Helmut Spitzer: "Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras"
Rezensiert von Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz, 08.08.2023

Helmut Spitzer: "Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras". Soziale Arbeit in Afrikas Region der Großen Seen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 221 Seiten. ISBN 978-3-7799-6138-3. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR.
Vorbemerkung: Hintergrund und Linie des Buches
Der letzte Satz „I am proud to be a social worker“ zieht sich als stets präsente Botschaft durch dieses wichtige, sehr lesenswerte und zugleich nachdenklich machende Buch. Zusammen mit dem Titel „Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras“, eine afrikanische Metapher für Konfliktparteien, die sich bekämpfen, wird ein Rahmen geschaffen, aus dem heraus, über Jahre gewachsen, ein Buch entstand. Es verortet sich in diesem Rahmen und geht zugleich darüber hinaus, indem Überlegungen zu Theorie und Praxis für eine Internationale Soziale Arbeit vorgelegt werden, die als grundlegend und zugleich wegweisend zu verstehen sind.
Aus seinen langjährigen und durch viele eigene Forschungsprojekte gestützten Erfahrungen mit der Entstehung und Aktualität der Sozialarbeit in Afrikas Region der Großen Seen legt der Autor eine „Dichte Beschreibung“ vor, die nicht nur tiefe Einblicke in vielfältige historische und aktuelle Konflikte vermittelt, sondern auch zeigt, wie Sozialarbeit, zunächst entwickelt und geprägt vom kolonialen Import, einem „professionellen Imperialismus“ mit hegemonialem Charakter, sich der eigenen Kultur, der eigenen Geschichte und den eigenen Problemen zuwendet. Mit der Zeit wurde und werden westliche Vorstellungen der Sozialarbeit durch eine kontextbezogene Sozialarbeit mit eigenen Zugängen und Praxen erweitert, die als Indigenisierung erörtert wird, aber auch als Kontextualisierung verstanden werden kann.
Der Autor, Helmut Spitzer. Professor für Soziale Arbeit an der FH Kärnten, hat über lange Jahre (25 an der Zahl) sich immer wieder, etwa 40 Mal, in der Region der Großen Seen aufgehalten. Er hat in Uganda, Burundi, Ruanda, Ostkongo, Kenia und auch Tansania geforscht, indem er eine größere und beeindruckende Zahl umfangreicher Projekte etablierte. Er hat aber auch vielfältige Kontakte zu Sozialarbeitenden und zu Universitäten hergestellt. Bei seinen Reisen wurde er immer wieder von Studierenden seiner FH begleitet, von denen sich einige auch zu Praktika in der Region aufhielten.
Aus diesen Erfahrungen hat er, begonnen 2017, über Jahre ein Buch komponiert, das zielführend für die weiteren Diskussionen einer Internationalen Sozialen Arbeit sein kann. In seiner „Dichten Beschreibung“ wird nämlich das in großer Klarheit erkennbar, was als Indigenisierung und Kontextualisierung in der Fachwelt schon länger diskutiert wird.
Aufbau und Inhalt
Der Aufbau des Buches hat eine klare Logik. Dabei bauen die Kapitel aufeinander auf – und können doch auch jedes für sich gelesen werden. Die Gliederung weist 10 Kapitel auf. Dabei zeichnen die ersten beiden Kapitel Hinführungen und Zugänge des Autors nach. Das dritte Kapitel vermittelt einen kurzen aber sehr spannend formulierten historischen Abriss, in dem Linien von vorkolonialen Sozialsystemen bis hin zu „moderner“ Sozialarbeit gezogen werden. Im vierten Kapitel werden wichtige Diskurslinien der Sozialarbeit, in den Großen Seen und in Afrika südlich der Sahara ganz generell, eben einer indigenisierten und kontextualisierten Sozialarbeit erörtert, die prägend für die Praxis sind. Die Kapitel 5 bis 8 beschäftigen sich jeweils mit einer speziellen Region; mit Burundi, Ruanda, Ostkongo und Norduganda, indem sie vor dem Hintergrund vielfältiger Konflikte, so dem Genozid an den Tutsi, den Konflikten in Norduganda und dem Ostkongo, die Entwicklung und die Aktualität der Sozialarbeit umfangreich diskutieren. Im Kapitel 9 widmet sich der Autor weiteren Handlungs-, Forschungs- und Aktionsfeldern. Das abschließende Kapitel stellt die Diskussionen des Buches in den Diskurs einer internationalen Zusammenarbeit.
