Robin Meyer: HipHop, Szene und Adoleszenz
Rezensiert von Dennis Just, 28.12.2023
Robin Meyer: HipHop, Szene und Adoleszenz. Auswirkungen von Szene-Zugehörigkeit auf ausgewählte Prozesse im Jugendalter.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
237 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7541-0.
D: 48,00 EUR,
A: 49,40 EUR.
Reihe: Jugendforschung. .
Thema der Publikation
In der vorliegenden Monografie erforscht R. Meyer die Auswirkungen der Zugehörigkeit zur HipHop-Szene auf spezifische Prozesse im Jugendalter. Die zentrale Forschungsfrage lautet, inwiefern „die im Rahmen der Szene erworbenen Orientierungen und Werte auch Auswirkungen auf das Leben außerhalb der Szene, z.B. in Form von politischen Orientierungen, aufweisen“ (S. 14). Konkret verfolgt die Forschungsarbeit drei Ziele: Erstens die Darstellung, inwiefern „sich eine Szene-Zugehörigkeit auf die Entwicklung politischer Orientierungen sowie Haltungen auswirkt“, zweitens die „Analyse der Entwicklungen der deutschsprachigen Rap-Szene“ und drittens inwiefern die in der Szene erworbenen Fähigkeiten die „Entwicklung beruflicher Kompetenzen“ begünstigen (S. 77).
Autor
Robin Meyer promovierte mit dem vorliegenden Werk im Dezember 2022 an der Universität Bielefeld und arbeitete zuvor als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Paderborn.
Aufbau und Inhalt
Zur Beantwortung dieser Fragestellung nähert sich der Autor dem Forschungsgegenstand in drei verschiedenen Kapiteln an. In Kapitel 2 „Das Forschungsfeld: HipHop(-)Szene in Deutschland“ stellt R. Meyer das Szenekonzept nach Ronald Hitzler & Arne Niederbacher als theoretische Grundlage für die in seiner Arbeit vorherrschende Perspektive auf jugendliche Vergemeinschaftungen dar. Daraufhin folgt im gleichen Kapitel eine Darstellung der Jugendkultur HipHop in sieben Unterkapiteln.
In Kapitel 3 „Adoleszenz und politische Orientierungen in modernisierten Gesellschaften“ legt der Autor mit dem Adoleszenzkonzept nach Vera King das sozialisationstheoretische Fundament seines Projekts. Im Anschluss zeigt R. Meyer die sozialisatorische Relevanz von Familie, Peers, Szene und Musik auf. Ebenfalls in Kapitel 3 bezieht sich der Autorauf die Bourdieu'schen Habitus- und Kapitalkonzepte. Eine besondere Rolle spielt an dieser Stelle die Erweiterung jener Kapitaltheorien, durch die des „Popkulturellen Kapitals“ nach John Fiske, welches „das Wissen, die Kompetenzen und die Fähigkeiten, die durch popkulturelle Texte angeeignet werden“ umfasst (S. 69). Im Anschluss erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Konzept politischer Orientierungen.
In Kapitel 4 erläutert der Autor den methodischen Zugang des Projekts. R. Meyer führte sieben „biografisch-[narrative] Expert*inneninterviews“ durch, die er mit der Grounded Theory auswertete. Dabei stellten die Untersuchungsteilnehmer:innen „ehemalige Szene-Gänger*innen und heutige Szene-Eliten“ dar (S. 16). Sie sind als Journalist:innen, Musik-Manger oder Künstler:innen tätig und als „linke bzw. mit dem linken politischen Spektrum“ assoziierte Personen (S. 200) einzuordnen. Im darauffolgenden Kapitel werden die sieben Interviews als Fallbeispiele portraitiert, zu jedem der Interviews erfolgt eine ausführliche Falldarstellung.
Ausschlaggebend für die Ergebnisdarstellung ist die vom Autor generierte Typenbildung, die sich gemäß der Grounded Theory stets um sog. „Kernkategorien“ entfaltet. R. Meyer verdichtet die Ergebnisse der Studie in folgenden drei Kernkategorien:
Mit Blick auf die erste Kernkategorie „[d]ie Auswirkungen der Zugehörigkeit zur deutschsprachigen HipHop-Szene auf die Ausbildung und Festigung der politischen Orientierungen“ (S. 222) lautet das Ergebnis, dass „die Szene-Zugehörigkeit dazu [beiträgt], bereits […] bestehende politische Orientierungen zu festigen […] und, […] weniger an der generellen Ausbildung dieser beteiligt“ ist (S. 199). Die zweite Kernkategorie lautet „[d]ie deutschsprachige HipHop-Szene hat massive Veränderungsprozesse durchlaufen“ (S. 224). Diesbezüglich konkludiert der Autor, dass der Begriff der „Deutschrap-Szene“ dem der „HipHop-Szene“ vorzuziehen ist (S. 225), und dass das „Aufkommen von Gangstarap“ die relevanteste Neuerung innerhalb der Szene darstellt (S. 227). Die dritte Kernkategorie beschreibt der Autor als „[d]as in der deutschsprachigen HipHop-Szene erworbene popkulturelle Kapital stellt eine Ressource für die spätere Berufstätigkeit dar“ (S. 228). R. Meyer schlussfolgert, dass eine Auseinandersetzung mit der HipHop Szene „positive Auswirkungen auf die Berufsfindung bzw. den Weg in die ökonomische Eigenständigkeit haben kann“ (S. 228).
