Felix Heidenreich: Nachhaltigkeit und Demokratie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 13.07.2023

Felix Heidenreich: Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2023.
243 Seiten.
ISBN 978-3-518-29988-3.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 28,90 sFr.
Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft - 2388.
Das neue Hau-Ruck
Die Erkenntnis, dass ökonomische, ökologische und soziale, lebensweltliche Entwicklungen nicht voneinander abgespalten und nicht gegeneinander aufgewogen, sondern zusammen gedacht und gemacht werden müssen, sollte mittlerweile Gemeingut im humanen Denken und Tun sein (Andreas Fischer 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10709.php). Es sind ethische, soziale und politische Fragen, die sich im alltäglichen, intellektuellen Daseinsprozess stellen und wissenschaftstheoretisch und -praktisch thematisiert werden müssen. Dort nämlich, wo freiheitliches, selbstbestimmtes Leben gewollt, gedacht und gelebt wird, gilt es, die demokratischen Werte als Grundlage des individuellen und kollektiven Daseins der Menschheit zu erkennen (Benjamin Dober www.socialnet.de/rezensionen/26178.php).
Autor
Der Stuttgarter Politikwissenschaftler Felix Heidenreich nimmt mit seiner politischen Theorie der Nachhaltigkeit die republikanische Tradition der Demokratietheorie auf: „Wo der Liberalismus die Freiheit als individuelle Ungebundenheit feiert, konzipiert der Republikanismus Freiheit als kollektive Selbstbindung“. So erhält demokratisches Leben eine neue, nachhaltige Sinngebung.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vor- und Schlusswort gliedert der Autor seine Theorie in die folgenden Themenkomplexe: Mit dem Ausruf „Unser Haus brennt“ setzt er sich mit den lokalen und globalen, ego-, ethnozentrischen, rassistischen und populistischen Verfalls- und Untergangsszenarien auseinander. Die Auseinandersetzungen mit dem Begriff, der Vision und dem Faktum von „Nachhaltigkeit“ erfordern, dass diese neue Lebensform im Rahmen des demokratischen Bewusstseins thematisiert werden muss. Es ist die These, „dass das Ziel der nachhaltigen Entwicklung gegenüber den demokratischen Strukturen, Institutionen, Verfahren, ja selbst gegenüber fundamentalen demokratietheoretischen Begriffen wie ‚Freiheit‘ nicht neutral ist“; vielmehr kommt es darauf an, die empirischen, normativen Prozesse von Nachhaltigkeit ganzheitlich zu betrachten. Dabei entstehen demokratietheoretisch und lebensweltlich zwei grundlegend unterschiedliche, politische Realisierungsmöglichkeiten: evolutionär oder revolutionär – „weiche Landung“ oder „Absturz“. Zu diesen ausschließlichen Alternativen gibt es, so der Autor, einen dritten Weg, der sich kennzeichnen lässt als „Bürgerbeteiligung“, als „Resonanz“ und „Resilienz“.
Mit der Frage – „Warum geschieht so wenig?“ – titelt der Autor das nächste Kapitel. Er diskutiert fünf typische Antworten, mit denen er sich gleichzeitig mit bisherigen Theorien und Denkprozessen im wissenschaftlichen Diskurs auseinandersetzt: Es ist die Interpretation, dass die Krisen der Welt als Ausdruck von moralischen Krisen verstanden und bewältigt werden müssen (Hans Jonas); es ist die Auffassung, dass Verantwortung für (Um-)Weltbewältigung „systemrelevant“ sei, womit Heidenreich auch die Luhmannsche Systemtheorie korrigiert; es ist das von der Ostrom-Schule eingeleitete, jedoch nicht zu Ende gedachte Allmende- und Gemeingut-Dilemma, das Markt- und Sozialpositionen gerierende Phänomene nicht deutlich genug in den Blick nimmt; es sind die von Amartya Sen entwickelten verhaltensökonomischen und sozialpsychologischen Präferenzen und die von Harald Welzer und anderen kompensierten Akteursmodelle, die Wertorientierungen festlegen; schließlich ist es der expressive Individualismus, der verhaltens- und kulturkritische Positionen (Hartmut Rosa) festigt und mit Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung etabliert.
