Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele
Rezensiert von Dr. Hans-Adolf Hildebrandt, 05.10.2023
Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2021. 372 Seiten. ISBN 978-3-608-98464-4. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.
Thema
Einleitend will ich kurz erwähnen, dass mein Interesse an diesem Buch von seinem Titel geweckt worden war, da ich „vernetzt“ mit „digital“ assoziiert hatte. Ich hatte nämlich vermutet, dass die Autoren sich mit unserer digitalen Welt, ganz aktuell mit der künstlichen Intelligenz und ihren Auswirkungen auf die psychische Struktur der Menschen beschäftigen. Meine Assoziation erwies sich jedoch umgehend als Missverständnis. Zu erkennen gibt sich das Anliegen des Buches im Untertitel „Die intersubjektive Wende der Psychoanalyse“. Noch stärker pointiert, fast reißerisch klingend, überschreiben die Herausgeber ihr Vorwort zur 2. Auflage: „Modernisierung der Psyche“. Darin sprechen sie von der Notwendigkeit, dass die sich in der Krise befindende Psychoanalyse modernisiert werden müsse, indem sie Freuds Montagetheorie überwindet und über den Weg der subjektiven Wende eine Kerntheorie entwickelt. Diese These wird in ihrer sehr ausführlichen Einleitung, der sie ein Zitat von Sudhir Kakar voranstellen (Die Psychoanalyse hat das graben in der Tiefe übertrieben. Im Fluss des Lebens fließt alles mehr oder weniger weit oben. Die allertiefste Tiefe ist eine Illusion.) weiter ausgeführt. Sehr entschieden treten sie darin für einen Paradigmenwechsel, also einem Wechsel anerkannter Lehrmeinungen, ein.
Herausgeber
Einer der beiden Herausgeber, Helmut Thomä, ist ein namhafter Psychoanalytiker, bekannt durch das gemeinsam mit Horst Kächele verfasste dreibändige Standardlehrbuch „Psychoanalytische Therapie“. Martin Altmeyer war unter anderem als Privatdozent im Fachgebiet Psychoanalyse an der Universität Kassel tätig und ist als Autor verschiedener Publikationen zur relationalen Psychoanalyse bekannt.
Autoren
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil enthält die Beiträge der Vertreter des „amerikanische Intersubjektivismus“. Zu ihnen zählen Thomas H. Ogden, Jessica Benjamin, L. Aron und A. Harris, B. Beebe und F. Lachmann, D.M. Orange, et al sowie M.Carvell. Im zweiten Teil kommen als Vertreter der „europäischen Positionen“ W. Bohleber, A. Green, J. Laplanche, M.B. Buchholz, A. Honneth und J.Whitebook zu Wort. Jeweils in einer kurzen Einleitung stellen die Herausgeber die Autoren vor, skizzieren ihren Forschungsschwerpunkt und den theoretischen Kontext ihrer Ausführungen.
Entstehungshintergrund
Von Helmut Thomä ist bekannt, dass er von anglo-amerikanischen Einflüssen geprägt, eine Position vertreten hat, wonach er die institutionalisierte Psychoanalyse skeptisch betrachtet und eine empirische Fundierung der Psychoanalyse sowie die Verwissenschaftlichung der Ausbildung gefordert hat. Auch Martin Altmeyer vertritt in seinen Publikationen einen intersubjektiven, d.h. erlebnisnah orientierten Ansatz in der Psychoanalyse und unterscheidet sich damit wie Thomä in wesentlichen Punkten von der klassischen Konzeption Freuds, indem er dessen intrapsychisch orientiertes Modell der Psyche zugunsten des grundlegenden Vorrangs von „intersubjektiver“ Beziehungsrealität in Frage stellt.
