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Josef Giger-Bütler: Was ist Depression wirklich?

Rezensiert von Prof. Dr. Mark Galliker, 05.07.2023

Cover Josef Giger-Bütler: Was ist Depression wirklich? ISBN 978-3-8436-1374-3

Josef Giger-Bütler: Was ist Depression wirklich? Plädoyer für ein neues Verständnis. Patmos Verlag (Ostfildern) 2023. 160 Seiten. ISBN 978-3-8436-1374-3. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.

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Thema

In diesem Buch wird thematisiert, was depressive Störungen in Wirklichkeit sind, was zu ihnen führt und wie sie überwunden werden können.

Autor

Der Autor ist ein bekannter Gesprächspsychotherapeut, der seit mehr als vier Jahrzehnten auf die Therapie von Depressionen spezialisiert ist. Er hat eine Praxis in Luzern und ist Autor verschiedener Bücher zur Therapie depressiver Menschen (u.a. Endlich frei. Schritte aus der Depression, 2007; Depression ist keine Krankheit, 2012).

Entstehungshintergrund

Nachdem sich Giger-Bütler in zahlreichen Büchern mit diversen Aspekten des Lebens depressiver Menschen beschäftigt hat (u.a. auch mit den Angehörigen), vermittelt er im vorliegenden Werk, ein klares Bild von der Ontogenese der Depression. Dies geschieht, indem er die Depression von emotionalen Belastungszuständen abgrenzt und sie zunächst als implizites und bei einem ungünstigen Verlauf als explizites Befinden darstellt.

Aufbau

Das Buch besteht aus zwölf Kapiteln, die jeweils in zwei bis neun Unterkapitel unterteilt sind. Die Hauptkapitel behandeln u.a. Themen wie das traditionelle Bild der Depression, Kindheit und Depression, Phasen der Depression und Ausstieg aus der Depression.

Inhalt

Nach Giger-Bütlers Darstellung der Kindheit depressiver Personen waren für dieselben die Eltern zwar meistens anwesend, aber sie konnten ihrem Kind aufgrund eigener Überforderung und Brüchigkeit keinen wirklichen Halt geben. Mithin konstituieren sie auch für ihren Nachwuchs ein Klima der Brüchigkeit und überfordern ihn. Um in dieser Situation überhaupt leben zu können, reagieren die Kinder, indem sie den anderen Familienmitglieder großes Verständnis entgegenbringen. Bei überforderten Eltern helfen sie z.B. bei der Betreuung der Geschwister. Sie leisten einen Einsatz, der ihnen sehr viel abverlangt, aber ihnen kaum etwas einbringt, sondern ihnen im Gegenteil letztlich schadet.

Die Kindheit depressiver Menschen ist von der Bemühung geprägt, immer für andere präsent zu sein, um wenigstens auf diese Weise ein wenig Sicherheit zu erhalten. „Alles, von dem die Kinder glauben, dass die Eltern es brauchen, dass sie es gernhaben, dass sie es von ihnen fordern können, wird in ihr Verhalten aufgenommen, und sie sind der Überzeugung, dass man es von ihnen auch so erwartet. Alles, was die Eltern stören, nerven, belasten oder ärgern könnte, versuchen sie von ihnen fernzuhalten. Sie mobilisieren dazu alle ihre Kräfte und gehen so über ihre Grenzen“ (Giger-Bütler, 2023, S. 65).

Laut dem Autor gelten für angehende Depressive schon in der Kindheit folgende Maximen: hilfreich und lieb, groß und erwachsen zu sein, so, dass man die Eltern zeitlich, arbeitsmäßig, emotional und hinsichtlich eigener Schuldgefühle nicht belastet; „sich zu opfern und aufzuopfern für die anderen und die eigenen Bedürfnisse und Wünsche hintanzustellen“ (ebd., S. 66). Wenn sich ein Mensch, vorab ein junger Mensch, ein Kind, dermaßen zurücknimmt, seine eigenen Bedürfnisse und Interessen sowie die entsprechenden Gefühle unterdrückt, führt dies fast zwangsläufig zur Selbstentfremdung und zum Selbstverlust. Kinder, die sich so als verwendbar erweisen, wie sie gebraucht werden, sehen in ihren Eltern nicht Menschen, die ihnen helfen können, sondern sie betrachten sich selbst in erster Linie als Menschen, die anderen helfen.

Wenn Kinder nicht das bekommen, was sie brauchen, gewöhnen sie es sich mit der Zeit ab, überhaupt etwas für sich zu beanspruchen oder nur das Bedürfnis danach zu haben. Sie werden „Selbstversorger“, die alles mit sich selbst ausmachen (vgl. ebd., S. 67). Die betroffenen Kinder verhalten sich fortan wie „kleine Erwachsene“, die überaus vernünftig sind. Sie passen sich überall an, nehmen sich selbst zurück, um es Geschwistern, Eltern, und später anderen Bezugspersonen sowie Kollegen und Kolleginnen möglichst leicht zu machen.

Nach dem Autor sind Menschen, die sich so verhalten, bereits implizit depressiv, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. „In der Phase der Latenzdepression zeigen sich Betroffene häufig nach außen dennoch ausgeglichen und voller Kraft, innerlich aber fühlen sie sich meist unsicher, schlecht, kraftlos und häufig leer“ (ebd., S. 83; Hervorhebung durch Giger-Bütler). Indessen führen die jahrelange Überforderung und die immer wieder neue Erschöpfung eines Tages zum Zusammenbruch. „Irgendwann sind das Abwehr- und Immunsystem nachhaltig geschwächt – mit allen Folgeerscheinungen. Dann ist die Angst zu groß, der Druck zu stark, und es fehlt die Kraft, sich immer wieder neu zu motivieren und sich zu überwinden. Betroffene fühlen sich, als sei ihnen der Stecker gezogen worden. Dann spreche ich von der manifesten, der sichtbaren Depression, dann sprechen wir von der Depression als einer Krankheit“ (ebd., S. 84 f.; Hervorhebung von Giger-Bütler).

