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Burkhard Kastenbutt, Aldo Legnaro et al. (Hrsg.): Suchttheorien in progress

Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 19.07.2023

Burkhard Kastenbutt, Aldo Legnaro, Arnold Schmieder (Hrsg.): Suchttheorien in progress. Sucht im Sog gesellschaftlichen Wandels. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2023. ISBN 978-3-643-15161-2.
Burkhard Kastenbutt, Aldo Legnaro, Arnold Schmieder (Hg.) .

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Thema

Wie Sucht und Drogenkonsum sowie der darauf gelegte Ordnungsdiskurs eingebettet sind in So­zia­li­tät und Geschichte, mehr noch: inmitten der Spannung von gesellschaftlichem Sein und Be­wusst­sein situieren, das war und ist als Fragestellung dem Jahrbuch Suchtforschung seit der Herausgabe des ersten Bands im Jahre 1999 fest ein­ge­zeich­net. Auch der mit­tlerweile 11 Bd. der Reihe widmet sich in gewohnt interdisziplinärer Weise den gesellschaftlich induzierten Ursachenzusammen­hängen von Sucht und diskutiert diese nun unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Wandels, ein Wandel, der seiner kulturellen und sozialen Seite nach die Alltagsrealitäten nicht bloß der Suchtkranken bestimmt, sondern das Meinungsklima und institutionelle Ordnungsgefüge dahin­gehend aufreizt, als dass das Problem der Sucht selbst immer auch gewohnte Sitt­lich­keits­em­pfin­dungen droht zu un­ter­laufen. Das provoziert (politische) Integra­tions­maß­nahmen, die sich frei­lich nicht in einem herr­­schaftsfreien Raum bewegen, was auch in und durch Suchttheorien – so­zio­lo­gisch, sozial­psy­cho­logisch wie historisch flankiert – abgebildet werden müsste.

Aufbau und Inhalt

Nach einer kurzen Einleitung der Herausgeber (S. 7–11) ist ‚historisch‘ denn auch das Stichwort für den ersten Beitrag von Aldo Legnaro, der sich mit der Besteuerungspraxis von Cannabis be­schäftigt. Die historische Diskussion, wie mit dem Cannabiskonsum umzugehen ist, wandelt zwi­schen Prohibition und Legalisierung. Damit befinden wir uns im Bereich der liberalistischen Realpolitik, deren Entwicklung auch von „ökonomisch informierten Überlegungen“ gesteuert werden (S. 17) und davon ausgehen, das mit einer Liberalisierung zugleich wirtschaftlicher Benefit entstünde im Sinne eines erhöhten Steueraufkommens, wachsender Beschäftigung und sog. grüner Jobs (vgl. S. 19). Bedeutsamer dabei sei es dann aber, genau „die Effekte einer Legalisierung zu betrachten, soweit sie sich bisher überhaupt empirisch feststellen lassen“ (ebd.). Damit ist hingewiesen auf auch sozialpsychologisch gärende Dunkelstellen und Problemlagen, die die politischen Institutionen vielleicht weniger im Blick haben dürften. Der Beitrag weist u.a. darauf hin, dass „Widersprüche zwischen unterschiedlichen Relevanzsetzungen“ existieren: „auf der einen Seite ein Kalkül von realisierbaren Einsparungen und zusätzlichen Einnahmen, auf der anderen Seite ein möglichst effektiver und umfassender Gesundheitsschutz“. (S. 20) Das geht objektiv natürlich nicht zusammen, was subjektiv nicht ohne Folgen bleibt. Ein „ambivalentes Bild“, das sich nicht nur empirisch abbildet bei den negativen Auswirkungen einer Legalisierung von Cannabis, wozu Legnaro aktuelle Studien aus anderen Ländern heranzieht, und die möglicherweise bloß „vorübergehenden Charakter haben“ (S. 26), sondern zugleich die politische Praxis selbst betreffen. So scheint die aktuell angedachte Regelung zur Cannabis-Legalisierung in der Bundes­republik nicht Fisch und nicht Fleisch zu sein. Was man sich als Liberalisierung abgerungen hat zeugt eher von einer „gewisse[n] Freudlosigkeit“. Der Rausch werde zwar legal aber eben nicht wirklich gebilligt. „Das Misstrauen gegen die Lust am Rausch“, so das Schlussresümee, „scheint dabei weiterhin mitzuschwingen, wenn es auch nunmehr ein etwas liberaleres Aussehen gefunden hat“ (S. 28).