Aufbau und Inhalt
Im Vorwort zur 2. Auflage sprechen die Herausgeber von der „verspätete(n) Modernisierung der Psychoanalyse, die unter dem Paradigma der Intersubjektivität stattfindet“ und aus „den Sackgassen der dualistischen Triebtheorie“ herausführen soll (S. II). Die Notwendigkeit zur „Modernisierung“ leiten die Herausgeber aus der anhaltenden Krise der Psychoanalyse ab (abnehmende Patientenzahlen und zunehmende Konkurrenz), die sie u.a. darauf zurückführen, dass die Psychoanalyse den Anspruch auf ein Sonderwissen über die seelische Innenwelt erhebt. Dies sei wiederum Schuld daran dass die Psychoanalyse aktuell um ihr Überleben kämpfe (S. 335). Aus dieser Haltung heraus positionieren sich die Herausgeber in ihren Einführungen zu den Beiträgen der jeweiligen Autoren sehr klar und ohne Ambivalenzen für eine intersubjektive Wende mit der die Psychoanalyse aus der Sackgasse der dualistischen Triebtheorie herausgeführt werden solle. Ein weiteres Motiv ihrer engagierten Positionierung kann in dem Bestreben einer Integration der „in zahlreiche Schulen zerfallenen Psychoanalyse unter einem einheitsstiftenden Paradigma (…) der Relationalität oder Intersubjektivität“ (S. 108) gesehen werden
Dem Rezensenten stellt sich die schwierige Aufgabe, in ausgewählten Facetten die Hauptlinien des Diskurses und die Kernpositionen, die von den Autoren ausgeführt werden, darzustellen. Als zulässige Vereinfachung möchte ich zwei Aspekten folgen:
- Das Selbst als bis in seine tiefsten Schichten Produkt sozialer Interaktion, versus: die vorsoziale Natur des Menschen als Quelle unausrottbarer Negativität, bzw. Destruktivität.
- Der psychoanalytische Prozess als wechselseitige Beeinflussung von und Erzeugung eines analytischen Dritten, versus: die intersubjektive Dimension als Spiegel jener intrapsychischen Dimension, die der Analyst in den analytischen Prozess einbringt.
Folgen wir zunächst dem ersten Gegensatzpaar.
Obwohl dieses Thema in vielen Beiträgen mitgedacht wird, nimmt es expliziten Raum nur bei Honneth und Whitebook ein. Beide vertreten konträre Positionen. Honneth stellt sich die Frage, „ob und in welcher Weise wir eine vorsoziale Natur im Menschen annehmen sollen, die als Quelle einer unausrottbaren ‚Negativität‘ gelten kann“ (S. 316). Honneth wendet sich gegen die Kritik am Intersubjektivismus und geht dabei auf die Annahme ein, der Mensch habe eine vorsoziale Natur, insbesondere eine natürliche Aggressivität, die durch keine Form der Sozialisation im Zaum zu halten sei. Er widerspricht der Annahme, das Individuum verfüge über eine ursprüngliche Reflexivität, die nicht das Produkt einer Sozialisation ist. Schließlich widerspricht er der Annahme einer ursprünglichen Phase der Omnipotenz, „deren Eigenart in der Abwesenheit aller Vorstellungen von einer unverfügbaren, objektiven Wirklichkeit bestehen soll“ (S. 318). Der These einer vorsozialen Natur des Menschen, eines nicht-sozialisierbaren Ichs setzt Honneth die Annahme entgegen, dass das Individuum aus einem antisozialen Unabhängigkeitsstreben heraus die Unterschiedlichkeit des Anderen leugnet.
Im Gegensatz zu Honneth sieht Whitebook im innersten Kern des Menschen eine antisoziale Neigung des Unbewussten, Andere zu zerstören, Bindungen zu verhindern „und sich widerständig gegen alles Subjektive zu verhalten“ (S. 334). Hierin wird er von den Herausgebern in ihrer Einführung bemerkenswert scharf kritisiert. Sie lasten ihm an, dass er Vertreter einer Position sei, die die Psychoanalyse „im interdisziplinären Gespräch der Humanwissenschaft an den Rand des Abgrunds“ gebracht und „in der Öffentlichkeit derart in Misskredit gebracht hat, dass die Psychoanalyse zu Beginn des 21. Jahrhunderts um ihr Überleben kämpfen muss“ (S. 335).
