es um die Kompetenz von Lehrer:innen, professionell gegen Antisemitismus in den Schulen vorzugehen? Wie nehmen Schulleitungen und Lehrer:innen Antisemitismus in der Schule wahr und welche Interventionspraktiken verfolgen sie? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des neuen Buchs von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai.
Entstehungshintergrund
Die Studie ist Teil einer seit dem Jahr 2018 laufenden Bundesländerstudienreihe zu Antisemitismus an Schulen in Berlin, Baden-Württemberg, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Sie wurde in Kooperation des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment, das von Marina Chernivsky geleitet wird, und der Fachhochschule Potsdam, an der Friederike Lorenz-Sinai Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung ist, durchgeführt. Die beiden Autorinnen forschen seit vielen Jahren zu Antisemitismus an Schulen und Gedenkstätten und arbeiten konzeptionell zur Bildungsarbeit gegen Antisemitismus.
Aufbau
Der schmale Band (102 Seiten) umfasst sechs Kapitel und ein Resümee. Nach einer Darstellung der Ausgangslage und einer Skizzierung der Diskussion zum Antisemitismusbegriff sowie des Forschungsstands (Kapitel 1 & 2) begreifen die Autorinnen Antisemitismus als eine „gewaltförmige Struktur“. Es handele sich um das „Kontinuum einer Gewaltpraxis“, in dem individuelle wie institutionelle, direkte wie indirekte, intentionale wie nicht-intentionale, non-verbale und verbale sowie physische und psychische Formen der Gewalt gegen Jüdinnen und Juden ineinander übergehen und sich miteinander verschränken (Kapitel 3). Auf der Grundlage dieser struktur- und praxistheoretisch gleichermaßen inspirierten Begriffsbestimmung entwickeln Chernivsky und Lorenz-Sinai ihre empirische Methodik. In zehn narrativen Einzelinterviews mit Lehrer:innen und fünf Gruppendiskussionen ebenfalls mit Lehrer:innen aus verschiedenen Berliner Stadtbezirken und unterschiedlichen Schulformen (Grundschule, Oberschule, Gymnasium) untersuchen sie die Wahrnehmung und den Umgang des Fachpersonals mit Antisemitismus im schulischen Alltag. Dabei begreifen die Autorinnen die Schule als eine „spezifische soziale Welt“, in der „der Umgang mit Antisemitismus in kontextspezifischen Praktiken und Routinen […] vollzogen wird“: „In narrativen Praktiken über Antisemitismus, die sich in Institutionen wie der Schule formen, verschränken sich implizite sowie explizite Wissensbestände der Beteiligten, ihre professionellen Selbstbilder und institutionelle Verhältnisse […]. Diese werden in der vorliegenden Studie anhand von Einzelinterviews und Gruppendiskussionen aus dem Datenmaterial rekonstruiert und analysiert“ (S. 31; Kapitel 4). Dabei ist die Analyse auf vier Themenbereiche fokussiert:
- die (berufs-)biographischen Berührungen der Lehrer:innen mit Antisemitismus;
- die impliziten und expliziten Verständnisse der Lehrer:innen von Antisemitismus;
- die Wahrnehmungen und Deutungen von antisemitischen Übergriffen aus der Lehrer:innenperspektive sowie die Strukturmerkmale ihrer Interventionsschilderungen und schließlich
- die von den Lehrer:innen formulierten „Bedarfe und Ansatzpunkte“ (S. 34; Kapitel 5).
Eine Zusammenfassung der Befunde und ein Resümee schließen das Buch ab (Kapitel 6 & 7).