Der darauffolgende Beitrag von Bernd Werse schließt am „Prozess der Cannabis-Legalisierung in Deutschland“ an und fokussiert u.a. auf „Erfahrungen mit Legalisierung und Entkriminalisierung“ (S. 38–41), um Überlegungen anzustellen über „zu erwartende positive Effekte einer legalen Re­gu­lie­rung“, wobei ein wichtiger, wenn nicht sogar der „wichtigste Vorteil“ die Entkriminalisierung sei (S. 41). Angegangen würde so der „rechtsphilosophische“ Punkt, dass das Strafrecht schon beim Dro­genbesitz zupackt, obgleich es üblicherweise Taten vorbehalten sei, bei denen andere ge­schä­digt werden (ebd.). Zahlreiche weitere Vorteile einer Legalisierung macht der Autor stark, darunter die für chronisch Kranke sicher nicht unwichtige Änderung in der Ver­schrei­bungspraxis von Cannabisblüten. Eine Liberalisierung in diesem Bereich würde zu einer Reduktion der „Vor­be­halte“ gegenüber einer solchen Verschreibung führen, zumal bisher dort eher Restriktion herrschte, ge­fördert durch „das Risiko von Regressforderungen der Krankenkassen“ (S. 43). Nach Vorstellung und Kommentierung eines einschlägigen „Eckpunktepapiers“ der Bundesregierung (S. 44–46) kommt Werse schließlich, und durchaus die Risiken abwägend, zu dem Schluss, „dass eine legale Re­gulierung von Cannabis große Vorteile gegenüber der aktuellen Situation mit sich brächte“, wo­mit er an einem „Großteil relevanter Expert*innen an[schließt]“, die sich diesbezüglich ähnlich äu­ßern (S. 48).

Um das „tripolare Modell der Sucht im Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung“ ist es Burkhard Kas­tenbutt zu tun. Ziel ist es, einer Verengung von mittlerweile auch überholten Suchtforschungen vor­zubeugen. Damit gemeint sind u.a. Anleihen an soziologische Aspekte, auf die in der Forschung zwar immer wieder hingewiesen wurde und wird. Bei dem Verweis auf gesellschaftliche und soziale Einflüsse auf Sucht allerdings „handelte es sich (.) mehr um pflichtgemäße Lippen­be­kenntnisse, die als Aneinanderreihung von bestimmten korrelativ gefundenen sozialen Merk­malen aufgeführt wurden“ (S. 53 f.). Mit Blick auf aktuelle neurowissenschaftliche Er­kennt­nisse sieht der Autor eine bloß sporadische Zusammenarbeit zwischen Soziologie und natur­wis­sen­schaftliche Disziplinen, was einer „integrativen Theorie der Sucht“ Abbruch tut, die der Psy­chi­a­ter und Suchtforscher Wilhelm Feuerlein in den 1970er-Jahren bereits gefordert habe (S. 57f). Pro­grammatisch setzt Kastenbutt sodann auf eine suchttheoretische Zielsetzung, die erklären kann, „inwieweit sich makrostrukturell bestimmte Lebensbedingungen in den Individuen reproduzieren und vorgefundene Existenzbedingungen durch subjektive Bearbeitung begriffs- und handlungsfähig gemacht und in subjektive Wirklichkeit übersetzt werden. Darüber hinaus könnte gezeigt werden, warum eine solche Realitätsbildung im Falle süchtig-psychischer Fehlentwicklung zu inadäquaten Reaktionsbildungen führt“ (S. 58 f.). Konkret gehört dazu das Einpreisen von jenen materiellen Bedingungen, die auf Klassen- und Schichtzugehörigkeit verweisen, was den Blick weitet um bspw. unsichere Lebenslagen der Menschen hinsichtlich ihrer beruflichen Situation inmitten von atypischer Beschäftigung oder Krisen in Permanenz (vgl. S. 60).

