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Felix Hasler: Neue Psychiatrie

Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 21.06.2024

Cover Felix Hasler: Neue Psychiatrie ISBN 978-3-8376-4571-2

Felix Hasler: Neue Psychiatrie. Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft. transcript (Bielefeld) 2023. 256 Seiten. ISBN 978-3-8376-4571-2. D: 25,00 EUR, A: 25,00 EUR, CH: 31,60 sFr.
Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft.

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Thema

Der Autor reflektiert die Entwicklung der bundesdeutschen Psychiatrielandschaft seit jenem „Hype“ einer biologistischen Psychiatrie, der in den 2000er-Jahren als „ideologisches Programm“ zum „alles dominierenden Paradigma“ wurde und einen „bis heute anhaltenden Psychopharmako-Boom“ auslöste (S. 8). Sein Thema ist der Aufbruch in eine „innovative Sozialpsychiatrie 2.0“ (S. 10).

Autor

Der Autor, Dr. pharm. Felix Hasler, ist Forschungsassistent an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität Berlin, Wissenschaftsjournalist und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. 2014 publizierte er „Neuromythologie: Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“, 2011 über „Doping im Alltag“, aber auch 2023 in der NZZ zu den „Fundis und Realos des Fleischverzichts“. 2016 spielte er im Deutschen SchausSpielHaus Hamburg eine Rolle im „Rimini Protokoll“, eine Perspektive des „Brain Projects über Wissens-/​Unwissens-Fragen des Körper-Geist-Dualismus‘, der Bewusstseins- und Hirnforschung.

Entstehungshintergrund

Die Anlässe der Arbeit wird pointiert als Klappentext zusammengefasst: „»Leidet die Psyche, ist das Gehirn erkrankt«. Dieses Dogma der Biologischen Psychiatrie hat das Fach über lange Zeit als zentrales Paradigma der Forschung beherrscht. Die neurowissenschaftliche Wende hat den psychiatrischen Blick auf Gene und Moleküle gelenkt – und dabei den Menschen aus den Augen verloren. Kluge Wissenschaftler*innen, jahrzehntelange Forschung und Multimilliarden-Investitionen konnten der Biologischen Psychiatrie zu keiner Relevanz für die klinische Praxis verhelfen.“

Klar sei damit, greift dieses Intro vor, dass sich „doch leise und allmählich“ Veränderungen abzeichneten: Mit der These, die Zukunft der Psychiatrie werde „multiprofessionell, flexibel, digital und praxisorientiert sein“, fungiert Haslers Ein- und Überblick als eine Art „vorgezogener Nachruf auf eine erfolglose, aber nebenwirkungsreiche Idee“, dies verbunden mit einem „Plädoyer für eine neue Psychiatrie des pragmatischen Handelns“.

Aufbau und Inhalt

Der programmatisch angelegte Band startet mit der Skizze einer wissenschaftlich ambitionierten Psychiatriereform der großen Hoffnungen: Denn die Psychiater der Zukunft seien, so das Credo zu Anfand der 2000er-Jahre, Neurowissenschaftler. Das Motto der De-Psychiatrisierung der Psychiatrie, der Geist und Gehirn miteinander verknüpfenden wissenschaftlichen Psychopathologie, der biopsychiatrischen Arroganz, psychische Störungen als neurologische Erkrankungen zu (v)erkennen, wird von Hasler im Eingangskapitel zusammenfassend referiert… und demontiert. Ganz wesentlich dabei: Der Hype von „Big Pharma“, der Abbruch forschungs- und kostenintensiver Engagements psychopharmakologischer Großkonzerne, die Vertrauenskrise von Medikamentenherstellern, Finanziers, Anwendern. Denn „der Traum von Spezifität, von smarten, zielgerichteten Medikamenten, die wirksam sind und nur minimale Nebenwirkungen haben, weil sie die fehlerhafte Neurobiologie an der Wurzel des Problems beheben, oder von personalisierten Medikamenten, die genau auf das Problem jedes einzelnen zugeschnitten sind – nun, das bleiben Träume oder Versprechen, an die [schließlich] immer weniger Experten glauben“ (S. 25).

