Elke Hemminger: Bildung im digitalen Wandel
Rezensiert von Prof. Simone Gretler Heusser, 15.03.2024

Elke Hemminger: Bildung im digitalen Wandel. Soziologische Perspektiven. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 112 Seiten. ISBN 978-3-17-039560-2. 29,00 EUR.
Thema
Elke Hemminger's Buch „Bildung im digitalen Wandel“ beleuchtet eindrucksvoll die Komplexität und die Herausforderungen, die mit der digitalen Transformation unserer Gesellschaft einhergehen. Hemminger hebt die Bedeutung eines zukunftsfähigen Bildungsverständnisses hervor, das die Entwicklung einer Kultur der Digitalität unterstützt, die im Einklang mit den demokratischen Grundwerten steht.
Autorin
Elke Hemminger ist eine profilierte Soziologin, deren Expertise und Forschungsarbeit im Bereich der digitalen Transformation und ihrer Auswirkungen auf Bildungssysteme weitreichend anerkannt ist. Als Autorin und Wissenschaftlerin trägt sie maßgeblich dazu bei, komplexe soziokulturelle Phänomene verständlich darzustellen und bietet wertvolle Einblicke in die aktuellen Diskurse zum digitalen Wandel.
Entstehungshintergrund
Das Buch basiert auf fundierten Forschungsergebnissen und bietet einen breiten Überblick über die aktuellen Entwicklungen im Bereich der digitalen Transformation. Hemminger integriert dabei verschiedene Perspektiven und liefert einen Beitrag zur notwendigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den komplexen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.
Aufbau
Die Struktur des Buches ermöglicht einen klaren Überblick über die verschiedenen Aspekte der digitalen Transformation und ihrer Auswirkungen auf Bildungssysteme. Hemminger präsentiert fundierte Analysen und konkrete Handlungsempfehlungen, die einen wertvollen Leitfaden für die Gestaltung einer zukunftsfähigen Bildungslandschaft bieten.
Inhalt
Das Buch behandelt umfassend die verschiedenen Dimensionen der digitalen Transformation, angefangen bei der Kultur der Digitalität bis hin zu den konkreten Herausforderungen und Chancen für Bildungseinrichtungen. Dabei werden sowohl wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Perspektiven beleuchtet und Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Gestaltung des digitalen Wandels aufgezeigt.
Laut Felix Stalder meint Kultur der Digitalität die Pluralisierung der kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten im Zuge der Ausbreitung komplexer Technologien, die zu herausfordernden sozialen Aushandlungs- und Beteiligungsprozessen führen können. Bisher unabhängige, teils randständige gesellschaftliche Vorgänge verknüpfen sich zu neuen, vielfältigen Formen der kulturellen Möglichkeiten. Traditionelle Institutionen und Formen der Kultur verlieren an Verbindlichkeit. Er unterscheidet drei Formen von Digitalität:
- Referentialität: kreativer Bezug auf vorhandenes kulturelles Material, mit neuer Bedeutung.
- Gemeinschaftlichkeit: Praxisfeld, geprägt durch Kommunikationsprozesse und unablässige reflexive Interpretation der eigenen sozialen Praxis.
- Algorithmizität: Automatisierte Entscheidungsverfahren, die die Informationsflut und Masse an Daten strukturieren. Ambivalente Natur der Algorithmizität: ermöglicht Handeln und Verstehen in der Kultur der Digitalität, schränkt jedoch die individuelle Freiheit durch vorgelagerte Entscheidungen und Selektionsprozesse wesentlich ein. Sie ist der Referentialität und der Gemeinschaftlichkeit vorgeordnet.
Es braucht nach Hemminger ein zukunftsfähiges Bildungsverständnis, das eine Kultur der Digitalität entwickelt, welche den gesellschaftlichen demokratischen Grundwerten entspricht.Das Phänomen der Digitalisierung ist eine doppelte Herausforderung, wissenschaftlich und gesellschaftlich.
Wissenschaftlich:
- Unklare Begrifflichkeiten
- Unklare Abgrenzung gegenüber medial-populären Diskussionen
- Notwendigkeit anschlussfähiger und effektiver Wissenschaftskommunikation
- Transdisziplinäres Denken gefordert.
Gesellschaftlich:
- «cultural lag»: kulturelle Verzögerung als Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Rückstands gegenüber der technischen Entwicklung, da soziale, ökonomische, kulturelle und politische Aneignungs- und Adaptationsprozesse nicht so rasant verlaufen wie die technische Entwicklung.
- Fades Gefühl, die Potenziale der Technik nicht ausschöpfen zu können, jedoch voll mit den Risiken konfrontiert zu sein.
Elke Hemminger versteht Digitalisierung als sozio-technischen Transformationsprozess, in welchem sich einzelne Individuen und die Gesellschaft als Ganzes die gestaltbaren Räume in der Kultur der Digitalität verfügbar machen und diese kreativ und konstruktiv nutzen sollen.
Dabei nennt sie sechs Rahmenbedingungen der Digitalisierung
- Synchronisation des Zeitempfindens
- Ausweitung der Kultur- und Wirtschaftsräume
- Zunehmende Säkularisierung und Rationalisierung der Gesellschaft
- Etablierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung
- Zunehmende Technisierung und Informatisierung
- Allgemeine Wohlstandsexpansion im 20. Jahrhundert
Die digitale Transformation im sozialwissenschaftlichen Diskurs kann in fünf Phasen unterteilt werden:
- Ab ca. 1955: langsame Durchsetzung des digitalen Computers, Idee einer Informationsgesellschaft; erste akademische Diskurse und Digitalisierungsutopien. Bedenken wegen eingeschränkter individueller Selbstbestimmung und möglicher staatlicher Überwachung. Popkulturelle Aufmerksamkeit für Computer, obwohl diese bis in die 1970er Jahre nur in Grosskonzernen existierten.
