Regine Derr: Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung
Rezensiert von Prof.in Dr. Ulrike Zöller, 14.12.2023

Regine Derr: Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung. Einflussfaktoren der Organisation auf Gewalt durch Mitarbeitende und unter Jugendlichen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 255 Seiten. ISBN 978-3-7799-7509-0. D: 48,00 EUR, A: 49,40 EUR.
Thema
Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung. Einflussfaktoren der Organisation auf Gewalt durch Mitarbeitende und unter Jugendlichen.
Spätestens seit der Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung in Deutschland, die sich den 1950er und 1960er Jahren gewidmet hat, ist in die Öffentlichkeit gedrungen, welche schweren Gewaltformen Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung täglich erlebten. Die erlittenen körperlichen und seelischen Verletzungen wirken bis heute in die gesamte Lebensbiografie der Betroffenen hinein. Auch in der modernen stationären Kinder- und Jugendhilfe ist von Gewalterfahrungen auszugehen. Das vorliegende Buch, das die Aufgabe im Rahmen eines Dissertationsprojekts unternimmt, Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung zu untersuchen, nimmt sich des Themas facettenreich an.
Der Beitrag zu dieser wichtigen Thematik für die stationäre Jugendhilfe, für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit vor Ort und die anvertrauten Kinder und Jugendlichen ist als sehr wichtig bis hoch einzuschätzen. Mit der Dissertationsschrift wird eine Arbeit vorgelegt, die einerseits eine theoretische Basis für das Thema schafft und andererseits Organisationen Instrumente in die Hand gibt, präventive Maßnahmen gegen Gewalt in ihren Institutionen umzusetzen und zu implementieren. Gleichzeitig wird mit der Fachlektüre in einer organisationsspezifischen Perspektive die Implementierung von Schutzkonzepten in den Vordergrund gerückt.
Autor:in
Dr.in Regine Derr ist Diplom Soziologin und wissenschaftliche Referentin beim Deutschen Jugendinstitut. Regine Derr hat umfangreich zu den Themen Gewalt und sexualisierte Gewalt sowie Schutzkonzepte und Prävention im Besonderen im Heimkontext publiziert. Bei dem vorliegenden rezensierten Buch handelt es sich um die Dissertationsschrift der Autorin.
Entstehungshintergrund
Weitere Informationen zum Entstehungshintergrund der Dissertation können über das abgeschlossene DJI-Projekt „Kultur des Hinhörens, Bestimmungsfaktoren und positive Beeinflussungsmöglichkeiten in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe“, das eine Laufzeit vom 01.08.2014 - 31.08.2017 hatte, unter folgendem Link eingeholt werden: https://www.dji.de/ueber-uns/projekte/projekte/kultur-des-hinhoerens.html
Aufbau
Die Dissertation ist in insgesamt zwölf Kapitel gegliedert. Nach einer Einbettung des Themas rund um die Heimerziehung heute, der Darstellung von Definitionen von Gewalt und Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung (mit einem Diskurs zur Geschichte über Gewalt in der Heimerziehung in Deutschland), werden ausführlich Theorien zur Ätiologie von Gewalt besprochen. Hier bezieht sich die Autorin auf insgesamt sechs Ansätze, nämlich dem lerntheoretischen Ansatz, dem kontrolltheoretischen Ansatz, dem professionstheoretischen Ansatz, dem Modell der vier Voraussetzungen für sexuellen Kindesmissbrauch und dem organisationskulturellen Ansatz. Im Kapitel sechs werden die empirischen Risikofaktoren für Gewalt im Hinblick auf Mitarbeitende und im Hinblick auf die Viktimisierung unter Jugendlichen besprochen. Kapitel sieben schließt den theoretischen Teil der Dissertation mit der Entwicklung von Modellen organisationsbezogener Faktoren für Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung ab. Diese Modelle werden in Kapitel elf anhand des Datensatzes unter Berücksichtigung der Ebenen Mitarbeitende und Jugendliche überprüft. Auch hier stehen wiederum die Mitarbeitenden als auch die Jugendlichen im Fokus. Die Kapitel acht bis elf widmen sich dem quantitativen empirischen Vorgehen, der Stichproben und der Ergebnisse der Untersuchung. Die Dissertation wird mit einem Fazit abgeschlossen. Ein Fragebogen, der zur Erfassung der sexuellen Viktimisierung herangezogen wurde, findet sich im Anhang. Wie in Dissertationen üblich enthält der Band ein umfängliches Abbildungs- und Tabellenverzeichnis.