Der unglaubliche Reichtum des Buchs, der immer wieder dazu führt, beim Lesen innezuhalten und mitunter auch einige Seiten wieder zurück zu gehen, kann in einer Rezension noch nicht einmal ansatzweise ausgebreitet werden. Diese kann nur mit wenigen Hinweisen Appetit machen, das Buch selbst zu lesen. Insofern werden nur kurze Blitzlichter auf die einzelnen Kapitel geworfen.
Das erste Kapitel zeigt die Schönheit von Afrikas Region der Großen Seen. Es wird aber auch erkennbar, dass es eine weitverbreitete und extreme Armut gibt, mangelnde Berufs- und Einkommenschancen, vielfache Phänomene sozialer Ausgrenzung und verschiedene Formen von Gewalt. Insgesamt lässt sich eine Fülle von Menschenrechtsverletzungen beobachten. Dennoch weist der Autor immer wieder darauf hin, dass die Menschen nicht nur passive Opfer, sondern auch aktive Mitgestalter*innen gesellschaftlicher Prozesse sind. Er spricht oft, an vielen Stellen, von einer großen Resilienz der Menschen, die sich immer wieder neu orientieren und ihr Leben in Würde zu gestalten suchen. Soziale Arbeit hatte und hat es zwar schwer, zumal sie eine sehr junge Disziplin ist, sie ist sehr fragil, aber dennoch selbstbewusst und aktiv. Auch hat sie kaum eine staatliche Unterstützung, der Staat ist sich seiner sozialen Verantwortung kaum bewusst und wälzt vieles auf internationale Organisationen ab. Zwar leben viele Sozialarbeitende selbst am Abgrund, dennoch sind sie präsent und versuchen sowohl das Leid in den Lebenswelten zu mildern, soziale Entwicklungsprozesse in Gemeinwesen anzuschieben und sich dabei auch noch politisch einzumischen.
Im zweiten Kapitel, das ich als ein zentrales ansehe, schildert der Autor sehr eindrucksvoll seinen persönlichen Zugang aus Empörung über jegliche Verletzung der Menschenwürde heraus, der an dieser Stelle aber nicht vertieft werden kann. Deutlich wird, und das sei noch erwähnt, dass er große Hoffnung mit einer politischen Sozialarbeit verbindet. Das klingt sympathisch und findet sich auch im Buch wieder. Wichtig wird daneben vor allem der empirische und erkenntnistheoretische Zugang, den ich für Soziale Arbeit ungewöhnlich und erfrischend bewerte. Vorgestellt werden zunächst die überzeugenden und spannenden Forschungsprojekte, die Vielfalt der entstandenen Hochschulkooperationen und Praxisbezüge. Dabei wird dann deutlich, dass der Autor einen eher ethnologischen bzw. feldforschenden und somit verstehenden und rekonstruierenden Zugang hat. Entscheidend dabei ist, und dies belegt der Autor nachvollziehbar, dass alle Aussagen über Afrika immer aus der Sicht eines kulturell Außenstehenden geschehen, wofür es mit „mzungu“ einen afrikanischen Begriff gibt, der in seiner Tiefe und Problematik ausführlich erörtert wird. Dazu gehört eine kritische Reflexion der eigenen und klar eurozentrischen Perspektive, die nur durch eine differenzierte Betrachtung der beforschten Realität relativiert werden kann, die versucht, andere Sichtweise zu reflektieren und sich dabei auch, so gut es geht, von der eigenen ein wenig zu lösen. Das ist klassisch für ethnologische Zugänge und sollte, von diesem Buch ausgehend, allmählich zum Standard internationaler Sozialarbeit gehören. Ansätze einer partizipativen Forschung, die auch vom Autor umgesetzt wird, gibt es durchaus. Wichtig wird dabei, wie es der Autor feststellt, eine dialogische und intersubjektive Rückkopplung der Ergebnisse an die „Beforschten“. Getragen wird diese Forschung und die anschließende Darstellung, in Anlehnung an Achille Mbembe, durch den Modus der Anerkennung der Anderen. Das ist nach meiner Auffassung Helmut Spitzer als Forscher und Autor gelungen. Vor diesem Hintergrund wird dann auch die immer wieder geäußerte Kritik an dem kolonialen Import der Sozialen Arbeit aus dem Norden fokussiert: diese Idee der Anerkennung anderer Sichtweisen, Wissens und Lebenswelten ist darin einfach nicht erkennbar. Daraus ergab sich schließlich für eine kritische, reflexive und vor allem den eigenen Problemen verpflichtete und sich deshalb kontextualisierende Sozialarbeit die Herausforderung, sich den eigenen Traditionen zu vergewissern, um daraus eine Theorie und Praxis zu entwickeln, die konkrete und den Lebenswelten angemessene Antworten auf die jeweiligen Problemstellungen in ihren historischen und aktuellen Konstellation findet. Das wird dann in den folgenden zwei Kapiteln verdichtet.