- Ab ca. 1980: einsetzende Computerisierung der Lebenswelt. Erste Schritte der Entwicklung des Internets; verschiedene sozialwissenschaftliche Diskurse und Perspektiven zur Technikforschung.
- Ab 1993: World Wide Web wird veröffentlicht und stösst als lizenzfreies globales Informationssystem eine Welle kollektiver Innovationstätigkeiten an. Beginn der gesellschaftlichen Aneignung des Internets. Wissenschaftlicher Diskurs prognostiziert in teils fundamentalen Theorien das Ende der herkömmlichen Massenmedien. Ernüchterung um Jahrtausendwende.
- Ab ca. 2000: zweite Welle der Aufbruchstimmung rund um das «Web 2.0»; Betonung des Potenzials des Internets bezüglich egalitärer und dezentraler Kollaborationsformen. Aufbrechen starrer Rollenverteilungen, Versprechen einer Demokratisierung der Gesellschaft.
- Ab ca. 2000: zweite Welle der Aufbruchstimmung rund um das «Web 2.0»; Betonung des Potenzials des Internets bezüglich egalitärer und dezentraler Kollaborationsformen. Aufbrechen starrer Rollenverteilungen, Versprechen einer Demokratisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig Aufstieg der globalen Plattformunternehmen (Amazon, Airbnb, Uber, etc.). Erfolg der Plattformunternehmen beruht im Wesentlichen auf dem Sammeln und Vertrieb von Daten.
- Ab ca. 2010: Bedeutung der Plattformunternehmen in allen Lebensbereichen nimmt zu. Gesamtgesellschaftliche Bedeutung wird wahrgenommen. Erkenntnis, dass analoge und digitale Erfahrungsräume nicht klar voneinander zu trennen sind.
Laut Elke Hemminger erweitern digitale Räume (meist durch mobile Endgeräte bei den Nutzer:innen vertreten) die alltäglichen Erfahrungsräume und sind in die technischen Infrastrukturen selbstverständlich eingebunden. «In diesem Zusammenhang werden Fragen nach Privatheit, Gerechtigkeit und Sicherheit zum zentralen Thema des sozialwissenschaftlichen Diskurses.»
Hemminger bezeichnet das Spannungsfeld zwischen neuer Freiheit und neuem Risiko in Anlehnung an Jürgen Habermas' Diskurstheorie als «Januskopf der Moderne»: Gewonnene Freiheiten bergen in sich zugleich immer das Risiko des Scheiterns des eigenen Lebensentwurfes. In der Kultur der Digitalität sind die Menschen konfrontiert mit vielfältiger Ent-Grenzung, etwa sozial, räumlich, zeitlich. Positiv spiegelt die Entgrenzung die ursprüngliche mit dem Internet verknüpfte Hoffnung wider, die Utopie von mehr Gleichheit und Freiheit, Verbundenheit und Förderung der Demokratie durch Kollaboration und Kreativität. Negativ bedeutet Entgrenzung die mögliche Verletzung des guten Geschmacks, rechtlicher Rahmenbedingungen und des persönlichen Schutzraums und hat eine demokratiegefährdende und gesellschaftszersetzende Wirkung.
Dagegen kann nur Bildung helfen. Entsprechend listet Elke Hemminger die Kompetenzen des 21. Jahrhunderts auf, zusammengestellt von Robinson und Aronica. Sie umfassen:
- Neugier
- Kreativität
- Kritikfähigkeit
- Kommunikationsfähigkeit
- Kooperationsfähigkeit
- Empathie
- Gelassenheit
- Gesellschaftliches Verantwortungsgefühl
Diskussion
Hemminger präsentiert eine differenzierte Analyse der aktuellen Diskurse und liefert wertvolle Impulse für weiterführende Debatten und Forschungsarbeiten im Bereich der digitalen Transformation und Bildung. Ihr Buch trägt dazu bei, das Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen Technologie, Gesellschaft und Bildung zu vertiefen und bietet konkrete Ansätze für eine erfolgreiche Bewältigung der Herausforderungen.
Fazit
„Bildung im digitalen Wandel“ von Elke Hemminger ist ein interessantes, dabei schmales und kondensiertes Werk, das einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion über die Auswirkungen der digitalen Transformation auf Bildungssysteme leistet. Mit fundierten Analysen, klaren Handlungsempfehlungen und einem breiten Überblick über die relevanten Forschungsfelder liefert das Buch wertvolle Impulse für eine erfolgreiche Gestaltung der digitalen Zukunft und eine Ausrichtung von Bildungsangeboten an den Anforderungen der Digitalität. Es ist ein unverzichtbares Lese- und Arbeitsmaterial für alle, die sich mit den Herausforderungen und Chancen der digitalen Transformation im Bildungsbereich auseinandersetzen möchten.
Literaturangaben
Häussling,R. (2019): Techniksoziologie. utb: Opladen
Robinson, K. & Aronica, L. (2015): Creative schools: Revolutionizing education from the ground up. London: Penguin Random House UK.
Schrape, J. F. (2021): Digitale Transformation. utb: Bielefeld
Stalder F. (2019): Kultur der Digitalität. 4. Auflage, Berlin: Suhrkamp
Rezension von
Prof. Simone Gretler Heusser
Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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