Inhalt
Das vorliegende Buch betrachtet Gewalt (Viktimisierung), die gegen Kinder und Jugendliche in der aktuellen Heimerziehung von den Mitarbeitenden und gleichzeitig den Peers untereinander selbst ausgeht. Die Autorin leitet hierbei die Annahme, in Anlehnung an vorhergehende Forschungsergebnisse (vgl. Allroggen et.al 2018; Euser et al 2014), dass die Thematik der Gewalt in Heimen trotz der Aufarbeitung der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts durch den Runden Tisch Heimerziehung noch nicht abgeschlossen ist. [1] Deshalb geht die Autorin der Frage nach, welche organisationsbezogenen Faktoren Gewalt innerhalb stationärer Jugendhilfeeinrichtungen befördern oder ihr vorbeugen (S. 21). Dazu stellt sie eine Sekundäranalyse eines bereits vorhandenen Datensatzes auf, die aus drei ausgewählten Säulen besteht (Theorien zur Ätiologie der Gewalt, Geschichte der Gewalt in der Heimerziehung Deutschlands und fachlicher Diskurs und Erkenntnisse aus empirischen Studien (ebd.)). Für die Sekundäranalyse wurde ein Datensatz aus der Studie ‚Kultur des Hinhörens – Bestimmungsfaktoren und positive Beeinflussungsmöglichkeiten in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe‘ des Deutschen Jugendinstituts verwendet. Der Datensatz wurde zusammen mit Johann Hartl vom 01.08.2014 bis 31.08.2017 erstellt (vgl. Derr et al. 2017). Bei diesem Datensatz handelt es sich nach Aussagen der Autorin um den aktuell größten Datensatz zu Gewalterfahrungen von Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe in Deutschland. Eine solche Erhebung wäre im Rahmen eines Promotionsprojekts, das von einer Person durchgeführt wird, nach der Autorin nicht durchzuführen gewesen.
Kapitel eins bis sieben geben eine hervorragende Ausarbeitung der Zusammenhänge von Gewalterfahrungen und dem Leben im Heim wieder. Die historischen Hintergründe und die theoretische Erklärungsbasis, beispielsweise die Theorien zur Ätiologie von Gewalt, die die Autorin für ihre Arbeit heranzieht, sind nach dem Kenntnisstand der Rezensentin bisher noch nicht in dieser Form zusammengetragen und veröffentlicht worden. Die in Kapitel sieben selbst entwickelten Modelle hinsichtlich organisationsbezogener Gewalt durch Mitarbeitende und durch Jugendliche sind hilfreich. Einerseits können diese für weitere Studien herangezogen werden, andererseits können die Schaubilder bzw. Modelle auch in der Arbeit mit pädagogischen Fachkräften Anwendung finden. Die Autorin kann anhand ihres Datensatzes aufzeigen, dass Gewalterfahrungen im Leben von Jugendlichen aus Heimen weit verbreitet sind. Insgesamt 13,71 % der befragten Jugendlichen berichteten von Viktimisierung durch Mitarbeitende. Bei Viktimisierung durch Mitarbeitende war psychische Gewalt in Form von Demütigung und Bloßstellung die am Häufigsten angegebene Gewaltform (9,72 %). Von fast jede/r zehnten Jugendliche/n wurde von dieser Gewaltform berichtet. Körperliche Gewalt wiederum geht von Mitarbeitenden weit seltener aus (3,36 %).