Dirk Themann versucht die „Drogenkonsumentenentwicklung“ zu verstehen aus der Perspektive der Anomietheorie und lebensweltlichen Ansätzen. Zunächst gilt es allerdings festzuhalten, wie es um den Zusammenhang von Wirklichkeitskonstruktion und Drogenkonsum bestellt ist (vgl. S. 70–74). Als soziales Konstrukt zu bezeichnen ist bspw. die „normative Strukturierung in legale und illegale Drogen“, welche „historischen Entwicklungsprozessen“ unterliegt. Einerseits. Andererseits steckt in der Nutzung illegaler Substanzen und der Überantwortung an den Rausch ein Ausdruck von Anomie insofern, als dass hier eine „partielle Störung der konstituierten sozialen Ordnung“ sich anzeigt (S. 72). Damit wären wir bei Durkheim und Merton angelangt, deren Einsichten Themann für die Suchttheorie fruchtbar macht, indem er „[d]as Erreichen von Rausch und Ekstase“ als „weiteres Beispiel für Sinnwelten“ deutet, „die der kulturellen und sozialstrukturellen Nor­mierung unterliegen“ (S. 79). Kritisch wird jedoch die Grenze solcher Erklärungsansätze konstatiert vor allem dort, wo die „individuelle Handlungsebene“ von der Anomietheorie nicht scharf genug abgebildet werden kann. Darum wäre eine daran anknüpfende „lebensweltlich-prozessorientierte Forschung“ angebracht, die die „Aktanten mit ihren Motivationen, Hand­lungs­op­tio­nen“ sowie ihrer „biographischen Entwicklung“ einbettet in „soziostrukturelle Aspekte von Ge­sell­schaft“ (S. 84).