Inhalt
Antisemitismus hat es gegeben, aber es gibt ihn nicht mehr, jedenfalls nicht bei „uns“ – diese Form der Realitätsverleugnung bestimmte, wenn auch in unterschiedliche Legitimationen gehüllt, die Gründungsmythen der beiden postnazistischen Staaten im zweigeteilten Deutschland nach 1945. Die Realität sah anders aus. Es entwickelte sich – in West wie Ost – eine eigentümliche Doppelstruktur aus Krypto- und Alltagsantisemitismus. Waren offene antisemitische Invektiven offiziell nicht mehr erlaubt und nur noch über kommunikative Umwege möglich, so wucherte der Antisemitismus auf allen Ebenen des Alltags fort – in Form nicht-öffentlicher Meinung, tradierter Wissensbestände, dumpfer Ressentiments. Als solche war Antisemitismus buchstäblich überall anzutreffen, in der Familie, in der Schule, im Sportverein, in der Straßenbahn, beim Einkaufen, bei Behördenbesuchen, in jedem erwarteten und unerwarteten Augenblick. Es ist deswegen immer wieder irritierend, wenn Mitglieder der ersten, zweiten oder auch dritten Nachkriegsgeneration behaupten, in ihrer Kindheit keine Berührungspunkte mit Antisemitismus gehabt zu haben. Da dies faktisch fast unmöglich war, hat die sozialpsychologische These einige Plausibilität, dass wir es hier mit jenem verinnerlichten Wahrnehmungsverbot zu tun haben, das nach Art der ‚unmöglichen Tatsache‘ (weil nicht sein kann, was nicht sein darf) funktioniert und Teil des mittlerweile recht gut erforschten, intergenerationell vererbten postnazistischen Abwehrsyndroms ist (vgl. Lohl 2010).
Auch der überwiegende Teil der Interviewpartner:innen von Chernivsky und Lorenz-Sinai behaupten, in ihrer Kindheit nie mit Antisemitismus in Berührung gekommen zu sein, bis sie dann schließlich doch entweder durch den Geschichtsunterricht in der Schule oder durch Film und Literatur, z.B. die US-amerikanischen Serie „Holocaust“, von der Existenz dieses Phänomens erfahren hätten. Die Autorinnen sehen darin die erwähnte, ebenso typische wie bemerkenswerte Form der nachkriegsdeutschen Derealisierung der eigenen Verstrickung in die Struktur des Antisemitismus. Mit ihr gehe eine Delegierung der Auseinandersetzung mit Antisemitismus einher, die offensichtlich nicht als Bildungsaufgabe von Eltern oder Familie, sondern allein von Schulen und Gedenkstätten verstanden wurde (und wohl noch immer wird). Familiär überwiegen denn auch in den Interviews dieser Studie die bekannten „verzerrten Narrative“, die die „Leidenserfahrungen der Eltern und (Ur-)Großeltern“ in den Mittelpunkt stellen und „Fantasien einer empirisch äußerst unwahrscheinlichen Nicht-Involviertheit oder sogar Widerständigkeit eigener Angehöriger“ transportieren. Antisemitismus erscheint den meisten Lehrer:innen in ihrer Erinnerung als zeitlich und räumlich fernes Phänomen, das mit der eigenen Biographie und Lebensrealität wenig bis nichts zu tun hat. Eben so wenig tauchen Jüdinnen und Juden als reale Menschen in den Kindheitserinnerungen auf. Sie werden auf den Status historischer Objekte reduziert und ausschließlich als Opfer der Shoah identifiziert. Umso überraschender waren für die Lehrkräfte die antisemitischen Übergriffe im schulischen Kontext, mit denen sie im überwiegenden Teil zum ersten Mal in der Zeit ihres Referendariats und Berufseinstiegs konfrontiert wurden und die ihrer Wahrnehmung nach vor allem aus dem „muslimischen Milieu“ kamen. Die Autorinnen schlussfolgern daraus, dass im scharfen Kontrast zu der Erfahrung von Jüdinnen und Juden „die Kontinuität antisemitischer Ressentiments den Nicht-Betroffenen wenig bewusst und affektiv nicht zugänglich ist. Es bedarf radikaler Ereignisse, die als ungewöhnlich, herausragend, überraschend wahrgenommen werden, um überhaupt registriert zu werden“ (S. 49).