Allerdings weist die Autorin darauf hin, dass körperliche Gewalt sowohl mit sexueller als auch mit psychischer Gewalt durch Mitarbeitende bedeutsam einher gehe (S. 229). Aus 17 von 25 Heimen berichten Jugendliche von Gewalt durch Mitarbeitende als schlimmstes Gewalterlebnis während ihres Lebens in der Wohngruppe (ebd.) Sexuelle Gewalt wurde von insgesamt vier Jugendlichen (1,9 %) berichtet.
Bei der Ebene Gewalterfahrungen, die durch andere Jugendliche selbst verursacht werden, wird allerdings deutlich, dass alle drei Gewaltformen wesentlich näher beieinander liegen. Dabei wird aufgezeigt, dass die Gewalt in Heimen weitaus häufiger von Jugendlichen selbst als von den Mitarbeitenden ausgeht (261 Jugendliche aus 25 Einrichtungen nahmen an der Befragung teil). Mit 39,52 % gaben fast dreimal so viele Jugendliche Viktimisierung durch Jugendliche aus dem Heim wie Viktimisierung durch Mitarbeitende an (S. 234). In fast allen Heimen (23 von 25) berichten Jugendliche von Viktimisierung durch Jugendliche als schlimmstes Gewalterlebnis während ihres Aufenthalts in der Wohngruppe (ebd.).
Im Fazit erörtert die Autorin die zentralen Ergebnisse der Studie und verknüpft diese mit den vorher diskutierten Ätiologien zur Gewalt. An dieser Stelle kann nicht im Detail auf die gesamten Ergebnisse eingegangen werden. Folgende Punkte sind aber nach Meinung der Rezensentin besonders bedeutsam: Es zeigt sich, dass ein Organisationsklima, das den Fachkräften erlaubt, Unsicherheiten im eigenen pädagogischen Handeln zu äußern und reflexiv zu bearbeiten, die pädagogische Ausgestaltung der Beziehung zwischen Mitarbeitenden und Jugendlichen stärkt. Es muss im Rahmen des professionellen Handelns möglich sein, Grenzüberschreitungen kritisch fachlich zu reflektieren und den Machtaspekt des helfenden Handelns hier in Vordergrund zu stellen. Hierfür muss die Organisation Strukturen und Räume zur Verfügung stellen. Im Rückgriff auf ihre eigenen Analysen kann Regine Derr herausarbeiten, dass sich Supervision, Behandlung des Themas sexuelle Gewalt während der Teamsitzungen und Offenheit, Kritik sowie Konfliktfähigkeit unter dem Kollegium positiv zu einem gewaltpräventiven Organisationsklima beiträgt.
Die Autorin verweist dabei auf eine Organisationskultur, die das Recht von Kindern und Jugendlichen auf „Entwicklung, Erziehung, Bildung, Schutz und Beteiligung“ sowie ihre Würde achtet (S. 240). Schwerwiegende Handlungen körperlicher, psychischer und/oder sexueller Gewalt erfordern dabei arbeits- und gegebenenfalls strafrechtliche Konsequenzen. Im Rückgriff auf Sabine Andresen und Sara Friedemann 2012 verweist die Autorin dabei auf die Notwendigkeit einer Ethik pädagogischer Institutionen (ebd.).
