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Susanne Schultz: Die Politik des Kinderkriegens

Rezensiert von PD Dr. Stefanie Graefe, 23.11.2023

Cover Susanne Schultz: Die Politik des Kinderkriegens ISBN 978-3-8376-6161-3

Susanne Schultz: Die Politik des Kinderkriegens. Zur Kritik demografischer Regierungsstrategien. transcript (Bielefeld) 2022. 234 Seiten. ISBN 978-3-8376-6161-3. D: 39,00 EUR, A: 39,00 EUR, CH: 47,60 sFr.
Reihe: Edition Politik - Band 134.

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Autorin

Das Buch stellt einige in unterschiedlichen Forschungskontexten entstandenen Beiträge zusammen, die die Soziologin Susanne Schultz in den letzten Jahren verfasst hat. Seit vielen Jahren ausgewiesen im Bereich der kritischen Bio- und Bevölkerungspolitikforschung, hat Schultz an unterschiedlichen Forschungseinrichtungen zu den Themen Bevölkerungspolitik, Reproduktion und Humangenetik geforscht; zuletzt an der Goethe-Universität Frankfurt, an der sie zugleich Privatdozentin ist. Überdies ist die Verfasserin seit vielen Jahren in kritisch-feministischen Netzwerken, etwa dem Herausgeberinnenkollektiv kitchen politics aktiv.

Thema

Schultz gibt mit diesem Band einen Einblick in die von ihr in den vergangenen Jahren entwickelte Analytik nationaler und internationaler Politiken der „Demografisierung“. Gemeint damit sind Techniken, Institutionen und Ordnungen, die sich um das abstrakte Konstrukt der ‚Bevölkerung’ im engeren und weiteren Sinne zentrieren. In diesem Konstrukt werden, so eine zentrale Ausgangsannahme des Bandes, Größe und Zusammensetzung von Menschengruppen als ein zentrales Problem moderner Gesellschaften und davon ausgehend zum Gegenstand gezielter staatlicher und privatwirtschaftlicher Interventionen erklärt. Diese greifen wiederum, so die weitergehende Annahme, in das Leben insbesondere weiblich gelesener Subjekte potenziell massiv ein.

Aufbau

Das Buch umfasst fünf Aufsätze und einen ausführlichen Grundlagenbeitrag, in dem die theoretische Rahmenperspektive erläutert wird, sowie Prolog und Epilog. Bei einigen dieser Texte handelt es sich um eine Überarbeitung bereits erschienener Arbeiten, bei anderen um bislang unveröffentlichte Beiträge. Die meisten Texte sind von der Verfasserin alleine verfasst, zwei sind in Koproduktion mit anderen Autor*innen entstanden.