Im ausführlichsten Beitrag des Jahrbuchs geht es Arnold Schmieder um „Verborgene User“ und die These, dass selbst bei sinnvoll anmutenden Strategien der Drogenprävention und Warnungen vor Dro­gengefahren implizit „Ansprüche aus gesellschaftlicher Ordnung“ transportiert werden (S. 90). Indem allerdings in der wissenschaftlichen Debatte eher (und „verständlicherweise“) um praktische Lösungsansätze gerungen wird, fällt die Perspektive auf die „Konstitution von Subjektivität“ inmitten einer auf Stabilität setzenden Ordnungslogik etwas kurz aus (vgl. ebd.). Dem versucht Schmieder insofern etwas entgegenzusetzen als er eine theoretisch fundierte Rahmung formuliert, die stets eine Kritik am kapitalistischen Gefüge mitführt. Inwieweit die „Drogennutzer:innen“ darin situiert sind, wird u.a. deutlich entlang einer „historisch gewordene[n], systemisch basierte[n] Normalität“, die den Handlungsraum eben jener absteckt und mehr noch: jedwede Form von Abweichung „prophylaktisch identifiziert“ im Sinne von „Ordnungswegweisern, welche auf ‚Tugenden‘ zurückverweisen, wie sie vermittels der Verhaltenszwänge aus ökonomischen und so­zia­len Verhältnissen einer angemessenen Subjektivität eingeschrieben sind“ (S. 94). In diesem Sin­ne, und exemplifiziert am Alkoholkonsum, stehen die Fragen im Raum, woraus eigentlich „Ver­letz­ungen von allgemeinen gesellschaftlich normativen Vorgaben entstehen, wie sie in unauf­fäl­li­gem Drogengebrauch mitschwingen, warum sie weitestgehend und zu welchem Zweck im Dunkel­feld verbleiben müssen“ (S. 99). In einer weiten und tiefen gesellschaftstheoretischen Aushol­be­we­gung fundiert der Autor die hier zur Disposition gestellten Antizipationen in den Entwick­lungs­pa­ra­me­tern einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform, die im Zuge ihres Produktions- und Re­pro­duktionsprozesses den „‚vereinzelnd Einzelnen‘“ als auch jene „stummen Zwänge der öko­no­mi­schen Verhältnisse“ (Marx) evozieren, was zur Organisation von Macht und anonymer Herrschaft bei­trägt (S. 103–109). Der Verstoß des Suchtkranken gegen normativ fest­ge­stellte Realität zeigt sich u.a. erklärbar unter Aufnahme des Marx‘schen Begriffs der Ent­frem­dung sowie der Kapital­an­al­yse. In Erklärungsreichweite rücken damit Verursachungszusammenhänge auch von Spannung und sub­jek­tiven Krisen, die durch Desintegration wie Reintegrationserfordernisse in den ka­pi­ta­li­s­tisch abgesteckten Ordnungsrahmen eingepasst werden (vgl. S. 114). Festzu­hal­ten gilt aber nicht nur der Hin­weis auf die das Suchtsubjekt einnordenden Machtstrukturen. Schmie­der ist es zugleich zu tun um Erin­­nerungs­spuren, die hinzielen auf „ein Verlangen nach Frei­heit als ‚Mo­ti­va­tionslange für das Sub­jekt‘“ (S. 124). Unter Aufnahme von Franzkowiak scheint in diesem Zu­sam­menhang auf eine „‚dif­ferierende Vernunft‘“, die allerdings unter dem „Fa­nal der Befreiung“ steht, wo „neue Zwänge eta­bliert“ werden (S. 124 f.).

Andreas Bell widmet sich dem Versuch, die Begriffe Glück und Sucht zusammenzudenken. Dabei stellt er zuallererst fest, dass „Opiatabhängige die gleichen neuronalen Strukturen wie Gourmets und Verliebte [nutzen]“ (S. 141). Mit einem kursorischen Blick auf Antike, Früh- und Hoch­mittel­alter wird diesem Zusammenhang nachgespürt (vgl. S. 141–144). Und auch in der Moderne ist diese Wechselwirkung virulent vor allem dort, wo „Glück“ von „Sinn“ abhängt (S. 148). Allerdings, so konstatiert Bell, ist die Sinnstiftung, d.h. „dem eigenen Leben durch Deutung und Interpretation Sinn zu verleihen“, erheblich erschwert, was mit einer „stoffgebundene[n] Konstruktion des Sinns“ substituiert werden kann (S. 149). Süchtige Patienten seien dabei allerdings so auf ihren Konsum fixiert und in der „brutalen Realität verhaftet, dass ihnen die Träume ausgehen“. „Aber“, so heißt es resümierend, „wenn der Mensch nicht zu träumen vermag, wird er sich Hilfe suchen bei dem Stoff, aus dem die Träume sind“ (S. 150).