Im Kapitel drei wird zunächst ein historischer Abriss dargestellt, der aufzeigt wie Sozialarbeit sich allmählich vom kolonialen Import, der als „professioneller Imperialismus“ nachgezeichnet wird, gelöst hat, eigenständiger und afrikanischer wurde. Dabei wandte sich Theorie und Praxis allmählich im Kontext der Dekolonialisierung einer Indigenisierung Sozialer Arbeit zu. Im anschließenden Kapitel werden die dazu gehörigen Kontexte erörtert. Da ist zum einen Ubuntu als eine mögliche „afrikanische Ethik“ der Sozialen Arbeit, die darauf ausgerichtet ist, dass der Mensch nur durch die anderen Menschen zum Menschen wird. Im Fokus stehen Werte und Praxen wie Harmonie, Respekt, Menschenwürde und auch Hilfsbereitschaft. Ubuntu könnte als eine afrikanische Grundlegung einer indigenisierten Sozialarbeit verstanden werden, die sich auf den Menschen, dessen Würde und Rechte, sowie auf das Gemeinwesen bezieht. Es zeichnet den Autor aus, dass er diesen Komplex umfassend und auf der Basis von Originalliteratur nicht euphorisch oder romantisierend sondern kritisch und dennoch respektvoll erörtert. In diesem Kapitel wird aber auch sehr klar erörtert, dass der Fokus der Sozialarbeit nicht der Fall oder das einzelne Subjekt ist, sondern das Gemeinwesen. Insofern wird umfangreich der Ansatz einer Sozialarbeit als soziale Entwicklung diskutiert, der sich gleichfalls als eine Indigenisierung oder Kontextualisierung verstehen lässt. Darin geht es vor allem auch darum, die Kräfte, die spezifische Kultur und die Resilienz der Gemeinschaft zu nutzen und zu entfalten, um das Leben aller zu verbessern. Das ist sicherlich nicht prinzipiell afrikanisch, aber es ist eine Strategie, die im Kontext der Problemstellungen am effektivsten und angemessensten erscheint. Damit einher geht auch, dass Sozialarbeit sich zunächst vor allem um Basisabsicherung der Menschen bemühen muss, um Ernährung, Gesundheit, Bildung oder Wasserversorgung. Im Fokus steht aber auch eine Positionierung gegen Menschenrechtsverletzungen sowie Praxen, die ständige Gewalterfahrungen, von häuslicher Gewalt bis zu erfahrener Gewalt in politischen Konflikten, aufarbeiten, wie es das Beispiel der Kindersoldat*innen zeigt.
Die Kapitel 5 bis 8 widmen sich jeweils ganz spezifisch einer Region (Burundi, Ruanda, Ostkongo und Norduganda). Sie sollen hier nicht einzeln besprochen werden, dies überschritte die Absicht und die Möglichkeiten einer Rezension. Der Überblick offenbart: Sie ähneln sich und sind doch unterschiedlich, da sich jeweils andere Kontexte und Konfliktlagen zeigen. Sozialarbeit wird immer in dem jeweiligen historischen Kontext verortet und zugleich in der aktuellen politischen Situation erörtert, die unterschiedliche Herausforderungen stellt. Deutlich wird, dass die Entwicklungsstränge Sozialer Arbeit sehr unterschiedlich sind. In Uganda ist sie inzwischen stärker akademisch untersetzt, während für den Ostkongo das Gegenteil zutrifft. Dennoch finden sich überall engagierte, stolze und auch mutige Sozialarbeitende, die sich den jeweiligen Konfliktlagen stellen. Auch haben sie ein Bewusstsein ihre Profession entfaltet, Berufsverbände gegründet und sind bereit, sich auch politisch einzumischen. Was diese Kapitel aber vor allem auszeichnet, das sind die vielen und interessanten Praxisbeispiele, die überzeugend darlegen, was Indigenisierung und der Bezug auf indigenes und traditionelles Wissen meint. Hier wird aber auch der verwobene Aspekt des „professionellen Imperialismus“ mit seinen für afrikanische Verhältnisse zunächst unspezifischen Theorien und Methoden mit der jeweiligen Kontextualisierung herausgearbeitet. Diese Beispiele und Erzählungen prägen diese Kapitel und verleihen dem Buch eine Besonderheit, da es diese Verdichtung bisher nur selten zu lesen gab.