Angesichts dieser lebensgeschichtlichen Derealisierung des Antisemitismus mag es überraschen, dass die meisten Lehrkräfte, die Chernivsky und Lorenz-Sinai befragten, „differenzierte Konzepte von Antisemitismus haben und dass diese auf Wissensbeständen aus aktuellen Diskursen und theoretischen Konzepten basieren wie beispielsweise dem der ‚gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘“ (S. 52). Sie können Formen von Antisemitismus unterscheiden und haben zum Teil auch eine Vorstellung von der Spezifik des Phänomens, die es von allen anderen Rassismen qualitativ unterscheidet. Dieses Wissen wird aber nicht handlungswirksam. Im Gegenteil: Chernivsky und Lorenz-Sinai beobachten eine deutliche Kluft zwischen Wissen und Handeln. Wenn es nämlich konkret wird, wenn es also um konkrete antisemitische Übergriffe in den Schulen geht, tendieren die Lehrer:innen wider besseres Wissen zu einer merkwürdigen „Verrätselung“ des Sachverhalts. Es ist überaus erstaunlich, was ihnen alles einfällt, um in Frage zu stellen, ob es sich bei Antisemitismus tatsächlich um Antisemitismus handelt. Schritt für Schritt wird dieser wegdefiniert, insbesondere wenn es sich um die gar nicht so seltenen antisemitischen Äußerungen von Kolleg:innen handelt (eine Praxis, die mir übrigens auch aus Hochschulen bestens bekannt ist): „Die deutliche Differenz zwischen Konzepten über Antisemitismus, die Lehrer_innen auf direkte Nachfrage im Interview explizieren, und das häufig metaphorische Sprechen über die Ungreifbarkeit von Antisemitismus, wenn es um den schulischen Kontext geht, ist ein wesentlicher Befund, um die Schwierigkeit der Intervention zu begreifen. Eine mögliche Erklärung ist, dass Antisemitismus aufgrund der […] Tabuisierung nach der Shoah eigentlich nicht sein darf. Es gibt ein beredtes Schweigen darüber; obwohl bekannt ist, dass es Antisemitismus gibt, wird der Bezug zum eigenen Alltag und schulischen Kontext überwiegend durch Relativierungs- und Distanzierungsschleifen unterbrochen“ (S. 58).
Entsprechend diffus und unklar bleiben die Interventionsschilderungen der Lehrer:innen. Chernivsky und Lorenz-Sinai unterscheiden „vier Strukturmerkmale“ im Umgang mit antisemitischen Übergriffen: (1) Wenn überhaupt interveniert werde, werde zumeist konzeptlos, diffus und emotionalisiert gehandelt. Zwar scheine (2) eine Offenheit für externe Beratung zu bestehen, deutlich sei aber auch (3) die Tendenz, den antisemitischen Gehalt einer Äußerung zu relativieren und die „Existenz von Antisemitismus an Schulen […] kontinuierlich mit einem Fragezeichen [zu] versehen“ (S. 84). Antisemitismus wird (4) wiederkehrend als „Pubertätssymptom“ (weg-)erklärt, das sich von allein erledige und keiner besonderen Intervention bedürfe. Auffallend sei zudem, dass die Perspektive der von Antisemitismus betroffenen Schüler:innen in den meisten Fällen nicht berücksichtigt werde. So fehlen bei den Ideen, die die Lehrer:innen zur Arbeit gegen Antisemitismus an Schulen äußern, ausgerechnet Schutzkonzepte für die potenziell Betroffenen.
Diskussion
Was hat sich verändert? Als wir (Follert/Stender 2010; Stender 2011) vor mehr als fünfzehn Jahren unser Forschungsprojekt über Antisemitismus bei Schüler:innen und dessen Wahrnehmung bei Lehrer:innen durchführten, irritierten uns vor allem die merkwürdig widersprüchlichen Äußerungen der Lehrer:innen. Während uns in allen Gruppendiskussionen mit den Schüler:innen von antisemitischen Übergriffen wie auch der häufigen Verwendung des Schimpfworts „Du Jude!“ an den Schulen berichtet wurde, wichen die Äußerungen der Lehrer:innen davon zum Teil so erheblich ab, dass man den Eindruck gewinnen konnte, die Pädagog:innen befänden sich an einer anderen Schule als ihre Schüler:innen.