Der letzte Beitrag von Sabine Hollewedde schließt mit einer pointierten aber dadurch nicht weniger tief­gehenden philosophischen Betrachtung, die das Thema des Jahrbuchs aus der Dialektik von Frei­heit und Sucht heraus verstehen will. Konkret wird diese Dialektik, die dezidiert abzielt auf eine „kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 155), an der von der Autorin heraus­ge­ar­bei­­teten Tatsache, dass Sucht eine „Flucht vor den Zumutungen der gesellschaftlichen Re­a­lität“ darstellt, dabei aber ebenso eine Form der „Pro­tes­tation gegen diese“ impliziert (S. 166). Die­sem Resultat geht voraus eine präzise Begriffs­be­stim­mung von Subjekt, Vernunft und Freiheit. Re­ferenzpunkte sind hier vor allem La Mettrie und Holbach sowie insbesondere Kant, mit dessen „Dritter Antinomie“ aus der „Kritik der reinen Vernunft“ der bürgerliche Freiheitsbegriff bestimmt wird. Ist einmal der widersprüchliche Begriff der „Zwecksetzung“ erhellt (und damit die Er­kenntnis, dass bürgerliche Freiheit nicht ohne Unfreiheit gedacht werden kann), wird es mög­lich auf­zuzeigen, inwieweit durch Suchtmittelgebrauch die „Fähigkeit zur freien Willens­be­stimmung“ negiert wird (S. 163) ohne aber vollständig determiniert zu sein. Dem ist überdies eine Analyse beigestellt, die den Suchtdruck um einen Rekurs auf Kants Anthropologie mit Blick auf „Leiden­schaften“ weiter vertieft (vgl. S. 162 f.). Gesellschaftstheoretischer Gravitationspunkt bleibt dabei stets der „prozessierende Widerspruch des Kapitals“, „die durch das Kapital gesetzte Verohn­mäch­tigung der Einzelnen“ (S. 164 f.).

Diskussion

Eine sog. Diskussion anzuzetteln bei einer Problematik, die derart vielschichtig – und über das unmittelbare subjektive Leid hinaus – in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und ihre Ordnungs- wie Machtstrukturen eingefasst ist, mag die Befürchtung nähren, an der einen oder an­deren Stelle mit den eigenen Überlegungen zu dilettieren. Das könnte auch damit zusammenhängen (wie die verschiedenen Beiträge mitunter klarlegen), dass die Forschung selbst, Medizin und Natur­wissen­schaft zumal, sich diverser Herrschaftslogiken nicht immer bewusst ist, sodass diese nicht nur unerkannt in der eigenen Annäherung an Wirklichkeit reüssieren, sondern ein interdisziplinäres Übergreifen, das über jene „Leerformel“ „‚gesellschaftlicher Verursachung‘“ (Schmieder, S. 99) hinausginge, erschweren. Zu nahe scheint überdies, wie beim Alkohol und Zigarettenkonsum, Sucht an die Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrung (und dem Sittlichkeitsempfinden) heran­zu­reichen. Was daran denn nun gesellschaftlich ver­mittelt sei, das ist nicht so leicht in kritische Dis­tanz zu nehmen, erst recht nicht von denjenigen, die die ganze Wucht des Suchtdrucks und die darin aufgehobene gesellschaftliche Gewalt aus­zu­ba­den haben.

