Claudia Lohrenscheit, Andrea Schmelz et al. (Hrsg.): Internationale Soziale Arbeit und soziale Bewegungen
Rezensiert von Prof. Dr. Antje Krueger, 19.03.2025

Claudia Lohrenscheit, Andrea Schmelz, Caroline Schmitt, Ute Straub (Hrsg.): Internationale Soziale Arbeit und soziale Bewegungen.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2023.
232 Seiten.
ISBN 978-3-8487-6407-5.
25,00 EUR.
Reihe: Studienkurs Soziale Arbeit.
Thema und Zielgruppe
Das vorliegende Lehrbuch möchte die Auseinandersetzung mit grundlegenden Konzepten der Internationalen Sozialen Arbeit ermöglichen und gleichsam auf die Verwobenheiten von Internationaler Sozialer Arbeit und sozialen Bewegungen aufmerksam machen. „Hintergrund sind die sich verschärfenden globalen Ungleichheiten und die Frage, welche Aufgaben einer über nationalstaatliche Grenzen hinausdenkenden Sozialen Arbeit mit Blick auf Krieg, Gewalt und Flucht, Klimakrise, Sexismus, Rassismus und Populismus, Diskriminierung und Marginalisierung von Menschen mit Behinderungserfahrung, LGTBIQ+ (Lesbian, Gay, Trans, Bi, Intersex, Queer+) oder BIPoC (Black, Indigenous, und People of Color) zukommt und wie sie mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten kann“ (S. 9). Zielgruppe, des in der Reihe Studienkurse Soziale Arbeit erschienenen Bandes, sind angehende Sozialarbeiter*innen und angehende Sozialpädagog*innen sowie Lehrende an Hochschulen und Universitäten.
Herausgeberinnen
Claudia Lohrenscheit, Dr. phil., Professorin für Internationale Soziale Arbeit und Menschenrechte an der Hochschule Coburg
Andrea Schmelz, Dr. phil., Professorin für Internationale Soziale Arbeit und globale Entwicklung an der Hochschule Coburg
Caroline Schmitt, Dr. phil., habil., Professorin für Migrations- und Inklusionsforschung an der Universität Klagenfurt
Ute Straub, Dr. phil., Professorin für internationale Soziale Arbeit an der Frankfurt UAS.
Mit Beiträgen von Susan Arndt, Mario Faust-Scalisi, Ernst Kočnik, Claudia Lohrenscheit, Rahel More, Hans Karl Peterlini, Monika Pfaller-Rott, Andrea Frieda Schmelz, Caroline Schmitt, Marion Sigot, Ute Straub.
Aufbau und Gestaltung
Das Buch ist in die drei Bereiche „Einführung“ (I), „Internationale Soziale Arbeit in sozialen Bewegungen“ (II) und „Chancen, Grenzen, Perspektiven“ (III) gegliedert, wobei dem mittleren Teil und damit der Verwobenheit der Internationalen Sozialen Arbeit mit sozialen Bewegungen der größte Umfang gewidmet ist. Hier werden die Kämpfe von Frauenbewegungen und queer-feministischen Zusammenschlüssen, Auseinandersetzungen mit Rassismus und postkolonialer Widerstand, globale Bewegungen für Kinderechte, Migration und Flucht, Solidarische Städte, ökologisch-sozial bewegte Soziale Arbeit, indigene Bewegungen, Aktivismus von Menschen mit Beeinträchtigungen, Ansätze friedensbewegter Diversitätspädagogik explizit(er) vorgestellt. Ein Stichwortverzeichnis findet sich auf den Seiten 229/230.
Inhalt
I Einführung
Die Einführung klärt im ersten Aufsatz „Utopien eines guten Lebens für alle Menschen: Internationale Soziale Arbeit und soziale Bewegungen“ von Claudia Lohrenscheit, Andrea Schmelz, Caroline Schmitt & Ute Straub (S. 9–21) zunächst das Anliegen des Sammelbandes: In der Sozialen Arbeit gehe es darum, im Sinne der Adressat*innen die Handlungsfähigkeit von Communities zu stärken und nachhaltige Unterstützungsnetzwerke zu schaffen, die sich global „für sozialen Wandel, Menschenrechte, Inklusion, Partizipation, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität“ (S. 9) einsetzen. Die Soziale Arbeit könne durch Bündnisse mit internationalen Protestbewegungen oder indigenen Aktivist*innen lernen, für Solidarität einzutreten und mit kreativ-rebellischen Protestformen Widerstand zu leisten, wenn Menschenrechte oder sozialökologische Belange bedroht oder missachtet werden (vgl. S. 10). Welche Verknüpfungen hierbei zwischen sozialen Bewegungen und der Internationalen Sozialen Arbeit möglich wären, wird im Aufsatz „(Re-)Visionen und Herausforderungen: Internationale Soziale Arbeit und soziale Bewegungen“ von Ute Straub (S. 23–46) deutlich.