Whitebook widerspricht der Auffassung, das Selbst sei bis in die tiefsten Schichten sozialvermittelt, denn das würde bedeuten, dass es ursprünglich eine tabula rasa sei; er hält es für einen Fehler, die Bedeutung der Negativität zu unterschätzen. Er widerspricht der Auffassung des Intersubjektivismus, zwischen Analytiker und Analysand sei eine Reziprozität anzustreben. Von diesem Ziel des philosophischen Dialogs unterscheide sich der analytische Dialog insofern, als „der Versuch des Analytikers, den undurchschaubaren, widerständigen Anderen zu verstehen, zurück zu der Begegnung mit der eigenen Undurchschaubarkeit und Widerständigkeit, einer Opakheit innerhalb des wissenden Subjekts, d.h. im Analytiker selbst (führe), die gleichermaßen nur in begrenzten Maße aufgelöst werden kann.“ (S. 350). Schließlich widerspricht er Honneths intersubjektivistischer Position auch in der Hinsicht, dass dieser zwar nicht so weit geht, eine vorgegebene Harmonie im Verhältnis von Psyche und Gesellschaft zu postulieren, jedoch den Grundsatz der kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule aufgibt, dass ein Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft und im Individuum selbst besteht. Whitebook schließt seine Ausführungen mit dem provokanten Satz, man müsse sich entscheiden, ob die Evidenz der psychoanalytischen Erfahrung als Mittel gebraucht wird für einen privilegierten Zugang zur menschlichen Natur oder zum Instrument der Forschung mit verzerrten Ergebnissen.
Folgen wir nun dem zweiten Gegensatzpaar.
Für Ogden ist das „analytische Dritte“ zum Schlüsselbegriff im Diskurs über Intersubjektivität geworden. Sich auf Winnicott’s Bemerkung beziehend, dass es den Säugling nicht ohne Mutter gibt, überträgt er diesen Gedanken auf die analytische Situation. Auch hier gäbe es den Analysanden nicht ohne die Beziehung zum Analytiker und den Analytiker nicht außerhalb der Beziehung zum Analysand. In seinen weiteren Ausführungen versucht er, „die Erfahrung des unbewussten Zusammenspiels von (getrennter) Subjektivität und (geteilter) Intersubjektivität zu begreifen und in ihrer besonderen Qualität zu beschreiben.“(S. 37) An einem Fallbeispiel erläutert er, dass Analytiker und Analysand als verbindendes Element etwas Neues, von ihm als analytisches Drittes, als unbewusste Form der Subjektivität bezeichnet, erschaffen. Es sei wichtiger, solche Erfahrungen zu erleben, als sie zu deuten.
Benjamin weist auf die Gefahr hin, dass Analytiker und Analysand so eng miteinander verbunden sein können, dass sie in Beziehungskollusion geraten können. Für sie ist die abstinente Haltung des Analytikers kein Ausweg. Für sie ist es das analytische Dritte, das vom Analytiker und Analysand gemeinsam geschaffene Dritte. Dies wiederum setze voraus, dass der Analytiker seine Abstinenz und Deutungshoheit, seine asymmetrische Komplementarität aufgibt und sich als verantwortlichen Teilnehmer einer Interaktion versteht.
Beebe und Lachmann heben hervor, dass die relationale Psychoanalyse sich von inneren Prozessen ab und Beziehungsvorgängen zuwende. Für sie tritt an Stelle von Übertragung, Projektion, Gegenübertragung oder projektiver Identifikation das Konzept einer gemeinsam hergestellten analytischen Erfahrung, die den Analytiker einschließt.
In den Ausführungen von Orange, Stolorow und Atwood beschreiben die Autoren das Unbewusste aus intersubjektiver Perspektive und unterscheiden das vorreflexive, das dynamische und das „unvalidierte“ Unbewusste. Im Freudschen Sinne ähnelt das vorreflexives unbewusste meiner Ansicht nach eher dem Vorbewußten, das dynamische Unbewusste den verdrängten psychischen Inhalten und das „unvalidierte“ Unbewusste einem Spaltungsprozess. Ein wesentlicher Teil ihrer Ausführungen ist jedoch die Abkehr vom analytischen Setting. „Sobald sich der Analytiker durch die Abstinenzregel oder irgendeine andere ,Regel', die man aufstellen könnte (selbst durch die Regel der ,freien' Assoziation) diktieren lässt, wie er die Behandlung zu führen hat, beginnt die Psychoanalyse in ihrer Praxis den liturgischen Ritualen zu ähneln…“ (S. 174).