Im 9. Kapitel werden weitere Themen aufgegriffen, die den Autor bewegen und dazu herausfordern, konkrete Stellung zu beziehen. Sie zeigen ein weites Spektrum: Kinder- und Jugendhilfe in Tansania, Kinder in Straßensituationen, Soziale Arbeit in Slums, Soziale Arbeit auf dem Land, Altenarbeit. Dabei soll an dieser Stelle besonders auf die nachvollziehbare und sehr umfängliche Differenzierung der Kinder in Straßensituationen hingewiesen werden, die weit über Vorliegendes hinausgeht und als innovativ betrachtet werden muss. Zum Schluss werden im Kapitel noch Aktivitäten zum World Social Work Day in diesen Ländern geschildert, die allesamt zeigen, wie politisch Soziale Arbeit in der Region der Großen Seen ist. Es hat sich ein spannender Entwicklungsprozess vollzogen.
Das letzte Kapitel, das sich der Solidarität und Bescheidenheit in der internationalen Zusammenarbeit widmet, ist keine Zusammenfassung oder ein Fazit im üblichen Sinne. Es ist vielmehr ein Appell – mit großer Tragweite! Mit einer kurzen Betrachtung gehe ich schon in die allgemeine Diskussion des Buches über:
Statt eines Fazits stellt der Autor vielmehr fest, dass Soziale Arbeit in afrikanischen Kontexten vor allem eines braucht: eine „starke Soziale Arbeit mit afrikanischer Identität und afrikanischen Konzepten“. Dieses nachzuzeichnen und nachvollziehbar sowie argumentativ zu erörtern ist dem Autor vielfältig und überzeugend gelungen. Dies ist zudem eine der essenziellsten Aussagen des vorliegenden Buches. Er fordert aber zum zweiten von internationalen Organisationen und internationaler Sozialer Arbeit, und das ist aus meiner Sicht der zweite zentrale Punkt in diesem Kapitel (und im Buch), in der Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit afrikanischen Partnern mehr Solidarität sowie Demut und Bescheidenheit. Das bedeutet ein „sich einlassen“ auf das andere (auf das afrikanische), auf dessen Geschichte, Traditionen, Lebenswelten und Menschen – aber auch eine kritische Reflektion des eigenen kolonialen Hintergrundes, der eigenen Haltung und des Weiß-Seins. Helmut Spitzer fordert damit, und auch mit seinem ganzen Buch, von der Internationalen Sozialarbeit sich nicht nur mit den jeweiligen lokalen Kontexten zu beschäftigen, sondern auch die eigene Verstrickung, die mit dem kolonialen Import als „professionellem Imperialismus“ begann, kritisch zu reflektieren und den eigenen Standpunkt immer zu hinterfragen.
Diskussion
Es ist ein für die Internationale Soziale Arbeit sehr wichtiges und wegweisendes Buch, das sicherlich eine große Nachhaltigkeit in den weiteren Diskursen erlangen kann. Dem Autor ist eine Arbeit gelungen, die im klassisch ethnologischen Sinne eine „Dichte Beschreibung“ der Sozialarbeit rund um Afrikas Große Seen darstellt. Doch darüber hinaus liefert Helmut Spitzer viele Ansätze bzw. erörtert diese, die zwar im internationalen Diskurs bereits mehr oder weniger fokussiert werden, die aber durch dieses Buch noch einmal eine Beschleunigung, eine Intensivierung und vielleicht eine Pfadänderung erfahren können, die zu einem „neuen Denken“ der Internationalen Sozialen Arbeit anregt. Einige dieser Thesen seien benannt.