Kinder, die als Erwachsene schließlich unter einer Depression leiden, nehmen alle Stimmungen auf und spüren alle Regungen ihrer Mitmenschen. Sie tun, was sie glauben, tun zu müssen, ohne dass ihre primären Bezugspersonen oder später andere Personen entsprechend auf sie zugehen müssen. Eine Patientin beschreibt dies wie folgt: „Seit ich denken kann, wollte ich immer für andere das Beste und habe meinen Bedürfnissen in all den Jahren zu wenig Beachtung geschenkt“ (Giger-Bütler, 2023, S. 68).

Hinsichtlich der Prävention und der psychotherapeutischen Praxis, der Selbst- sowie der Fremdtherapie ist das Buch sehr aufschlussreich. Es wird detailgenau dargestellt, wie eine Entwicklung vermeidbar ist und wie vorgegangen werden kann, um aus einer eigentlichen Depression wieder hinauszukommen. Im Prinzip geht es darum, dasjenige rückgängig zu machen, was zu einer depressiven Entwicklung geführt hat. Demnach erfordert eine Besserung des Befindens im Wesentlichen:

  • Sich selbst wichtig zu nehmen, auf sich selbst zu hören und sich nicht zu überfordern;
  • Sich nicht länger zu übergehen, zu vernachlässigen und in den Hintergrund zu stellen;
  • Weniger streng im Umgang mit sich selbst zu sein (vgl. ebd., S. 110).

Diskussion

Meines Erachtens ist es sicherlich zutreffend, was Giger-Bütler zu den ontogenetischen Voraussetzungen der Depression schreibt. Doch könnte man sich fragen, ob nicht neben dem vernachlässigenden und insbesondere ausnützenden Verhalten auch das verwöhnende Verhalten durch die primären Bezugspersonen längerfristig gesehen eine Depression verursachen könnte. Ist bei einem heranwachsenden Jungen die Mama überfürsorglich, bleibt der Sohn überlang abhängig und vermag keine eigene Initiative zu ergreifen. Bei einer überprotektiven Mutter, die dem jungen Mann noch eine Art Luxusleben garantiert, ohne Gegenleistungen zuzulassen, zu ermöglichen und einzufordern, kann dieser außerhalb des Elternhauses niemandem etwas bieten und findet kaum Anschluss an eine Peergroup, welche erste Schritte der Loslösung von der primären Bezugsperson und damit in die Selbstständigkeit einleiten könnte. Dagegen ist zu bedenken, dass verwöhnende Mütter oder Vater nicht zufällig verwöhnend sind. Möglicherweise werden dadurch die Mädchen oder Jungen weiterhin an sich gebunden und bleiben so das Objekt fremder Bedürfnisse. Doch Kinder sind nicht das Eigentum der Eltern, weder in der Adoleszenz noch als Kleinkind, als sie möglicherweise gerade von solchen Eltern für ihre eigenen (z.B. sexuellen) Bedürfnisse missbraucht wurden, die später die Kinder verwöhnen, um bewusst oder unbewusst frühere Ereignisse (u.a. Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung) ungeschehen zu machen.

Giger-Bütlers Unterscheidung zwischen latenter und manifester Depression scheint wissenschaftlich ergiebig zu sein. Indessen kann man sich fragen, warum (erst oder auch überhaupt) bei einem Übergang zur manifesten Depression der Krankheitsbegriff bemüht wird. Rogers, der Pionier des personzentrierten Ansatzes, dem sich der Autor verpflichtet fühlt, lehnte die Psychopathologisierung der Klienten und Klientinnen ab. Doch der Autor wollte dem Begriff Krankheit nicht ausweichen, sondern seinen Gebrauch differenzieren. Die fatalen Folgen der Stigmatisierung und Ausgrenzung könnten mit einem nicht generalisierenden Gebrauch eingeschränkt werden. Für den Psychotherapeuten und Autor Giger-Bütler ist entscheidend, dass man bei der expliziten Depression den Endzustand der depressiven Entwicklung in seiner ganzen Ausprägung sieht. Sie ist verbunden mit der Einnahme von Medikamenten und häufig mit dem Aufenthalt in einer Klinik. Auch weist der Autor zu Recht darauf hin, dass sich diese Personen in der manifesten Depression tatsächlich krank fühlen. Und was zu ihrer Krankheit gehört (u.a. Arbeitsdispensierung, Krankheitsgeld etc.) kann ihnen nicht einfach abgesprochen werden.

Fazit

Giger-Bütler eröffnet in einer klaren, anschaulichen und leicht verständlichen Sprache jenseits der weit verbreiteten Vorurteile und Etikettierungen der Personen, die sich beständig überfordern, eine Perspektive auf das fragliche Phänomen, die den Betroffenen einen neuen Stellenwert zuweist und ihnen den Weg zu einer Befreiung aufzeigt. Diagnosen im Sinne der üblichen Psychopathologie werden zumindest für das Stadium der impliziten Depression zurückgewiesen.

Rezension von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
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Es gibt 18 Rezensionen von Mark Galliker.

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Zitiervorschlag
Mark Galliker. Rezension vom 05.07.2023 zu: Josef Giger-Bütler: Was ist Depression wirklich? Plädoyer für ein neues Verständnis. Patmos Verlag (Ostfildern) 2023. ISBN 978-3-8436-1374-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30923.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.


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