Von den Herausgebern als Vertreter der „europäische(n) Antwort auf die amerikanische Herausforderung“ dargestellt weist Bohleber auf die Gefahr hin, „das individuelle Subjekt begrifflich zu verwässern.“ Aber auch die klinische Autorität des Analytikers gerate in die Kritik und verliere durch die Verschiebung der verbalen Deutung hin zum Pol der interaktiven Beeinflussung durch Erfahrung an Bedeutung. Bohleber weist daraufhin, dass Theorien zur analytischen Beziehung intersubjektive Ansätze vorweggenommen haben (erwähnt werden u.a. Loch, Argelander, Lorenzer) die jedoch im gegenwärtigen Diskurs vernachlässigt würden, er spricht von „Traditionsvergessenheit“. Außerdem äußert er Zweifel, ob die Partner des analytischen Dialogs sicher sein können, „dass ihre ko-konstruierten Bedeutungen valide sind und keine folie-à-deux darstellen“ (S. 220).
Diskussion
Die Lektüre des Buches löst beim Rezensenten eine anhaltende Irritation aus, die sich darauf zurückführen lässt, dass die Herausgeber sich nicht auf eine kurze Einführung in das Thema und die Vorstellung der Autoren der verschiedenen Beiträge beschränken, sondern mit eigenen, den Texten der Autoren jeweils voran gestellten einführenden Interpretationen mehr Raum beanspruchen, als dies für Herausgeber üblich ist. Inhaltlich diskutieren sie damit den ihrer Meinung nach notwendigen Paradigmenwechsel der Psychoanalyse und beeinflussen zugleich nachhaltig den Leser mit ihren Kommentaren. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei die intersubjektive Wende bereits die von ihnen geforderte notwendige Modernisierung der Psychoanalyse. Andere Möglichkeiten werden nicht in Erwägung gezogen. Ohne diese Kommentare der Herausgeber wäre das vorliegende Buch eine Sammlung konträrer Meinungen. Erst durch die polarisierenden Kommentare der Herausgeber entsteht aus einem offenen Diskurs eine dogmatisch vorgetragene Lehrmeinung.
Die Autoren, der Lesbarkeit halber fasse ich Herausgeber und Autoren der einzelnen Beiträge zusammen, argumentieren, die Psychoanalyse befinde sich durch zunehmende Konkurrenz durch andere Formen der Psychotherapie in einer Krise. Diesem Argument kann zugestimmt werden, dominiert inzwischen doch ganz offensichtlich die Verhaltenstherapie nicht nur in der Richtlinientherapie. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass es mittlerweile keinen universitären Lehrstuhl für Psychoanalyse an staatlichen Hochschulen mehr gibt. Ein weiterer Grund der Krise liegt ihrer Ansicht nach darin, dass die Psychoanalyse einen Anspruch auf ein Sonderwissen über die seelische Innenwelt erhebe. Auch deswegen sei sie veraltet und müsse modernisiert werden.Im zweiten Argument scheint die Bereitschaft angelegt zu sein, das profunde Wissen der Psychoanalyse über unbewusste menschliche Reaktionen, mit dem sie die gesellschaftlichen Umstände, die den Menschen entstellen und deformieren untersuchen kann, aufzugeben. Wenn aber ernsthaft vertreten wird, das „Graben in der Tiefe“ (S.Kakar, S. 7) aufzugeben, dann bedeutet das, dass der Kern der psychoanalytischen Theorie und Therapie aufgegeben werden soll.
Die oberflächliche Analyse, dass sich die Psychoanalyse in einer Krise befinde, ist nicht neu. Für Fromm lag der Hauptgrund der Krise der Psychoanalyse im Wandel von einer radikalen zu einer konformistischen Theorie (Fromm 1970). Diese Ansicht teilte auch Marcuse mit der Feststellung, dass die Psychoanalyse mehr dem Bestehenden als dem Individuum zu helfen scheint (Marcuse 1965).
Der Weg aus der Krise führt nach Ansicht der Autoren aus den „Sackgassen der dualistischen Triebtheorie“ (S.II) über einen Paradigmenwechsel, gemeint ist eine intersubjektive Wende, deren Kernthese es ist, dass „das Bild einer psychischen Realität ( … ) bis tief in ihre unbewussten Schichten hinein mit der Realität der Außenwelt verbunden ist“ (S. I), durch „ein vermittelndes Drittes“ und damit ein Zwischen (=inter) (S. 11). Im Grundsatz versuchen die Autoren zu begründen, dass die ursprünglich von Freud entwickelte dualistische Triebtheorie, also der Kampf von Eros und Thanatos, von Todes-/​Destruktionstrieb und auf Vereinigung drängendem Sexualtrieb durch die Befunde empirischer Säuglingsforschung und Bindungsforschung widerlegt sei.
