Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Arnd-Michael Nohl: Politische Sozialisation, Protest und Populismus

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 04.09.2023

Cover Arnd-Michael Nohl: Politische Sozialisation, Protest und Populismus ISBN 978-3-7799-6997-6

Arnd-Michael Nohl: Politische Sozialisation, Protest und Populismus. Erkundungen am Rande der repräsentativen Demokratie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 276 Seiten. ISBN 978-3-7799-6997-6. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Warum ist der Populismus so populär? Ausgehend von diesem anfänglichen Forschungsinteresse entwickelt Arnd-Michael Nohl auf 276 Seiten aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive grundlagentheoretische Überlegungen zur (politischen) Sozialisation, die empirisch durch den Vergleich qualitativer Forschungen zu Aktivist*innen aus dem eher linksalternativen Spektrum und zu populismusaffinen Anhänger*innen aus Deutschland, der Türkei und den USA inspiriert und irritiert werden. Die Erkundungen an den Rändern der repräsentativen Demokratie führen schließlich zu einem theoretischen ‚Handwerkszeug‘, das einlädt, durch weitere empirische Forschung politische Sozialisationsprozesse zu untersuchen; auch jene, die sich jenseits und/oder gegen das politische System ausrichten.

Aufbau

Das Buch ist nebst der Einleitung (Kapitel 1) in 7 Hauptkapitel unterteilt. Die ersten beiden Kapitel (2 und 3) entwickeln eine theoretische Perspektive auf politische Sozialisation, die als Grundlage für die empirischen Reanalyse zur Sozialisation in linksalternativen Protestbewegungen (Kapitel 4) und zum Populismus aus sozialisationstheoretischer Sicht dienen (Kapitel 5–7). Im Fazit und Ausblick (Kapitel 8) werden die theoretischen Begriffe einer nicht-staatsaffirmativen Theorie der politischen Sozialisation zusammenfassend konturiert und für weitere Forschung fruchtbar gemacht.

Inhalt

In der Einleitung grenzt der Autor seine Arbeit zunächst von jenen Ansätzen ab, die politische Sozialisation eng mit normativen Fragen verknüpfen. Ziel der Arbeit soll es stattdessen sein, jenseits der Ziele und Motive (pädagogisch angeleiteter) politischer Sozialisation ein grundlagentheoretisches Verständnis selbiger zu entwickeln. Das dazu zu entwickelnde theoretische Begriffsinstrumentarium soll Prozesse politischer Sozialisation nicht nur innerhalb des politischen Systems, sondern auch außerhalb – an den Rändern der repräsentativen Demokratie – empirisch in den Blick nehmen und schließlich dazu helfen, die eingangs beschriebene Forschungsfrage zu beantworten, warum der Populismus so populär ist.

Kapitel 2 befasst sich mit dem theoretischen Problem der Sozialisation. Der Autor begründet, warum er an Überlegungen zu einem relationalen Sozialisationsbegriff anschließt und nicht an einem, der den Einzelmenschen und die Gesellschaft gegenüberstellt. Anstatt also von bereits existierenden Entitäten und ihren Wechselwirkungen auszugehen, soll untersucht werden, wie Praktiken, die die Entitäten (re-)produzieren, in Relation zueinanderstehen. Für ein relationales Sozialisationsverständnis bildet die Interaktion die Basis, die ‚eingebettet‘ in konjunktive Erfahrungsräume ist. Die Rollenorientierungen in gesellschaftlichen Zusammenhängen (z.B. die des Kitakindes oder der/des Schüler*in) erfolgen durch Reproduktion, aber auch durch (iterativen) Veränderung bei der Rollenausgestaltung (role taking). Zusammenfassend wird Sozialisation als „interaktionsbasierte Entfaltung von Orientierungen innerhalb konjunktiver Erfahrungsräume und gegenüber organisierten und/oder institutionalisierten Rollenerwartungen“ (S. 262) definiert. Für eine Theorie politischer Sozialisation (Kapitel 3) wird zunächst der Begriff des Politischen definiert. Grundlage dafür sind Handlungen und Kommunikationen, die kollektiv bindende Entscheidungen vorbereiten (protopolitisch) und solche die selbige herbeiführen (politisch). Worüber sich kollektiv verbindlich entscheiden lässt, hängt letztlich von der symbolischen Ordnung ab, die für den historischen Moment jene Dinge umfasst, die aktuell als selbstverständlicher Teil gesellschaftlicher Ordnung gelten und daher (noch) nicht Gegenstand politischer Entscheidungen sind. Die theoretischen Überlegungen einer Theorie politischer Sozialisation werden anhand eines Interviews mit einer Kommunalpolitikerin exemplifiziert. Entlang der empirischen Einsichten wird die These entwickelt, dass bereits in der frühen Sozialisation sich eine politische Weltanschauung sowie Rollenorientierungen ausbilden, aus denen sich ein politischer Habitus herausarbeiten lässt. Zum Ende des Kapitels wird in Grundzügen die Dokumentarische Methode skizziert und begründet, warum gerade dieses sich eignet, politische Sozialisation in einem relationalen Verständnis zu untersuchen.