Es gab zwei wiederkehrende Wahrnehmungsmuster, die sich zwischen den Polen der Bagatellisierung und des Alarmismus bewegten. Entweder bestritten die Lehrer:innen, dass es Antisemitismus bei den Schüler:innen überhaupt gibt, und verneinten auch, dass das Schimpfwort „Du Jude!“ im Sprachgebrauch der Schüler:innen vorkommt. Oder die Lehrer:innen reagierten in spezifischer Weise alarmistisch, indem sie den Antisemitismus als ausschließliches, allerdings hoch virulentes Problem der „muslimischen Schüler:innen“ darstellten. Während die ‚Bagatellisierer‘ den Schüler:innen schlicht die kognitiv-affektive Fähigkeit absprachen, antisemitisch zu handeln, das Berichtete auf ein „Generationenproblem“ reduzierten und es überhaupt für falsch hielten, die antisemitischen Situationen an den Schulen zu thematisieren, zogen die ‚Dramatisierer‘ eine scharfe Grenze zwischen einem anti-antisemitisch geläuterten, deutsch-autochthonem „Wir“ und den antisemitischen „Anderen“, die durchweg als „muslimisch“ und „von außen kommend“ markiert wurden. Letztlich bedienten sich beide altbekannter, sekundärantisemitischer Abwehrstrategien: Bagatellisierung auf der einen Seite, Externalisierung des Problems des Antisemitismus auf der anderen Seite.
Vergleicht man unsere Befunde von damals mit den Ergebnissen der Studie von Chernivsky und Lorenz-Sinai, so zeigt sich, dass sich in den fünfzehn Jahren nicht viel verändert hat. Die Tendenz, antisemitische Übergriffe zu bagatellisieren und zu externalisieren, scheint auch heute noch ein gängiges Muster bei Lehrer:innen zu sein. Verändert hat sich aber das Wissen über Antisemitismus. Lehrer:innen scheinen heute mehr über Antisemitismus und seine aktuellen Formen zu wissen als damals – eventuell ein Ergebnis erfolgreicher Fortbildungsarbeit in diesem Bereich? Mehr Wissen bedeutet aber nicht automatisch einen Zuwachs an Handlungskompetenz und professioneller Interventionsfähigkeit. Die Studie von Chernivsky und Lorenz-Sinai kommt hier zu einem ernüchternden Ergebnis: Die festgestellte Relativierungstendenz vieler Lehrkräfte „in Verbindung mit institutionell fehlenden schulischen Konzepten wirkt sich auf die Verfestigung antisemitischer Strukturen an Schulen aus und erhöht die Bedrohung und Unsicherheit für antisemitisch attackierte Schüler_innen und ihre Familien, die sich nicht darauf verlassen können, dass Lehrer_innen antisemitische (Sprach-)Handlungen erkennen, einordnen und von selbst dagegen intervenieren“ (S. 96).
Fazit
Die genaue Untersuchung des Umgangs mit Antisemitismus an Schulen ist eine Voraussetzung, um wirksame Konzepte der Prävention und der Intervention zu entwickeln. Dazu leistet die mit psychologischem Feingespür verfasste Studie von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai einen wichtigen Beitrag.
Literatur
Lohl, Jan (2010): Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus, Gießen: Psychosozial-Verlag.
Follert, Guido/Stender, Wolfram (2010): „das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt“. Antisemitismus bei Schülern in der Wahrnehmung von Lehrern und Schulsozialarbeitern, in: Wolfram Stender/Guido Follert/Mihri Özdogan (Hg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden: Springer, S. 199–223.
Stender, Wolfram (2011): Ideologische Syndrome. Zur Aktualität des sekundären Antisemitismus in Deutschland, in: Markus Brunner u.a. (Hg.), Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie und seiner Nachwirkungen, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 227–249.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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