Überraschend ist, dass die Autoren der Neuformulierung der Freudschen Triebtheorie, wie sie von Fromm als einer von den Autoren nur kurz erwähnten „Dissidenten“ (neben Bowlby, Sullivan, Fairbairn und Radò) bereits 1937 dargestellt worden ist, keine Beachtung schenken, bzw. als bloße „Wegbereiter der intersubjektiven Wende“ (S. 12) übergehen. Dadurch übersehen sie, dass Fromm in seiner Neuformulierung der Freudschen Triebtheorie ein Konzept der analytischen Sozialpsychologie entwickelt hat, in der bereits die wesentlichen Elemente der von ihnen als Paradigmenwechsel propagierten intersubjektiven Wende enthalten sind. Es kann nur empfohlen werden, insbesondere Fromms Ausführungen zur Beziehung zwischen Analytiker und Patient neu zu lesen. Auch wenn Fromm es nicht so bezeichnet hat, beschreibt er im Grunde das von Ogden als „analytisches Drittes“ bezeichnete ganzheitliche Erleben in der therapeutischen Beziehung. Im Konzept der analytischen Sozialpsychologie wird außerdem ausgeführt, dass die psychischen Instanzen, Mechanismen und Strukturen durch die sozio-ökonomischen Verhältnisse geprägt sind.
Mit dieser Auffassung wird die sogenannte „Monadentheorie“ ganz wesentlich erweitert, aber eben nicht ersetzt. Der Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft schenken die Autoren jedoch überhaupt keine Beachtung. Ebenso wenig werden die sozio-ökonomischen Veränderungen (als Stichworte: Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, usw.) im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche und psychische Struktur (als Stichworte: Vaterlosigkeit, Entfremdung, Auflösung traditioneller Rollenmuster und damit verbundenen Identifikationen, usw.) behandelt. Man könnte auch sagen, übersehen wird das allgemeine Unglück im individuellen. Übergangen wird, so lässt sich konkretisieren, der Konflikt zwischen Eros und der Gesellschaft als Institution des Realitätsprinzips und den damit verbundenen Auswirkungen eines Anwachsens zerstörerischer Energie (Thanatos).
Die Autoren begründen ihre These des Verhaltens der Psychoanalyse auch mit neueren empirischen Erkenntnissen. Hier ist jedoch einzuwenden, dass mit einer unkritischen Orientierung an Erkenntnissen von entwicklungspsychologischer Forschung und Neurowissenschaften die Psychoanalyse als gesellschafts- und ideologiekritische Methode der Selbstreflexion und Untersuchung der gesellschaftlichen Determiniertheit der psychischen Struktur aufgegeben wird. In diesem Zusammenhang wies bereits Marcuse darauf hin, dass nicht die Psychoanalyse veraltet sei, sondern dass wir es – und das gilt auch heute noch – nicht mehr mit einem bürgerlichen Individuum zu tun, haben mit einer ausgeprägten Struktur von Es, Ich und Über-Ich. Gesellschaftliche Entfremdungsprozesse, die Anonymisierung von repressiven Strukturen und mediale Manipulation tragen in der postmodernen Gesellschaft zu einer weitgehenden Entsublimierung in den sozialen Beziehungen bei.
Gefördert wird dies auch durch eine wachsende Erwartung nach schneller Symptombeseitigung ohne Anstrengung, die sich auch darin widerspiegelt, dass heute überwiegend in Kurzzeittherapien behandelt wird. Wenn wir eine Krise der Psychoanalyse konstatieren, dann resultiert sie vielmehr aus einem Rückzug ins Private und der Abkehr von der Gesellschaftskritik Freuds, wie er sie u.a. in der Analyse des „Unbehagens in der Kultur“ formuliert hat, in der Aufgabe also der Psychoanalyse als kritische Kulturwissenschaft. Wenn von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden kann, dann hat er also längst stattgefunden, widersinnigerweise in der Abkehr vom Konflikt zwischen dem Trieb-Schicksal des Individuums und dem etablierten gesellschaftlich-historischen Realitätsprinzip. Aber auch in der Abkehr von der Widerstandsanalyse und der Übertragungsanalyse, (S.Kakar, Beebe u. Lachmann) den elementaren Bestandteilen des psychoanalytischen Verfahrens.