Kapitel 4 befasst sich mit der Sozialisation in linksalternativen Protestbewegungen. Als empirische Grundlage dienen drei biographische Interviews mit Bewegungsaktivist*innen: Peter Waldorfer (geb. 1943), Bettina Kubitschek (geb. 1968) und Moritz Friedrichsdorf (geb. 1988). Die Interviews stammen aus einem DFG-Projekt und wurden bereits auf Bildungsprozesse in sozialen Bewegungen hin analysiert. Die Reanalyse verdeutlich daher auch den Zusammenhang von familialer und politischer Sozialisation mit Bildungsprozessen. Herausgearbeitet werden schließlich außerinstitutionelle politische Handlungsorientierungen, d.h. Orientierungen kollektiv bindende Entscheidungen herbeizuführen, die jenseits institutionalisierter Strukturen der repräsentativen Demokratie entwickelt werden.

In den nächsten Abschnitten des Buches werden zunächst der Populismus aus sozialisationstheoretischer Sicht erläutert. Dazu werden Erklärungsansätze aus der Forschung (ökonomische Interessen, politische Subjektivität und Habitus) miteinander verglichen und argumentiert, dass bis dato die Frage nach dem populistischen Charakter der Bewegungen wenig bearbeitet wurde (S. 151). Anknüpfend an eine Untersuchung von Philip Manow wird die These diskutiert, der Populismus könne auch als Wiederkehr des Nicht-Repräsentierten in der repräsentativen Demokratie verstanden werden, der den Streit innerhalb der Demokratie zu einem über die Demokratie macht. Daran anschließend wird die Frage für eine Theorie politischer Sozialisation entwickelt, die sich damit befasst, „wie sich die Populismus Anhänger*innen gegenüber den Institutionen der (repräsentativen) Demokratie orientieren und welche Erfahrungen sie mit ihr gemacht haben.“ (S. 155) Anhand der empirischen Erkundungen zu den Anhänger*innen des Populismus in den USA und der Türkei (Kapitel 6) arbeitet der Arndt-Michael Nohl anhand einer Reanalyse empirischer Daten aus mehreren Studien den politischen Habitus heraus, der sich aus den Komponenten einer politischen Weltanschauung und den politischen Rollenorientierungen konstituiert. Eindrücklich wird anhand der Tea-Party in den USA aufgezeigt, wie die Metapher, (geordnet) in der Warteschlange für den ‚Amercian Dream‘ zustehen, von den Anhänger*innen des Populismus aufgerufen wird, um die von ‚den Linken‘ vermeintlich legitimierten (eingewanderten) Vordrängler*innen in der Warteschlange als Infragestellung des gesamten Systems zu verstehen. Das System bzw. die symbolische Ordnung besteht aus Sicht der Populismus Anhänger*innen aus einem Staat mit minimalen Eingriffsrechten in die Lebenswelt der Bürger*innen. Damit werden weite Bereiche der Gesellschaft aus dem Politischen ausgeklammert. Bei den Anhänger*innen von Recep Tayyip Erdoğans zeigen die drei für die Reanalyse genutzten empirischen Studien, dass – genau umgekehrt – fast alle Bereich politisch von den Parteianhänger*innen der AKP okkupiert werden. Politik wird zu einer Art religiösen Kümmern, das stark in der Lebenswelt der Bürger*innen verortet ist. Der Rechtspopulismus in Deutschland: Pegida und Co. (Kapitel 7) wird insbesondere anhand von Fokusgruppen empirisch reanalysiert. Dabei zeigt sich ein Misstrauen in die Mechanismen repräsentativer Demokratie, welches „durch die Weigerung oder Unfähigkeit der Gruppendiskussionsteilnehmer*innen, die Perspektive politischer Gegner*innen nachzuvollziehen“ (S. 251), zu einer fundamentalen Abwendung von der repräsentativen Demokratie führt und schließlich zur Entfaltung gegen-institutioneller Handlungsorientierungen führt.

Die Unterscheidung zwischen außerinstitutionellen politischen Handlungsorientierungen, bei denen Wahlen, parlamentarische Prozeduren oder Regierungshandeln einer geringe Bedeutung haben und den gegen-institutionellen politischen Handlungsorientierungen, die diese Mechanismen der repräsentativen Demokratie ablehnen, wird im Fazit und Ausblick (Kapitel 8) auf die Konturen einer nicht-staatsaffirmativen Theorie politscher Sozialisation bezogen. Eine politische Sozialisationsforschung habe drei Aufgaben: Erstens zu rekonstruieren, wie Menschen in welche symbolische Ordnung hineinwachsen. Zweitens zu analysieren, wie sich die Grenzen zwischen Problematisiertem und Selbstverständlichem konstituiert. Drittens analytisch die Relation zwischen politischer Weltanschauung und Handlungsorientierung empirisch herauszuarbeiten, um viertens den politischen Habitus zu rekonstruieren. Keine Aufgabe hingegen ist es – so Nohl – die Passung zwischen politischen Habitus und politischem System vergleichend zu untersuchen.