Im dritten Kapitel wird mit dem Begriff der „nachhaltigen Lebenswelt“, wie sie in den phänomenologischen Theorien von Edmund Husserl und den von Hans Blumenberg etablierten „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ dargestellt werden. Sind es bewusste oder unbewusste, gemachte oder gedachte Phänomene? „Während Politik oft als Kampf um Ressourcen innerhalb einer polity konzipiert wird…, rückt mit der Vorstellung von der Lebenswelt als einem Ensemble interagierender technisch-materielle, sozial-kultureller und individuell-mentaler Infrastrukturen…, die Interaktion zwischen den Ebenen in den Fokus“.
Das vierte Kapitel wird umschrieben mit: „Die große Transformation“. Vollzieht sich dieser unabwendbare, existentiell notwendige Paradigmenwechsel „liberal oder republikanisch?“. Es sind die drei wesentlichen Formen des demokratischen, freiheitlichen Denkens und Handelns, die den Lebenswelt-Gedanken bestimmen: „Privatheit ethischer Lebensformen“ – „Legitimation von Staatlichkeit durch Leistung“ – „Beteiligung an der gesellschaftlichen Willensbildung“. Eine Aussöhnung (und Komplettierung) von Demokratie und Nachhaltigkeit lässt sich nicht als „Ordre du Mufti“ gestalten, nicht als „geschlossene Lebenswelt“ zeigen, sondern bedarf differenzierter, menschenwürdiger Bedürfnisse.
Das fünfte Kapitel verortet den „Republikanismus der Nachhaltigkeit“ im Rahmen des theoretischen, statischen und dynamischen, inklusiven Diskurses. Es sind die Parameter „nachhaltige Freiheit“, die sich äußert in der individuellen und kollektiven Autonomie: „Das Individuum ist in Lebenswelten frei, wenn und insofern es zugleich die Möglichkeit hat, diese Lebenswelten mitzugestalten“; wenn es in der Lage ist, souverän die gesellschaftspolitischen Prozesse mitzubestimmen; und partizipativ und nachhaltig aktiv teilzuhaben, etwa durch Rechtssicherheit, Expertenkompetenz und institutionalisierter Verantwortlichkeit.
Mit dem sechsten Kapitel fokussiert der Autor seine Theorie der Nachhaltigkeit auf drei politische Denk- und Verhaltensfelder: Mit der „Politik des nachhaltigen Konsums“ erläutert er die Grundsätze einer „Verbraucherdemokratie“; mit der Prämisse der „Macht des Möglichen“, wie eine nachhaltige Mobilität entstehen kann; und mit der Frage, wie „digitale Lebenswelten für Nachhaltigkeit“ sich entwickeln können. Ein „Republikanismus der Nachhaltigkeit“ als institutionelle, materielle und rechtliche Regelung bietet die Chance einer „republikanischen Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit durch kollektiv bindende Entscheidungen, die den gezielten Aufbau nachhaltiger Lebenswelten durch eine starke Input-Legitimation auch gegen die Widerstände einer auf private Lebensführung verweisenden Opposition“.
Diskussion
Auswege aus den Krisen der Welt lassen sich nur finden durch ehrliche, faktische, reale Analysen, wie sie z.B. die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 mit der Aufforderung zum individuellen und kollektiven Perspektivenwechsel zum Ausdruck bringt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Ist es Dilemma oder Perspektive, wenn in Zeiten der Demokratiekritik, von ego-, ethnozentrischen, nationalistischen, faschistischen, diktatorischen und populistischen Entwicklungen die Frage nach „Gleichheit in einer ungleichen Welt“ gestellt wird? (Corinna Michaela Flick, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/30695.php).
Fazit
Wenn Nachhaltigkeit als individuelles und kollektives Lebensziel verlangt wird und erforderlich ist, braucht es auch beim demokratischen Regierungshandeln neue Denk- und Handlungsmuster: Governance, Gouvernementalität und Demokratie der Nachhaltigkeit. Es gilt das allgemeine, freiheitliche, aufgeklärte Bewusstsein zu schaffen, zu fördern und zu praktizieren: „Die Zukunft der Demokratie hängt … davon ab, ob es gelingt, kollektiv eine realistische Vorstellung von dem, was auf uns zukommt, zu generieren“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1695 Rezensionen von Jos Schnurer.