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Karl-Heinz Dammer, Anne Kirschner (Hrsg.): Pädagogisches Neusprech

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.08.2023

Cover Karl-Heinz Dammer, Anne Kirschner (Hrsg.): Pädagogisches Neusprech ISBN 978-3-17-042809-6

Karl-Heinz Dammer, Anne Kirschner (Hrsg.): Pädagogisches Neusprech. Zur Kritik aktueller Leitbegriffe. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2023. 260 Seiten. ISBN 978-3-17-042809-6. 30,00 EUR.
Reihe: Pädagogik kontrovers.

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„Neusprech“ vs. „Altsprech“

Begriffe, Notionen, Synonyme und Antonyme sind sprachliche Ausdrucks-, Verständigungs- und Kommunikationsmittel. Die sachgemäße, richtige Benutzung von Begriffen bietet die Chance und die Möglichkeit, sich zu informieren und zu lernen (vgl. z.B. auch die Serie „Nomenklatur“ in der Fachzeitschrift „Pädagogische Rundschau“). Sprachliche Vokabeln und Begriffe sind im kulturellen Bildungsprozess entstandene Benennungen. Sie verfestigen sich in der alltäglichen Kommunikation wie im Fachgespräch, und sie verändern sich.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Ein intellektueller, fachlicher, professioneller Diskurs wird bestimmt, wenn er gelingt, von der Verwendung von verständlichen, verständigenden sprachlichen Vokabeln und Wörtern. Es sind Begriffe, die im traditionellen, kulturellen und historischen Prozess gewissermaßen in das allgemeine Curriculum eingegangen sind – und hier als „Altsprech“ bezeichnet werden – und die Übernahme von Benennungen aus fachfremden Bereichen – die gleichzeitig neue Denk- und Handlungshorizonte öffnen. Als ein typisches Beispiel kann der Begriff „sustainable development“, „tragfähige Entwicklung“, genannt werden, wie er im Bericht der Brundtland-Kommission „Unsere gemeinsame Zukunft“ (1987) zum Ausdruck kommt und die anthropologischen, pädagogischen Unterschiede zwischen Wachstum und Entwicklung zusammenbringt. Der Begriff „Nachhaltigkeit“, ursprünglich in der ökonomischen und ökologischen Waldwirtschaft und Nutzung verwendet, ist im pädagogischen, wissenschaftlichen Diskurs zum Ganzheitsprinzip geworden.

Die Bildungs- und Erziehungswissenschaftler Karl-Heinz Dammer und Anne Kirschner von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg rekurrieren mit „Neusprech“ auf George Orwells dystopischen Roman „1984“ und thematisieren „Ausdrücke aus pädagogikfernen bzw. -fremden Bereichen…, die nicht nur als bloß bedeutungstragende Wörter, sondern als Gesamtheit spezifischer Vorstellungen und Konzepte in einer gedanklichen Einheit betrachtet werden“. Es sind Glossare und Nomenklaturen, die des kritischen Wissens um Herkunft und Deutung erfordern. Und es sind die intellektuellen, professionellen Herausforderungen, wie sie sich in den gängigen „Diskursanalysen“ (Michel Foucault, u.a.: Daniel Hechler/Axel Philipps, Hrsg., Widerstand denken, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/8131.php).

Aufbau und Inhalt

„Neusprech“ ist nicht nonsens, wenn die Einführung und Benutzung von (ursprünglich) fachfremden Begriffen in das pädagogische, erziehungswissenschaftliche Gespräch begründet und erläutert wird. Das Autorenteam richtet im Diskursband nach der Einleitung zum einen „einen neuen Blick auf das Individuum“, zum anderen einen „neuen Blick auf die Gesellschaft“. Im ersten Kapitel setzt sich Karl-Heinz Dammer mit dem Begriff „Individualisierung“ auseinander. Es sind die individuellen und kollektiven Verhältnisse, wie sie seit dem antiken, philosophischen Nachdenken und Konzepten in vielfältigen Formen und Kompetenzen thematisiert werden und sich als Definitionen und Dilemmata entwickelt haben, die Dammer als zwei widersprüchliche gesellschaftliche Auseinandersetzungen verdeutlicht: Zum einen im „Heterogenitätsdiskurs“ bei dem es im wesentlichen „um die Aufwertung von individuellen Besonderheiten gegenüber dem normierenden Ganzen der Gesellschaft“ geht; zum anderen beim „Neoliberalismus“, der „den Menschen auf seine Rolle als Wirtschaftssubjekt reduziert“. Dammers Einsprüche gegen diese Ausschließungsbegründungen zur „Selbstoptimierung“ verweisen auf eine kritische Betrachtung einer propagierten „neuen Lernkultur“.

Der Kölner Philosoph Matthias Burchardt nimmt sich den Begriff „Selbststeuerung“ vor, als ein sich selbst erfüllendes Versprechen hin zum „individualisierten Lerner“. Die Rückführung der Begrifflichkeit als technisches, kybernetisches Instrumentarium verdeutlicht die Einbahnstraße, denn „Sprache, Freiheit, Urteilskraft, Selbsterkenntnis und leibliches Zur-Welt-Sein bilden wesentliche anthropologische Momente, welche nicht nur Lernen und Bildung ermöglichen, sondern auch als Bahnen und Ziele der Menschwerdung betrachtet werden“.