Die Sucht als ‚Charakterschwäche‘ abzuhalftern oder sie schlicht als Eigenverantwortung des Einzelnen anzumahnen, der sich aus seinem Leid mithilfe professioneller Hilfe gefälligst heraus­zu­ar­beiten habe: das zeugt von einer machtinduzierten Delegation des Problems, die recht eigen­tüm­lich anmuten mag, denn einen ‚Sitz‘ der Suchterkrankung, der sich eindeutig verorten ließe, kann aus Perspektive einer Suchtforschung, die auf ihre gesellschaftstheoretischen Ein­sichten nicht verzichten kann und will, weder möglich noch hilfreich sein. Das bedeutet allerdings nicht, einer soziologischen Willkürlichkeit das Wort zu reden, die alles auf ‚Wechselwirkung‘ ab­stellt und somit das, was an Herrschaft und Ideologie in der Psychosozialstruktur grassiert, ent­las­tet. An­ge­lehnt an Alexan­der Mitscherlich ließe sich darum ergänzen, dass die funktionelle Ent­glei­sung eines Organs (samt seines Subjekts) wesentlich vom „Grad der Mißhandlung“ abhängt, den jenes „Leib­teil“ zu erdulden hat, das zu einer „ihm fremden Leistungsvariante gezwungen wird“. Die Ein­­las­sungen bezogen sich seinerzeit auf „Psychosomatik“, deuten aber durchaus an, wo eine kri­ti­sche Verortung der Sucht zu fokussieren hat: im Vorrang des Gesellschaftlichen vor einem In­di­vi­du­um das, wo nicht eingefriedet, schmerzhaft einkassiert wird. Hingewiesen ist damit auf Wi­der­sprüche von Triebstruktur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt – letztlich Kapital und Arbeit. Da sich diese Widersprüche, bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise vorausgesetzt, nie zur Gänze ent­­schär­fen lassen, reproduzieren sich die daraus entstehenden Kämpfe in jener gebrochenen Er­fah­rung, auf die sich der Suchtkranke (je nach Schweregrad der Sucht und dem konsumierten Mittel) kaum einen Reim machen kann, obwohl er, merkwürdigerweise, besonders eng und unmittelbar an diesen Antinomien sein elendes Dasein auszurichten hat. Kant paraphrasierend (siehe Beitrag Holle­wedde), deckt Leidenschaft Re­flex­ion zu, sodass das, was an exakter Begriffsbildung sich emanzi­pa­tiv in die Wirklichkeit po­ten­tiell einfräsen könnte, dem Subjekt als unheilvolle Schein­ver­söh­nung durch Drogenkonsum und dem immerzu drohenden Abfall vom gelegentlichen Still­stellen der Widersprüche widerfährt. Wahrlich, und vom meist tragischen Ende gedacht, eine ‚Wahl‘ zwi­schen Charybdis und Skylla. Vernunft wird dabei scheints restlos und z.T. unter starken Schmer­zen aufgerieben. Inwieweit da bspw. eine diamorphingestützte Substitutionsbehandlung – immer noch eine absolute Seltenheit hierzulande – partiell Linderung verschaffen könnte, wodurch Süch­tige zumindest nicht mehr auf verunreinigtes Straßenheroin angewiesen wären, gerät dagegen kaum in den Diskurs hinein. Das könnte und würde als Affront gegen ein gesellschaftliches Selbst­ver­ständ­nis ver­stan­den, das auf mehrwertschaffende Leistung getrimmt und gestimmt ist. Oder psy­cho­analytisch ge­wen­det: man würde im Konsum desjenigen, der da den reinen Stoff verbraucht, bloß die eigens durchlebte Versagung sehen hinsichtlich der täglich scheiternden Versöhnung mit dem falschen Ganzen. Damit habe eben jeder seine liebe Not und es werde schon irgendwo seinen Grund haben, warum derjenige, der im Dreck liegt (und verreckt) dort hingekommen ist. Auf Solidarität, eine klassenreflektierte zumal, ist also nicht zu bauen. Ist der Süchtige erst einmal untauglich gemacht wie geworden für lustlose Lohnarbeit, mag letztere vielleicht das einzige sein, was ‚der‘ Arbeitende dem Gestrandeten von oben herab nach unten als „nihilistische Härte“ (Alfred Schmidt) durchreicht. Daran bildet sich implizit ab jenes schlechte Gewissen gesellschaftlicher ‚Kollektivität‘ das die Aufkündigung der Solidarität gegenüber den Erniedrigten und Beleidigten stets unter Begründungs­zwang sieht und neu modellieren muss. Der Schleier bürgerlicher Wohl­fahrt muss ja irgendwie gewahrt bleiben, womit zugedeckt werden soll, was im schlimmsten Ab­sturz doch noch überlebt: eine sich hartnäckig haltende Erinnerung an eine Situation, in der die Span­nung für einen Moment wich. Inmitten dieser Glückseligkeit (s.o.) verschrammt der Mensch allerdings weiter, auch äußerlich, woran öffentlicher Ekel und prinzipielle Verdächtigung sich abarbeiten können.