Der Autor legt seinen eigenen und persönlichen Zugang und somit seine eigenen ethischen Hintergründe – Menschenrechte und Würde – offen und versteckt sich nicht im üblichen wissenschaftlichen Modus des rein fachlichen Interesses und damit verbundener „Objektivität“. Sicherlich hat auch er ein fachliches Interesse und bedient sich gekonnt etablierter wissenschaftlicher Methodik, doch bei allem bleibt er als Persönlichkeit erkennbar, seine eigene Subjektivität (und Betroffenheit in Armuts- und Gewaltsituationen) verschwindet auch deswegen nicht, da er diese im Dialog mit der anderen Welt immer wieder relativiert und sie auf seine eigenen kolonialen und privilegierten Hintergründe als Weißer beziehen kann. Das wird in den erzählerischen Momenten des Buches, wenn persönliche Erfahrungen und Fallbeispiele geschildert werden, besonders deutlich. Dabei steht zwar persönliche Betroffenheit im Vordergrund – doch es geht auch immer wieder in wissenschaftliche Analysen über, die aber die Betroffenheit nicht negieren, sondern auf die Ebene der Reflektion heben und in die Logik des Buches einbauen.
Dies ist auch seinem zweiten Zugang zu verdanken, seiner ethnologischen Methodik. Es gibt bisher wenige Bücher, die konsequent und fruchtbar ethnologisches Denken und Forschen für die Sozialarbeit verfügbar machen. Dabei liegt dies auf der Hand: Sozialarbeit muss immer und zunächst die Anderen (meinetwegen ihr Klientel) in ihrer Lebenswelt, in ihren Traditionen und ihren Kulturen verstehen – und das geht eben am ehesten mit dem Instrumentarium der Ethnologe, von teilnehmender Beobachtung über Feldtagebücher bis hin zu Erzählungen und deren dialogischer Interpretation. Es gelingt dem Autor, die darin liegenden Chancen für Sozialarbeit zu zeigen. Eigentlich ist dieses Buch dann auch eine Aufforderung, ethnologisches Denken und Forschen in der Sozialen Arbeit vermehrt anzuwenden, insbesondere in der Internationalen Sozialen Arbeit.
Das Buch zeigt aber auch in seiner Dichte und Breite, seinen Analysen und Erzählungen, die Idee und die Praxis der Indigenisierung, die vielfach diskutiert nach meiner Wahrnehmung noch immer als theoretisches Narrativ dasteht. Der Autor gibt diesem Narrativ Konturen. Es wird am Begriff Ubuntu nicht nur die Bedeutung dieser afrikanischen Ethik kritisch reflektiert, sie wird auch durch eine Fülle von Beispielen konkret und somit auch in ihrer Widersprüchlichkeit erkennbar.
Neben Ubuntu diskutiert der Autor auch sehr umfangreich einen weiteren Topos der internationalen Diskurse, die Idee und das Konzept der sozialen Entwicklung. Auch hier wird an vielen Beispielen illustriert und analysiert, was dies meint und wie wesentlich dieser entwicklungsbezogene Ansatz für Sozialarbeit in afrikanischen Kontexten ist. Nicht der Fall steht im Fokus, sondern das Gemeinwesen. Es wird in diesen Zusammenhängen aber auch immer wieder die Bedeutsamkeit traditioneller Kulturen und Rituale erörtert, wie es der Autor an der Reintegration von Kindersoldat*innen eindrucksvoll darlegt.
Die Bedeutsamkeit der im Buch beschriebenen Loslösung vom „professionellen Imperialismus“ hin zu einer Indigenisierung und Kontextualisierung zeigt sich vor allem in der Praxis, die indigenes Wissen, gemeinwesenbezogene Methoden und wichtige Rituale der Kulturen aufgreift, die aber bis heute nur marginal in den akademischen Ausbildungsinstitutionen (Fachschulen bis Universitäten) vertreten sind bzw. gelehrt werden, obwohl es auch hier Aufbrüche gibt. Dennoch wird überwiegend noch nach westlichen Vorstellungen, auf der Basis kolonialer Importe, ausgebildet.
Wir erfahren, wie marginal Sozialarbeit nach dem Ende des Kolonialismus war und wie sich diese als Profession, bis hin zur Bildung von Berufsverbänden, erst allmählich unter schwierigen Bedingungen und angesichts großer Armut und vielfältiger Gewalterfahrungen der Menschen zu einem Beruf entwickelte, der sich diesen Herausforderungen stellt, sich in Berufsverbänden organisiert und Menschen stolz macht, Sozialarbeitende zu sein.