Dass immer mehr Daten keineswegs unbedingt mehr Erkenntnis garantieren, dass bildgebende Verfahren – ‚Neuroimaging‘ also – weder störungsspezifische Aktivierungsmarker noch neuronale Biomarker generieren, wird zum (bis heute uneingestandenen) Flop: „Die biomedizinische Revolution in der Psychiatrie hat nicht stattgefunden“ (S. 45).

Mit einem Exkurs in die Schizophrenieforschung in Kapitel 3 zeichnet der Autor die argumentativen und ideologischen Denkmuster biologisch-psychiatrischer Dogmen nach: Wenn Schizophrenie doch keine progressiv fortschreitende Gehirnerkrankung ist, dann vielleicht doch eine Gehirnentwicklungsstörung? Solch psychiatrischer Neurozentrismus hat seine Folgen, nicht nur in Form eines Dauer-Booms der Antidepressiva, sondern speziell auch in ihrer fatal unklaren Auswirkung auf das Suizidrisiko der Patienten. Was dennoch als „Neuro-Großprojekte“ initiiert und beworben wird, sind das schwedische „Human Brain Project“, die US-amerikanische „BRAIN-Initiative“, eine „boomende Konnektom-Forschung“ (S. 88). Nicht nur, dass diese Projekte keinen therapeutischen Nutzen generieren – sie provozieren ob ihres behandlungsethischen Versagens auch ideologisch verhakte Gegenbewegungen, die Diagnosen ‚abschaffen‘ den Patienten als ‚Inanspruchnehmer von Diensten‘ umetikettieren wollen. Hasler zeichnet eine bedenkliche Entwicklung „vom biologischen Reduktionismus zum psychosozialen Reduktionismus“ nach (S. 97).

Was andererseits beruhigen mag: „Selbst in der Hochblüte der neurowissenschaftlich ausgerichteten Psychiatrie unserer Tage war die Sozialpsychiatrie natürlich nie weg. Sie hatte nur ein ausgeprägtes Popularitätstief“ (S. 131). Der Blick zurück auf die Psychiatrie-Enquête 1971, eine mitunter „überstürzte“, zeitweise überfordernde Psychiatrie-Reform führt den Autor über US-amerikanische ‚Wellen‘ eines „death of despair“ (Tod aus Verzweiflung) hin zu Bewegungen „aufsuchender psychiatrischer Arbeit“, einer „stationsäquivalenten Behandlung“, sprich, der Notwendigkeit alternativer Versorgungs- und Behandlungskonzepte. Denn: „Lebensqualität geht vor Symptomreduktion“ (S. 145). Klärend zitiert er den Schweizer Lüthi mit dem – vielleicht etwas plakativen, aber zutreffenden – Statement: „Psychiatrie ist die Disziplin der Geduld“ (S. 150). Nicht nur um die „Affektlogik“ (Ciompi) der schizophren Erkrankten geht es also, sondern gleichermaßen um die affektive Logik der Behandler…

Damit geht es in Kapitel 8 um die Betroffenen, die Patienten selbst, die eben nicht nur „Fußnoten“ eines sonst komplexen, asymmetrischen, institutionellen Medizinapparats sein wollen und dürfen, sondern „Verhandeln statt Behandeln“, sprich, „partizipatorische Entscheidungsfindung“ im Trialog (S. 158) einfordern.

In Haslers Rückschau auf eine ‚neue Psychiatrie‘ wird das Thema der ‚eigentlichen‘ Subjekte des Diskurses dennoch nur episodisch paragraphiert, dies auch, weil Attraktoren wie pharmako-spirituelle Erfahrungen eine „Psychodelik-Renaissance“ einleiteten [1], „Neo-Psychodelik“ (S. 164) mit der Hoffnung auf „heilsame Trips“ einerseits, satte Gewinner der Pharmaindustrie andererseits erwarten ließen. Zwar landeten die „psychodelic-medicine-Investoren“ zwischenzeitlich „auf dem Boden der Tatsachen“ (S. 174/175), doch persistieren die Zukunftsvisionen jener Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies (MAPS), deren Pläne und Investitionen „tatsächlich große Veränderungen in der Psychiatrielandschaft“ erwarten lassen (S. 184).