Vieles spielt sich, unrein gesprochen, im ‚Gefühl‘ ab. Was chiffriert als Gesellschaftliches in der Suchtwirklichkeit auftaucht, macht sich bemerkbar ebenso durch Ängste. Mitnichten lässt sich Angst dabei als eine die Vernunft aussetzende Leidenschaft abqualifizieren. Rationalität merkt bekanntlich ebenso hier auf. Dafür muss nicht erst die Psychoanalyse bemüht werden. Literarisch taucht dies u.a. prominent auf in „Infinite Jest“ von David Foster Wallace (auf dessen Werk auch Schmieder in einer Fußnote knapp hinweist (S. 131, FN. 63)) und zwar dort, wo dieser die ein­gewiesene und an Depression erkrankte Patientin Kate Gompert von der „Angst vor der Angst“ sprechen lässt. Angewandt auf Sucht ließe sich daran erläutern, wie die Angst vor der Angst des drohenden Entzuges selbst einen, wenn auch rudimentären Versuch darstellt, die Hoheit über die durch Sucht vermittelte Triebstruktur wiederzuerlangen. Das passiert nicht willkürlich, sondern in einem Anflug von Zwecksetzung, die sich aber alles andere als selbstbestimmend ‚anfühlt‘. Die Fremdbestimmung durch Krankheit bleibt da wesentlich und überbordet alles, sodass diese Bewegung freilich scheitert, und zwar nicht nur an der ‚fehlenden‘ inneren Widerstands­kraft, was einen unmittelbar ‚freien Willen‘ unterstellen würde, sondern vielmehr weil die insti­tu­tio­nel­len Gravitationskräfte Einhegung von ihr (Kate) einfordern, angezeigt durch die Indolenz und techno­kra­tisch-medizinischen Teilnahmslosigkeit des behandelnden Arztes. Dies wahrnehmend, schnappt die Protagonistin irgendwann ein. Sie erkennt die Sinnlosigkeit des Unterfangens, sich der Insti­tution gegenüber verständlich zu machen.

Auch diese Ernüchterung ist objektiv in der Subjektivität der Süchtigen eingelassen. Selbst in der schlimmsten Krise bleibt der Süchtige weiterhin fähig zur Antizipation. Das meint die Ver­ge­gen­­wärtigung dessen, was die Gesellschaft, in der er lebt, ihm in ihrer falschen Form antut. Da sie sich gerade in diesem Punkt auf Teufel komm raus nicht ehrlich machen will, ahnt er, dass nach dem Entzug die Wirklichkeit noch unnachgiebiger zu ihm durchstoßen wird. Nachdem er mühevoll und abgekämpft die Grenze zur körperlichen ‚Entgiftung‘ passierte, erlangt der Widerspruch von Indivi­du­um und Gesellschaft einen noch höheren Härtegrad. Das zu erkennen bedarf des Klinik­per­sonals nicht. Auch die hohe Rückfallquote zeigt ihm an, hier gibt es nichts zu gewinnen und der Ka­pi­ta­lis­mus ist nicht das Paradies. Gewiss kann er sich sein, dass die Organzerrüttung persistiert, denn das kollektiv verbürgte Etikett der Krankheit ist nicht einfach abzuwerfen wie ein altes Kleidungsstück. Erinnert sei hier an den Versuch einer materialistischen „Soziopsychosomatik“ von Klaus Horn, der von einer „praktische[n] Reduktion von Krankheit auf ein entsubjektiviertes Ding am Subjekt“ sprach. Darin erkannte er eine „Strategie der Problemlokalisierung am Einzelnen und der Problem­de­finition von Krankheit als physiologischen Defekt vor allem eine theoretische und politische Iso­lie­rung des Problems Krankheit von allem Gesellschaftlichen“. Krankheit werde so „gleichsam aus dem sozio-psycho-physiologischen Kraftfeld hinausdefiniert und als physio­lo­gi­sche Pathologie fixiert“. Darauf baut auf eine gesellschaftliche Steuerung von Krankheit und Gesund­heit, die als „Sachgesetzlichkeit“ derart akzeptiert sei, dass keine systematische Diskussion darüber mehr ge­führt werden könne. Diese Gedanken gehen zurück auf ein im Jahre 1981 mündlich vorgetragenes Re­ferat, das sich noch am Strukturfunktionalismus Talcott Parsons abarbeitete. Interessant daran ist nun zweierlei. Zum einen verbündet sich offensichtlich die Bezichtigung des ‚physiologischen Defekts‘ als naturwissenschaftliche Tatsache mit dem strafrechtlich verbrieften Vorschlaghammer, der den Besitz von (illegalen) Drogen als gesetzeswidrig kriminalisiert. Die gesellschaftliche Steuerung übernimmt von der Medizin und dem Recht jeweils bloß die härteste Gangart, sonst würde ihr die Durchschlagskraft fehlen. Zum anderen scheint weiteres auf: Sie muss in dieser Konsequenz durchgreifen, weil ihr am Drogenkonsumenten doch irgendwie aufdämmert, dass „individuelle Subjektivität“ eben nicht „restlos kontrollierbar, d.h. ohne dysfunktionale Reste vergesellschaftbar wäre“ (Horn).