II Internationale Soziale Arbeit in sozialen Bewegungen
Es folgen im Mittelteil neun Kapitel, die sich einzelnen sozialen Bewegungen und ihren Bezügen zur Sozialen Arbeit widmen. Bei allen wird deutlich, dass sie thematisch stärker in die Curricula des Studiums der Sozialen Arbeit verankert werden und dabei sowohl historische Perspektiven wie aktuelle Entwicklungen einbeziehen sollten.
„Your body is a battleground“ – Frauenbewegungen, Queer-Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit (Claudia Lohrenscheit, S. 47–68) führt drei Beispiele an, wie soziale Bewegungen für Geschlechtergerechtigkeit und queer-feministische Ziele eintreten und zeigt auf, wie sich Soziale Arbeit in den lokalen wie globalen Kämpfen gegen Femizide, gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und für reproduktive Rechte sowie für die Menschenrechte von intergeschlechtlichen Menschen einbringen kann (vgl. S. 16).
Susan Arndt & Mario Faust-Scalisi und setzen sich mit „Rassismus und postkolonialer Widerstand“ auseinander (S. 69–82). Konkret gibt dieser Aufsatz „Einblick in die Definition und Verständnisse von Rassismus, Postkolonialismus, Black Studies und Kritischer Weißseinsforschung“ (S. 17). Zentral sind hierbei auch die Proteste und Errungenschaften von sozialen Bewegungen in Deutschland.
„Die globalen Bewegungen für Kinderrechte – mit einem Interview mit Manfred Liebel“ (S. 83–98) von Claudia Lohrenscheit verlässt den Rahmen des nationalen Kinder- und Jugendhilferechts und fokussiert u.a. auf das Recht auf Bildung, das durch eine Diskussion über das Recht auf Menschenrechtsbildung und lebenslanges Lernen ergänzt wird (vgl. S. 17).
„Globale Migration und Flucht“ (Andrea Schmelz, S. 99–119) thematisiert ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit, das durch Migrationskontrolle und Rassismus geprägt ist. Dabei stehen sowohl Spannungsfelder als auch partnerschaftliche Bündnisse mit aktivistischen Bewegungen im Zentrum. Über die Vorstellung der Projekte Social Workers without borders und Women in Exile werden beispielhaft Handlungsansätzen diskutiert (vgl. S. 18).
Im Beitrag„Solidarity Cities. Urban Citizenship und Aktivismus als Praxis inklusiver Solidarität“ von Caroline Schmitt (S. 121–142) werden Historie, Anliegen, Konzepte und Praxis solidarischer Stadtbewegungen thematisiert. Neben Fallbeispielen zu urban citizenship und artivism, beleuchtet die Verfasserin Ansätze von Popular Social Work und Kommunalpädagogik und ihre Bedeutung für die Internationale Soziale Arbeit (vgl. S. 18).
Andrea Schmelz widmet sich unter dem Titel „Ökologisch-sozial bewegte Soziale Arbeit: Umwelt, Klima und nachhaltige Entwicklung“ (S. 143–163) der Diskurse und Ansätze von Green Social Work, Ecosocial Work und Ecological/Enviromental Social Work. Am Beispiel des Green Belt Movement (GBM) wird das „Zusammenwirken von nachhaltiger, ökologisch-sozialer Community-Entwicklung und Frauen-Empowerment in Kenia“ skizziert, welches „mit großer Strahlkraft viele Projekte weltweit inspiriert“ (S. 19).