Ein Weg aus der Krise kann nicht in der Aufgabe der Monadentheorie, in einer Abkehr von den Freudschen Begriffen bestehen. Die zukünftige Aufgabe der Psychoanalyse – im Sinne der von den Autoren angesprochenen Modernisierung, bzw. Paradigmenwechsel – sollte darin bestehen, den Individuen die regressiven Auswirkungen einer repressiven Gesellschaft (Negt spricht von einer „kulturellen Erosionskrise“ in der „alte Werte, Normen, menschliche Haltungen nicht mehr unbesehen und deshalb auch nur noch schwer tradiert werden können“. (Negt 2010, S. 13) bewusst zu machen. Eine „modernisierte“ Psychoanalyse kann den Individuen helfen, in Absage und Opposition gegenüber dem Bestehenden zu leben. Wenn sich die Psychoanalyse vom Joch des Empirismus befreit, kann sie dazu beitragen, gesellschaftlich bedingte Entfremdungsprozesse (Angst, Vereinsamung, Furcht vor tiefen Empfindungen, Mangel an Freude und produktivem Tätig sein) als wesentliche Ursache für psychisches Leiden zu erkennen und in einem kreativen Erneuerungsprozess, in dem sie „ihren herausforderndsten Hypothesen die Treue hält“ (Marcuse 1965, S. 106) ihren „positivistischen Konformismus überwindet und wieder zu einer kritischen, herausfordernden Theorie im Sinne eines radikalen Humanismus wird“ (Fromm 1970, S. 69). Zwar kann die Psychoanalyse keine politische Alternative in der Auseinandersetzung mit autoritären Bedrohungsallianzen bieten, sie kann aber dazu beitragen die psychischen Strukturen hinter der zunehmenden gesellschaftlichen Verrohung aufzudecken, den alltäglichen Mut einer konfliktfähigeren Zivilgesellschaft zu stärken und jeglicher Hassrede zu widersprechen und auf diese Weise eine neue Aktualität gewinnen. Dies kann sie erreichen unter „Aufrechterhaltung methodischer Strenge und Sorgfalt bei ständiger Rezeptionsbereitschaft für das Andere – das Nichtvertraute und zuvor nicht zur Kenntnis genommene. Nur aus der Kenntnis dieses ,Anderen' (die dritte Position im Sinne Ogdens, Anm. Hi.) erwächst der kritische und beständige Blick auf sich selbst und das eigene Tun“ (Ohlmeier 2007).
Fazit
Das entfremdete Denken, um mit Fromm zu sprechen, die Traditionsvergessenheit mit den Worten Bohlebers „ ist der Grund, weshalb ( … ) die psychoanalytische Moderne in ihren unterschiedlichen Spielarten des Intersubjektivismus als Neuentwicklung auftauchen kann…“ (S. 213 f.). Oder mit den Worten Einsteins: „Man kann ein Problem nicht mit denselben Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben.“
Literatur
Fromm, E. (1937): Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft; in: Schriften aus dem Nachlass (1992)
Fromm, E. (1970): Die Krise der Psychoanalyse; in: GA Bd.8
Marcuse, H. (1965): Das Veralten der Psychoanalyse; in: Kultur und Gesellschaft 2
Negt, O. (2010): Subjektivität in der Erosionskrise, in: Alex Demirović/Christina Kaindl/, Alfred Krovoza (Hrsg.): Das Subjekt -zwischen Krise und Emanzipation
Ohlmeier, D. (2007): Ein Rückblick; in: Matrix
Rezension von
Dr. Hans-Adolf Hildebrandt
Diplom-Pädagoge, M.A.,
Kinder- und Jugendpsychotherapeut (bkj, DFT),
Gruppenanalytischer Organisationsberater,
und Diplom-Supervisor (D3G, DGSv),
Gruppenpsychotherapeut (D3G),
Forensischer Sachverständiger Familienrecht (IQfSV)
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Es gibt 11 Rezensionen von Hans-Adolf Hildebrandt.
Zitiervorschlag
Hans-Adolf Hildebrandt. Rezension vom 05.10.2023 zu:
Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2021.
ISBN 978-3-608-98464-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30917.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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