Diskussion
Die vorliegende Arbeit kann auf formaler Ebene durch eine nachvollziehbare Gliederung, einen logischen Aufbau und einen präzisen wissenschaftlichen Duktus überzeugen. Was mir problematisch erscheint, ist die Entscheidung des Autors den anachronistischen Begriff „farbig“ (S. 27; 29) zur Beschreibung der US-afroamerikanischen Bevölkerung zu verwenden.
Bei der Einschätzung der Dissertation verdienen über die formalen Aspekte hinaus, drei inhaltliche Aspekte an Aufmerksamkeit: In Kapitel 2.2 widmet sich der Autor der Darstellung der HipHop Szene. Aufgrund der zentralen Rolle, die die Szene in der vorliegenden Arbeit einnimmt, ist dies eine nachvollziehbare Entscheidung. Jedoch produziert dieser Streifzug durch die Geschichte des deutschsprachigen Rap kein Wissen, das sich an anderer Stelle nicht ebenfalls finden ließe. Hier wäre der Arbeit ein stärkerer Bezug zur Fragestellung zuträglich gewesen. Genau dies proklamiert der Autor auch, wenn er als Zielsetzung des Kapitels die Intention benennt, darzustellen „weshalb sich die HipHop-Szene als Forschungsfeld für die politische Sozialisation Jugendlicher eignet“ (S. 30). Nach meiner Einschätzung wird das Kapitel dieser Zielsetzung nicht gerecht, da hier mit dem historischen Abriss eine generische Darstellung der Geschichte des deutschsprachigen HipHop erfolgt. Denkbar wäre es an dieser Stelle gewesen der Frage nachzugehen, welche politischen Orientierungen die Geschichte des deutschsprachigen Rap prägten und welche auch von gegenwärtiger Relevanz sind. Die Rekonstruktion ebenjener Orientierungen hätte den Gegenstand des empirischen Teils darstellen können.
In Kapitel 3.4 widmet sich der Autor dem Konzept der „politischen Orientierungen“, was notwendig erscheint, da die Dissertation das Ziel verfolgt, „subjektive Orientierungen“ herauszuarbeiten (S. 11). Bei der Lektüre der vorliegenden Dissertation können Lesende jedoch nicht nachvollziehen, wie R. Meyer diesen zentralen Begriff definiert, geschweige denn methodologisch operationalisiert. Im Kern des Kapitels scheint die Auseinandersetzung mit dem „Rechts-Links-Schema“ zu stehen, eine Heuristik, die, wie der Autor selbst anmerkt, in modernen Gesellschaften als zu unterkomplex gilt (S. 73 f.). Es stellt sich die Frage, weshalb im Ergebnisbericht (z.B. S. 198 ff.) der überwiegende Teil ebenjenem „Rechts-Links-Schema“ verhaftet bleibt. Aus einem differenzierten Konzept politischer Orientierungen, wie es der Autor selbst andeutet, hätte auch eine differenzierte Ergebnisdarstellung folgen können.
Die letzte inhaltliche Anmerkung betrifft die Sampling-Strategie des Autors, denn wie bereits dargestellt forschte dieser ausschließlich mit Szene-Eliten also Journalist:innen, einem Musik-Manager und einem Künstler. Es geht also nicht schlicht um Menschen, die eine „HipHop-Sozialisation“ durchlebt haben, sondern um den kleinen Anteil dieser Personen, für die die Auseinandersetzung mit Hip-Hop in einem szenebezogenem Beschäftigungsverhältnis mündete. Was ist mit den unzähligen Menschen, die mit HipHop aufwuchsen, aber damit im Erwachsenenalter kein Geld verdienen? Die Ergebnisse hätten um ein Vielfaches an Relevanz gewonnen, wären diese Personengruppen mit in den Forschungsprozess einbezogen worden. Eingedenk der Tatsache, dass die Generierung maximaler Kontraste im Sample ein grundlegendes methodologisches Prinzip der Grounded Theory darstellt, wirkt diese Entscheidung nicht ganz nachvollziehbar. Kritisch wirkt sich dies teilweise auf die Aussagekraft der Ergebnisse aus, denn laut der Kernkategorie 3 stellt „[d]as in der deutschsprachigen HipHop-Szene erworbene popkulturelle Kapital […] eine Ressource für die spätere Berufstätigkeit dar“. Vor dem Hintergrund, dass der Autor die Erhebungen ausschließlich mit erfolgreichen „Szene-Eliten“ forschte, wirkt diese Erkenntnis trivial, und die Logik der Argumentation teils zirkulär.
Fazit
Die formulierte Kritik soll den Gesamteindruck der Arbeit nicht trüben: Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Relevanz von HipHop stellt eine diesbezügliche Auseinandersetzung ein bedeutsames Unterfangen dar. Mit der vorliegenden Monografie widmet sich R. Meyer jenem Sachverhalt auf wissenschaftliche fundierte Art und Weise. Dabei gelingt es ihm Bezüge zu zeitgenössischen sozialisationstheoretischen und jugendsoziologischen Diskursen herzustellen. Darüber hinaus dürfte die Publikation für zahlreiche Erziehungswissenschaftler:innen bzw. Personen aus der pädagogischen Praxis Relevanz aufweisen.
Rezension von
Dennis Just
(M.Ed.) arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpädagogik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er promoviert zu Jugendkulturen und außerschulischer Jugendbildung.
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Es gibt 4 Rezensionen von Dennis Just.
Zitiervorschlag
Dennis Just. Rezension vom 28.12.2023 zu:
Robin Meyer: HipHop, Szene und Adoleszenz. Auswirkungen von Szene-Zugehörigkeit auf ausgewählte Prozesse im Jugendalter. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7541-0.
Reihe: Jugendforschung. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30928.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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