Nach dem Lesen des Buches wird deutlich, was die Sozialarbeit in diesen Konflikt- bzw. Postkonfliktgesellschaften täglich leistet, in denen, geprägt von kämpfenden Elefanten, den jeweiligen Konfliktparteien, das Gras und somit das Leben der Menschen leiden. In diesen Konflikten für leidende Menschen präsent zu sein, sich politisch einzumischen, was vom Autor vielfach aufgezeichnet wird, daraus wächst schlussendlich jener Stolz, der sich im Buch immer mehr verdichtet und am Ende auch benannt wird.
Beim Lesen entsteht ein Bild, und das sei noch einmal besonders betont, was diese eindrucksvollen Schilderungen und Rekonstruktionen aus einer Region des Globalen Südens für eine Internationale Soziale Arbeit bedeuten. Sie sind als großer Gewinn für die vielfältigen Diskurse zu sehen. Mit einer Fülle von Forschungsergebnissen, die auf beeindruckenden Forschungsprojekte des Autors beruhen, Beispielen und persönlichen Erfahrungen wird das konkret, was in der Internationalen Sozialen Arbeit schon länger, doch zumeist eher jenseits der Praxis und somit stark theoretisch, diskutiert wird: die Kritik an und die allmähliche Ablösung von Modellen des Westens im Kontext postkolonialer Debatten und die Kontextualisierung in der jeweils eigenen Lebenswelt mit ihrer Geschichte, ihren Traditionen und ihren Kulturen, die schon länger als Indigenisierung beschrieben wird. Dabei werden, und auch dies offenbart das Buch in großer Klarheit, westliche Vorstellungen nicht völlig verbannt, es entsteht vielmehr so etwas wie eine aus vielfältigen Kontexten verwobene Sozialarbeit, die das Beste aus den jeweiligen Welten zu kombinieren sucht.
Das Buch zeigt zuletzt aber auch die Schwierigkeiten der Soziarbeit in Staaten, die sich ihrer sozialen Verantwortung gegenüber ihren Bürgern entziehen bzw. nur erst allmählich sich dessen bewusstwerden. Die Stärke der Sozialarbeitenden, ihre Kraft, ihr täglicher Einsatz, mitunter dabei sich selbst am Rande des Abgrundes bewegend, und ihr Stolz relativieren allerdings auch die Sozialarbeit im Nordern, die sicherlich gleichfalls eine große und wesentliche Bedeutung hat, damit Leid in diesen Gesellschaften gelindert werden kann, die dabei aber unter weitaus besseren Bedingungen agieren kann. Insofern kann man als Leser sich schon fragen, was wir vom Süden lernen könnten. Wer das Buch genau liest, der findet Antworten.
Das Buch ist eine gelungene Rekonstruktion der Sozialarbeiten in verschiedenen Regionen, die geprägt waren und sind vom „professionellen Imperialismus“, dem Ende der Kolonisation, der Realität von Armut, Konflikten und Gewalt und der Aktualität einer Politik, die wenig für die Wohlfahrt der Menschen tut. Es ist deswegen auch ein Plädoyer für eine politische Soziale Arbeit, die sich der Menschenwürde verpflichtet fühlt. In der Summe ist es ein sehr persönliches und dennoch analytisches Buch.
Zu guter Letzt: diese Rezension kann nicht alle Facetten abdecken. Sie kann aber dazu auffordern, dieses Buch in seiner Vielfalt zu lesen. Stück für Stück – und vielleicht mehrmals.
Fazit
Das Buch kann für eine Internationale Soziale Arbeit von essenzieller Bedeutung sein, da es nicht nur Indigenisierung denkt, es zeigt sie auch in ihrer Praxis. Damit bringt es Diskurse weiter und könnte zugleich ein Standardwerk werden, das wichtig für die Wissenschaft, für die Praxis und für Studierende ist. Es ist nämlich zugleich analytisch, an Praxis orientiert und es formuliert eine klare Vision: die politische Bedeutung der Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession. Vor allem aber durchzieht das Buch eine Spannung, die es sehr lesenswert macht: der Stolz, unter Bedingungen, in denen Gras durch den Kampf von Elefanten leidet, Sozialarbeit zu machen.
Rezension von
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
Soziologe und Anthropologe
Fachhochschule Erfurt
Website
Mailformular
Es gibt 8 Rezensionen von Ronald Lutz.
Zitiervorschlag
Ronald Lutz. Rezension vom 08.08.2023 zu:
Helmut Spitzer: "Wenn Elefanten kämpfen, leidet das Gras". Soziale Arbeit in Afrikas Region der Großen Seen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-6138-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30874.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.