Dammer setzt sich weiterhin mit dem Begriff „Kompetenz“ auseinander. Er leitet die Fähigkeit und den Anspruch aus dem römischen Rechtsdenken her und betrachtet insbesondere kritisch das Kompetenzkonzept der PISA-Studie: „Mit dem Kompetenzbegriff macht sich das sozioökonomische System gegen Kritik immun“; und propagiert damit auch ein Menschenbild „eines funktional bestimmten Wesens, das ihm gestellte Aufgaben überprüfbar abarbeiten kann, also fremdbestimmt ist“.

Die Anthropologin und Geschlechterforscherin Monika Barz stellt mit dem Beitrag „Geschlechtergerechtes Sprechen. Gender-Neusprech: Begriffsverwirrung und pädagogische Verantwortung“: „Neudefinitionen von Geschlecht im Zuge von ‚Gendersprache‘ bedürfen einer selbstkritischen Debatte in allen Milieus“. Es ist das Bewusstsein von der Vielfalt der Mensch(heit), das einen Perspektivenwechsel erforderlich macht und klar definierte Begrifflichkeiten fordert.

Anne Kirschner analysiert den Begriff „Resonanz“ und vergleicht ihn im pädagogischen, erzieherischen Prozess mit dissonanzen Einstellungen und Verhaltensweisen. Sie stellt fest, dass dieser selbstverständliche, anthropogene Anspruch nicht dazu führen müsse, neue Denkmuster im pädagogischen Prozess einzuführen.

Der Sozialwissenschaftler Hans-Bernhard Petermann fragt, ob Achtsamkeit eine neue pädagogische Tugend sei. Er stellt im erziehungswissenschaftlichen Diskurs vorfindbare kulturelle und transkulturelle Auffassungen vor und thematisiert verschiedene Lebenskunstkonzepte; „denn wir leben nicht einfach schlicht daher, sondern müssen unser Leben führen, es auch er-leben“.

Das zweite Kapitel, mit dem die Autorinnen und Autoren neue Blicke auf die Gesellschaft richten, beginnt der Passauer Philosoph Florian Wobser mit Fragen nach „Vielfalt“. Anhand von zwei Szenen aus dem universitären Alltag analysiert er Formen und Entwicklungen zum „Diversity Management“: Antidiskriminierungskonzepte und mediale (filmische) Information. Die Herausforderung wird deutlich, dass beim pädagogischen und ethischen Streben nach einem guten, gelingenden Leben zu bedenken und zu bewerkstelligen ist, dass der Mensch ein unvollkommenes, unvollständiges Lebewesen ist, das danach streben soll, eine anthropologische, empathische, solidarische Lebenskraft zu entwickeln.

Anne Kirschner setzt sich auseinander mit den Werten: „Resilienz. Macht. Bildung“, indem sie das vom Aktionsrat Bildung 2022 vorgelegte Gutachten „Bildung und Resilienz“ kritisch betrachtet und Antworten sucht, wie es gelingen kann, eine kompetente, fach-, sachgerechte „Umstrukturierung des deutschen Bildungswesens auf Grundlage des sich gegenseitig zugleich aus- und einschließenden Begriffspaars Resilienz und Krise“ zu entwickeln.

Der Schulpädagoge Thomas Vogel fragt mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ danach, ob und in welcher Weise eine „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ nachhaltig sein kann (vgl. dazu auch: KMK/BMZ (Engagement Global): Orientierungsrahmen für den Lernbereich „Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung“, Bonn 2016, 464 S.). Diese offizielle, propagierte Auffassung von BNE „steht in der Kontinuität des Fortschritts- und Wachstumsverständnisses und reproduziert es“.

Die Erziehungswissenschaftlerin Sieglinde Jornitz arbeitet heraus: „Evidenz als Paradigma in der Bildungsforschung“. Sie zeigt auf, dass es „keine Evidenz an sich“ gibt, sondern nur „Evidenz ‚für‘ oder ‚gegen‘ Aussagen oder Vermutungen“.

Diskussion

Die theoretischen und praktischen, wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über schulische und außerschulische Bildungs- und Erziehungsprozesse landen (allzu) oft im „Hamsterrad“ der alltäglichen, institutionalisierten, überkommenen Denk- und Handlungsmuster (siehe z.B. dazu auch: Matthias Burchardt, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26415.php). Es ist sinnvoll und notwendig, gewohnte, etablierte pädagogische Leitbegriffe kritisch zu hinterfragen und nach (auch ungewöhnlichen) Antworten zu suchen (Philipp Staab, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​30373.php).

Fazit

Es sind die unbestrittenen und kontroversen pädagogischen Schlüsselbegriffe und Theorie- und Praxiskonzepte, die im professionellen Denken und Handeln wirksam sind. Es sind traditionalistische Einstellungen („Keine Experimente!“ – „Das haben wir noch nie/schon immer so gemacht!“), die Veränderungs- und Wandlungsprozesse be- oder verhindern. Die Auseinandersetzungen mit „Neusprech“ ist intellektuell und professionell notwendig.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1633 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 14.08.2023 zu: Karl-Heinz Dammer, Anne Kirschner (Hrsg.): Pädagogisches Neusprech. Zur Kritik aktueller Leitbegriffe. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-17-042809-6. Reihe: Pädagogik kontrovers. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30907.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.


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