Die Paradoxie der Würdigung nachhaltiger Praxen indigener Communities und ihre parallelen Verteidigungskämpfe für ein Recht auf Land und Lebensweise sind Gegenstand des Beitrags„Indigene Bewegungen in der Internationalen Sozialen Arbeit“ (S. 165–184) von Monika Pfaller-Rott & Ute Straub. Es wird deutlich, dass die Soziale Arbeit einen großen (und oftmals gewaltsamen) Beitrag dazu geleistet hat, dass indigene Communities Verluste ihrer kulturellen Wurzen wie Verluste im Rahmen ihrer Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklungen hinnehmen mussten. Neben der Forderung nach gleichberechtigter Aufnahme indigenen Wissens in den Kanon der Sozialen Arbeit werden Einblicke in das Handeln und Lebenswerk von Riguberta Menchú Tum aus Guatemala vorgestellt (vgl. S. 19).
„Nothing about us without us: Soziale Bewegungen von Menschen mit Behinderungen“ (S. 185–202) von Ernst Koþnik, Rahel More & Marion Sigot skizziert die Ansätze der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und der People-First-Bewegung. Darüber hinaus werden Kurzporträts von drei Aktivistinnen eingebunden. Es geht den Verfasser*innen darum, die Bedeutung der Kämpfe von sozialen Bewegungen im Kontext Behinderung herauszustellen und ihre Relevanz für die Sozialen Arbeit deutlich zu machen (vgl. S. 19).
Mit dem Aufsatz „Geteilte Menschheit, geteilte Welt – Grundfragen und Perspektiven für eine friedensorientierte Diversitätspädagogik als Global Citizenship Education“ (S. 203–222) von Hans Karl Peterlini sollen abschließend friedenspolitische wie friedenspädagogische Perspektiven in der Sozialen Arbeit berücksichtigt werden. Es geht um die Frage, wie diese gestärkt und gestaltet werden können und in wie weit das Konzept des Global Citizenship Antworten dafür bieten könnte (vgl. S. 20).
III Chancen, Grenzen, Perspektiven
Der letzte Teil enthält den resümierenden Beitrag: „Ausblick: Die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Internationale Soziale Arbeit und soziale Bewegungen als Bündnispartnerinnen“ (S. 223–228) von Claudia Lohrenscheit, Andrea Schmelz, Caroline Schmitt & Ute Straub. Die Autor*innen thematisieren hier weitere Anknüpfungspunkte und Herausforderungen, die angesichts anti-demokratischer und Menschenrechte verletzender Bewegungen berücksichtigt und angegangen werden müssen. Hierbei sei es ihnen wichtig „Internationale Soziale Arbeit immer auch als ein visionäres Projekt zu denken mit einem Blick nach vorne, das eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen mit einer Veränderungsbereitschaft und einem öffnenden Denken über das Hier und Jetzt hinaus verbindet“ (S. 20).
Diskussion
Das vorliegende Lehrbuch platziert die Profession der Sozialen Arbeit in einen internationalen Kontext. Dabei geht es darum, Verantwortung für rassifizierende und indigenisierende, herabwürdigende, stigmatisierende und ausgrenzende Haltungen wie Praxen in der Historie der Sozialen Arbeit zu übernehmen und ethische Prämissen für Gegenwart und Zukunft zu formulieren. Soziale Arbeit wird dabei aus dem nationalstaatlichen Container gelöst und als grenzüberschreitende Akteurin im Verhältnis globaler Ungleichheit adressiert. In der mahnenden Frage nach ihren Mandaten wird sie gleichsam als Agentin sozialen Wandels verstanden. Es geht darum, Herrschafts- und Machtverhältnisse zu reflektieren wie zu kritisieren und, im Sinne der internationalen Definition Sozialer Arbeit, sozialen Zusammenhalt zu stärken und die Befreiung der Menschen voranzubringen. Solidarität und Widerstand, so wird deutlich, kann und darf dabei nicht paternalistisch formuliert und organisiert werden. Die vorgeschlagene Bündnisbildung mit Aktivist*innen sozialer Bewegungen lassen sich entsprechend als Einladung verstehen, von marginalisierten und/oder bislang ungehörten Personen und Gruppen sowie ihren Perspektiven und Aktionsformen zu lernen.
Fazit
Den Autor*innen geht es darum, „die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen“ (S. 223). Alleine, dass persönliche wie fachliche Denk- und Bewertungsmuster von Lehrenden und Studierenden ins Wanken geraten und Perspektivwechsel initiiert werden, macht die Lektüre überaus lohnenswert.
Rezension von
Prof. Dr. Antje Krueger
Professorin für „Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft“ und „Internationale Soziale Arbeit“ an der Hochschule Bremen.
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