Wenn – entgegen den Interessen der Konzerne – dennoch das Motto ‚je weniger, desto besser‘ laute, gehe es, so Hasler in Kapitel 11, um den „Aufbruch in eine pragmatische Psychiatrie“ mit Handlungsplänen „für eine Zukunft von »Null Suiziden«“ (S. 208), um Lebensqualität und die Notwendigkeiten einer Palliativpsychiatrie, um Effekte von „immer besser organisierten Selbsthilfe-Gruppen, innovativen Projekten der gemeindenahen Versorgung, individuell ausgestaltbaren Mini-Medication-Services oder niederschwelligen digitalen Therapieangeboten“ (S. 210). Auch wenn – vor allem aber, weil – „das ideologische Immunsystem der Wissenschaft sich wehrt“ (S. 211), gehe es um Wege in eine Behandlungskultur und um „akzeptierte Möglichkeiten, seltsam zu sein, ohne dass man ein großes Gewese daraus macht“ (S. 215).

Diskussion

Das Buch ist nicht nur gut recherchiert und – für psychiatrisch-psychologische KollegInnen wie für Nicht-Insider – hoch informativ: Es bietet eine enorme Fülle an Einzelbefunden und -quellen, bereitet diese konzise auf, bringt sie in unterschiedliche (institutionelle, wissenschafts- und behandlungsideologische, ökonomische, institutionelle, zeitgeistige) Zusammenhänge, historisiert und kontextualisiert sie also und diskutiert sie kontrovers.

Was für den Rezensenten – auch unter dem Stichwort „Comeback der Sozialpsychiatrie“ – zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass die erste Phase einer von Hasler fokussierten Überwindung des Biologismus‘ bereits in den 1980er- und 1990er-Jahren stattfand, dass die hier nur gestreiften/verkürzten gesellschafts- wie fachpolitischen Umbrüche psychiatrischer Behandlungside(ologi)en grundsätzlicher, komplexer, innovativer, vielseitiger, weitreichender waren, als hier dargestellt. Prägnant nachprüfbar wird dies im Quellenverzeichnis, in dem damalige sozialpsychiatrische Leitfiguren wie Asmus Finzen nur einmal mit dem ‚Pinelschen Pendel‘, Klaus Dörner gar nicht enthalten sind, als Referenz zwar die Standesvertretung der DGPPN [2], nicht jedoch die sozialpsychiatrische Interessenvertretung der DGSP [3] gelistet wird.

Und was den Rezensenten ‚umtreibt‘, ist ein generelles – und damit auch hier fortgeschriebenes – Manko: Die oben als ‚eigentliche‘ Subjekte des Diskurses etikettierten Patientinnen und Patienten, die von psychischen Störungen, Pathologisierung, Medikation, Verordnungen, Ausgrenzung ‚betroffenen‘ Menschen kommen in der Fachliteratur weder als konkrete noch als psychosoziale Subjekte vor. Insofern ein Zitat Kaminskis zur Erinnerung: „Jede Psychologie müsste sich mindestens auch dieses fragen: ob ihr homo psychologicus lebensfähig wäre, ob er Gesellschaft entwickeln könnte, ob er Psychologie hervorzubringen und anzuwenden imstande wäre.“ [4]

Fazit

Ein kompaktes und zugleich differenziertes, ein gut recherchiertes und engagiertes Buch, überfällig in seiner kritischen Abrechnung mit den kranken wie kränkenden Widersprüchen eines psychiatrischen Gesundheitssystems und dessen Promotern.


[1] Was Hasler als „Bewusstseinserweiterung gegen den Weltuntergang“ betitelt (S. 184), findet sich in der Tat z.B. bei Metzinger 2023 als „Bewusstseinskultur“ einer „pharmakologischen Psychonautik“ wieder (siehe: https://www.socialnet.de/rezensionen/​30867.php).

[2] DGPPN: Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde

[3] DGSP: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie

[4] Kaminski, G. 1970. Verhaltenstheorie und Verhaltensmodifikation (S. 5). Klett, Stuttgart.

Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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Es gibt 26 Rezensionen von Ulrich Kobbé.

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ISSN 2190-9245