Damit wären wir wieder beim Jahrbuch Suchtforschung ange­langt. Die Zeile, „dass etwas sein soll, was nicht ist (.)“ (Einleitung der Herausgeber, S. 11), zeiht einem gesellschaftlichen Widerspruch, der den Regress gegen das Emanzipative, Unfreiheit und Freiheit architektonisch mitführt. Dieses Spiel hat der Drogenkonsument besonders zur Schlagseite des Regressiven mitzumachen. Ihm geht die Dialektik daran während des Suchtdrucks nur schwer auf. Ausgefliefert ist er der Situation insofern, als sich gesellschaftliche Gewalt am Ende doch struktiv gar ans Suchtmittel bindet. Fortan, und mit Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaften“) gewendet, wird mit dem Suchtstoff nicht nur das Hormonsystem affiziert, sondern mit der Droge im Süchtigen „gegen seinen Willen in ihm gedacht“. Zugleich setzt sich im Suchtgeschehen etwas objektiv fest, was Musil in einem anderen Kontext als „Stimme der Wahrheit“ ausrief, die ein „verdächtiges Nebengeräusch“ mitführt. Dass dieses Geräusch meist ungehört bleibt, spricht Bände über den mitleidlosen Schrei, der die gesellschaftliche Indolenz nicht zu übertönen vermag. Auch die dargereichte kalte Hand der medizi­ni­schen Institutionen bürgt dafür. Diese Ungeheuerlichkeit erhellt Grundsätzliches: Wer an der kapitalistischen Ordnungsachse sägt, legt zugleich Hand an an der eigenen psychischen wie physiologischen Integrität. Schließlich muss auch das den Suchtgeplagten verständlicherweise ängstigen.

Fazit

Im besten Sinne charakteristisch für das Jahrbuch Suchtforschung ist die disziplinübergreifende Integration verschiedener Sichtweisen (etwa aus Kulturgeschichte, Rechtsentwicklung, Soziologie, Ökonomie, Sozialpsychologie und Philosophie). Die Mechanis­men von Sucht werden damit nicht als individualisierte Einzelphänomene aufgegriffen, sondern gesell­schafts­theoretisch kontextualisiert sowie kritisch reflektiert. Aufgabe für weitere zukünftige Suchtforschung wird es daher sein zuzusehen, tunlichst nicht hin­ter die aufbereiteten Erkenntnisse des Jahrbuchs Suchtforschung und seiner bisher publizierten Aus­gaben zu­rück­zu­fallen.

Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 19.07.2023 zu: Burkhard Kastenbutt, Aldo Legnaro, Arnold Schmieder (Hrsg.): Suchttheorien in progress. Sucht im Sog gesellschaftlichen Wandels. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2023. ISBN 978-3-643-15161-2. Burkhard Kastenbutt, Aldo Legnaro, Arnold Schmieder (Hg.) . In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30893.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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