Inhalt

Der Band verfolgt eine klare theoriepolitische Ausrichtung. Die Autorin verortet sich im Feld der feministischen, antirassistisch/​postkolonialen und kapitalismuskritischen Gesellschaftstheorie. Dieser Zugang wird in dem einleitenden Rahmentext ausführlich erläutert, in dem auch zentrale analytische Begriffe geklärt werden. So wird etwa der im Titel des Bandes aufgerufene und nur scheinbar salopp daherkommende Begriff des „Kinderkriegens“ pointiert als weniger essenzialistisch belastete Alternative zum biologistischen Begriff der ‚Fortpflanzung‘ eingeführt. Schultz geht es davon ausgehend um eine kritische Revision von Politiken des Kinderkriegens. Diese fasst sie auf Basis einer Weiterentwicklung von Foucaults fragmentarisch gebliebenem Konzept auch als Formen von „Biopolitik“. Diese seien wiederum, so Schultz in Anlehnung an den postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe, systematisch mit Formen von „Nekropolitik“ verknüpft, also mit programmatischen und praktischen Interventionen, die auf Abwertung, Verhinderung und Ausschluss bestimmter Menschengruppen zielen. Eine solchermaßen weit gefasste Kritik von Bevölkerungspolitik nimmt zwangsläufig nicht allein explizit bevölkerungspolitische Diskurse und Rationalitäten, sondern auch Familien-, Gesundheits- und Migrationspolitiken in den Blick und bezieht zudem aktuelle Entwicklungen im Feld der technologisch assistierten Reproduktion mit ein. Letztere versteht Schultz – analog zur Bio- und Nekropolitik – als „dis-/ruptive Technologien“ im Sinne einer begrifflichen Klammer für geburtenverhindernde, geburtenfördernde und selektive Technologien (S. 23). Weiterhin geht es ihr nicht nur darum, konkrete politische Programme und Strategien zu untersuchen, sondern sie bezieht auch Wissensproduktionen und Normativitäten ein – die „programmatischen Subjektivitäten“ (S. 44), wie sie es in Anlehnung an die wiederum auf Foucault zurückgehende Gouvernementalitätsperspektive formuliert. Alles in allem geht Susanne Schultz der Frage nach, in welche gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen aktuelle Politiken des Kinderkriegens eingebunden sind und wie sich Rassismus, Nationalismus, Klassenverhältnisse und Geschlechterhierarchien darin verschränken.

Aus dieser Generalperspektive untersuchen die einzelnen Beiträge des Bandes verschiedene Facetten von Demografisierung. Unter der Überschrift „Nation und Kinderwunsch“ zeigt der erste Beitrag, wie Bevölkerungspolitiken in modernen kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten in widersprüchlicher Weise zugleich auf die Förderung erwünschter wie auf die Verhinderung unerwünschter Geburten abzielen. Dabei wird deutlich, dass und wie jüngere familienpolitische Anstrengungen in Deutschland versuchen, explizit das Kinderkriegen der gebildeten Mittelklassen zu befördern, ohne dabei die Arbeitsfähigkeit von (vor allem qualifizierten) Müttern zu bedrohen. Auf diese Weise verbinden sich, so Schultz, quantitative mit qualitativen Politiken der Demografisierung. Davon verspricht sich Politik zugleich, die ‚Alterung‘ der Gesellschaft zu bekämpfen. Solche Arten pronatalistischer Strategien hängen, wie der Beitrag zeigt, eng mit Politiken der Geburtensteigerung durch technologisch assistierte Reproduktion zusammen: Der pronatalistisch orientierte neoliberale Staat betrachtet es als seine Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, technologische Lösungen für unerfüllte Kinderwünsche zu bieten und knüpft dafür diskursiv an das feministische Konzept der reproduktiven Rechte an. Allerdings, so Schultz, handelt es sich hierbei gerade nicht um eine unproblematische Zusprechung von mehr Rechten an Menschen mit Gebärfähigkeit, sondern um eine modernisierte Form von Bevölkerungspolitik, in der nicht zuletzt das Ideal des genetisch eigenen Kindes und eugenische Vorstellungen eines ‚optimierten‘ Nachwuchses eine wichtige Rolle spielen.

In eine ähnliche Richtung zielt auch der Beitrag, den Schultz unter der Überschrift „Humanvermögen und Zeitpolitik“ zusammen mit Anthea Kyere verfasst hat. Er zeigt, wie konkrete familienpolitische Programme, die auf den ersten Blick wenig mit Demografie zu tun haben, hier: Politiken der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, am Ende wiederum auf demografische Ziele zurückverweisen und dabei erkennbar klassenselektiv angelegt sind. Auch hier würden, so die Autorinnen, feministische Forderungen nach einer angemessenen arbeits- und zeitpolitischen Berücksichtigung von Care-Notwendigkeiten auf spezifische Weise kooptiert.