Diskussion

Anliegen des Buches ist die „Entwicklung und empirische Erprobung einer Theorie politischer Sozialisation“ (S. 143). Anhand der Reanalyse empirischer Daten zu linksliberalen Protestbewegungen und Populismus-Anhänger*innen in den USA (Tea-Party), der Türkei (AKP) und in Deutschland (Pegida und Co.) setzt der Arndt-Michael Nohl dieses Anliegen sehr nachvollziehbar um.

Insgesamt legt der Arndt-Michael Nohl ein bemerkenswertes Buch vor, dass sowohl für die grundlagentheoretische Forschung politischer Sozialisation wie auch für praktische Überlegungen zur Weiterentwicklung repräsentativer Demokratie einladen. Bemerkenswert ist es deshalb, weil bereits in anderen Studien erhobene empirische Daten genutzt werden, um die Theoriebildung anzuregen, zu irritieren und auch weiterzuentwickeln. Ferner leiten die Erkundungen am Rande der repräsentativen Demokratie von linksalternativen Protestbewegungen und Anhänger*innen des Populismus den/die Leser*in dazu an, sich entlang der biografischen Erzählungen und der empirischen Aussagen in Gruppendiskussionen in politische Weltanschauungen und Handlungsorientierungen empathisch einzufühlen. Gerade dieses empathische Verstehen scheint wegen der andauernden Spannungen in der Gesellschaft zwischen Umfragehöhen rechtspopulistischer Parteien und dem zivilen Ungehorsam klimapolitischer Proteste aktuell höchst relevant.

Schließlich ist das Buch auch deshalb lesenswert, weil darin auch viele spannende Thesen aus dem empirischen Material entwickelt werden, die es weiterzuverfolgen gilt. So etwa die Frage, ob die politische Sozialisation in der DDR zu einem idealisierten Bild westlicher Demokratie geführt hat, dem die nun erlebte repräsentative Demokratie nicht gerecht wird (vgl. S. 242 ff.). Oder die Erkenntnis, dass linksalternativer Protest sozialisatorisch eher in biografischen Erfahrungen der Adoleszenz begründet liegt, während Populismus eher im Erwachsenenalter verortet wird (vgl. S. 259). Die Erkundungen am Rande der Demokratie haben zugleich ihre Grenze darin, dass sie an das vorhandene Material aus anderen Studien aufbauen, die nicht immer geeignet für eine Auswertung für die Forschungsfrage mit der Dokumentarischen Methode zu vollziehen (etwa die Fokusgruppen der Pegida-Anhänger*innen).

Ferner zeigt sich auch ein Ungleichgewicht in der empirischen Datenanalyse zwischen den Perspektiven linksalternativer Protestbewegungen und Populismus-Anhänger*innen. Während letztere in drei Ländern mit einer vergleichsweise umfassenden Datengrundlagen aus Studien diskutiert werden, basieren die linksalternativen Protestbewegungen aus der Analyse von drei biografischen Interviews. Obgleich in explorativer Forschung nicht die Anzahl an Daten entscheidend ist, so zeigt sich doch auch im Buch ein Schwerpunkt auf der Analyse des Populismus, der ja auch den Autor dazu bewogen hat, ein Buch zu verfassen, welches sich mit der Frage beschäftigt, warum der Populismus so populär ist.

Fazit

Insbesondere die Beantwortung der Ausgangsfrage, warum der Populismus so populär ist, lässt den/die Leser*in nachvollziehen, wie politische Weltanschauungen und Handlungsorientierungen sozialisatorisch angeeignet werden und sich in außer- und gegeninstitutionellen Praktiken repräsentativer Demokratie manifestieren. Insbesondere jene Handlungsorientierungen, die zum Aushöhlen demokratischer Institutionen führen oder gar den Streit innerhalb der Demokratie zu einem grundsätzlichen Streit über die Demokratie machen, verweisen auf die Verletzlichkeit demokratischer Grundfeste und Ermahnen auch jenseits der hervorragend entwickelten grundlagentheoretischen Ideen zur Weiterentwicklung einer Theorie politischer Sozialisation, über politische Reformen und Maßnahmen zu räsonieren, die einer fortschreitenden Aushöhlung entgegenwirken.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
Website
Mailformular

Es gibt 24 Rezensionen von Christian Schröder.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245