Diskussion
Regine Derr löst in ihrem Werk das Versprechen ein, Einflussfaktoren, der Organisationen (hier der stationären Einrichtungen) auf Gewalt durch Mitarbeitende und unter Jugendlichen aufzuzeigen, umfänglich ein. Es ist erschreckend, in welchem Maß Gewalt in Einrichtungen der aktuellen stationären Kinder- und Jugendhilfe den Alltag von den anvertrauten Jugendlichen bestimmt. Im Besonderen ist es zu würdigen, dass die Autorin sich des „Tabuthemas“ Gewalt (auch sexualisierte Gewalt) von den Jugendlichen ausgehend gegenüber ihren Peers im Heim annimmt. Es wird deutlich, dass umfängliche präventive Maßnahmen zu treffen sind und weitere Forschungsbemühungen notwendig werden. Hier stellt sich die Frage, wie kann es zu diesen Umständen in der stationären Jugendhilfe kommen, nachdem gerade in den Jahren 2012 bis 2018 durch den Fonds Heimerziehung der Bundesregierung (https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/chancen-und-teilhabe-fuer-familien/fonds-heimerziehung/fonds-heimerziehung-137670) umfängliche Maßnahmen der Aufarbeitung im Hinblick auf die ehemalige Heimerziehung in den frühen 60er Jahren des letzten Jahrhunderts unternommen worden sind? Inwieweit hat sich die aktuelle Heimerziehung mit diesen bedrückenden Erkenntnissen befasst? Und im Besonderen stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Stellenwert der bisher aufgestellten Schutzkonzepte für Kinder in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe?
Besonders interessant ist an dieser Stelle der Hinweis der Autorin, dass zwischen der durchschnittlichen Bewertung der Arbeitsbedingungen durch die Mitarbeitenden einer Einrichtung und der von Jugendlichen berichteten Viktimisierung durch Mitarbeitende kein signifikanter Zusammenhang bestehen würde (S. 230). Es ist daher schwer möglich, sich auf eine Arbeitsüberlastung und damit Überforderung der Fachkräfte zu beziehen. Vielmehr fehlen anscheinend eine Hinwendung und professionelle Auseinandersetzung der Fachkräfte mit dem Aufbau und der Etablierung der Tragfähigkeit einer pädagogischen Beziehung. Die Ethik pädagogischer Beziehungen muss im Mittelpunkt des pädagogischen Handelns stehen. Im Zusammenhang mit (seelischen) Verletzungen an Kindern durch pädagogische Fachkräfte wurden die Reckahner Reflexionen entwickelt (https://paedagogische-beziehungen.eu/). Diese Leitlinien zur Umsetzung der ethischen Beziehungen in pädagogischen Kontexten können zusätzlich zu den bisher entwickelten Schutzkonzepten der stationären Kinder- und Jugendhilfe Anwendung finden. Über die vorgelegte Studie von Regine Derr wird außerdem deutlich, dass die Etablierung des Themas Kinderschutz in der Ausbildung und Lehre sozialer Berufe flächendeckend umgesetzt werden sollte.
Regine Derr hat sich in ihrer Dissertation umfassend mit Gewalt in Heimen auseinandergesetzt. Der gesamten Palette der rassistischen und diskriminierenden Gewaltformen, die sich ebenfalls in Heimen finden lassen, konnte die Autorin nicht nachgehen. Forschungsbestrebungen darüber sind zusätzlich notwendig.
Fazit
Regine Derr hat eine hervorragende Studie vorgelegt, die präzise über Gewalt durch Mitarbeitende und unter Jugendlichen in der Organisation „Heim“ aufklärt. Darüber hinaus kann sie von ihren Ergebnissen ausgehend, umfängliche Maßnahmen aufzeigen, die präventiv Gewaltformen in Heimen vorbeugen. Trotz des sehr wissenschaftlichen Duktus des Bandes, der der Veröffentlichung einer Dissertation geschuldet ist, handelt es sich um ein absolut empfehlenswertes Buch für alle Organisationsebenen der stationären Heimerziehung und für die Wissenschaft sowie die Lehre Sozialer Arbeit.
Literatur
Allroggen, Marc/Ohlert, Jeannine/Rau, Thea/Fegert, Jörg M. (2018): Sexual Abuse Prevalence Rates of Residents in Institutional Care Settings Compared with a Population Representative Sample. In: Residential Treatment for Children & Youth 35 (4), S. 286 – 296.
Rezension von
Prof.in Dr. Ulrike Zöller
Professorin für Theorie, Methodik und Empirie Sozialer Arbeit
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