Der Beitrag „Migrationspolitik als Bevölkerungssteuerung?“ zeigt, wie im Nachgang zum sogenannten ‚Sommer der Migration‘ 2015 Wissensproduktionen und Diskurse an Bedeutung gewinnen, die das Kinderkriegen von Geflüchteten und Migrant*innen als isolierte, quantifizier- und steuerbare statistische Größe auffassen und dabei in widersprüchlicher Weise die vermeintlich zu hohe und zugleich zu niedrige Reproduktivität eingewanderter Menschen problematisieren. Die solchen Argumentationen unterliegende Denkfigur einer utilitaristisch orientierten Steuerbarkeit von Zuwanderung werden in dem Beitrag plausibel kritisch dekonstruiert.

In dem Beitrag „Weniger Klimakrise durch weniger Menschen?“ greift Susanne Schulz ein populäres Argument auf, demzufolge der Klimawandel vor allem als Resultat einer zu stark wachsenden Weltbevölkerung zu verstehen sei und dekonstruiert diese Denkfigur mit ihrem eingangs entwickelten theoretischen Kritikinstrumentarium im Hinblick auf seine dekontextualisierenden und Machtverhältnisse entproblematisierenden Implikationen. Sogar in sich selbst als kapitalismuskritisch und emanzipatorisch verstehenden Klimapolitiken entfalte, so die Verfasserin, das reduktionistische malthusianische Grundprinzip der Quantifizierbarkeit von ’Bevölkerung’ seine Wirkmächtigkeit.

Der Beitrag, den die Verfasserin unter der Überschrift „Antinatalismus und Big Pharma“ zusammen mit Daniel Bendix verfasst hat, untersucht die im Rahmen zeitgenössischer Entwicklungspolitiken zu beobachtende Verbreitung geburtenverhindernder Programme und Technologien im globalen Süden. Diese würden zugleich massiv von multinationalen Pharmakonzernen unterstützt, die – etwa in Gestalt der in Deutschland beheimateten Bayer AG – hormonelle Verhütungsmittel im Rahmen globaler Public Private Partnerships im großen Stil vermarkten. Der Beitrag zeichnet zudem eine Neuausrichtung von Entwicklungspolitik seit den 2010er Jahren in Richtung einer wieder offeneren antinatalistischen Bevölkerungspolitik nach, welche sich explizit auf Konzepte der reproduktiven Gesundheit beruft. Tatsächlich gehe es hierbei, so die Autor*innen, jedoch „weniger um die Anerkennung von Rechten, sondern eher um eine politische Durchsetzung von Verhaltensänderungen“ – etwa wenn deutsche Ministerien und Thinktanks empfehlen, den aus ihrer Sicht problematischen Kinderwünschen in afrikanischen Ländern mit antinatalistischen Governance-Strategien zu begegnen (S. 202 f.).

Diskussion

Insgesamt zeigen die verschiedenen Beiträge sehr klar, dass und inwiefern biopolitische Strategien der Steuerung und Förderung von Bevölkerungswachstum mit solchen der Verhinderung zusammenlaufen. Auch die Problematik der Klassen- bzw. neokolonialen Hierarchisierung des Kinderkriegens sowie die strukturell eugenische Ausrichtung reproduktionsmedizinischer Angebote, die im Namen von Wahlfreiheit und reproduktiver Selbstbestimmung operieren, werden deutlich. Wer einen kompakten Einblick in eine anspruchsvolle gesellschaftskritische Perspektive aktueller Bevölkerungspolitiken entlang von prägnanten Fallstudien bekommen möchte, dem*der sei der Band unbedingt ans Herz gelegt. Dass es an mehreren Stellen, wie in der Einleitung des Beitrags angekündigt, zu Wiederholungen kommt, lässt sich in einem solchen Format nicht vermeiden und daher leicht verschmerzen. Etwas schade ist, dass zentrale und sehr häufig fallende analytische Begriffe, namentlich die „malthusianische Matrix“, die in einigen Beiträgen auch als „Neomalthusianismus“ gekennzeichnet wird, ebenso wie das immer wieder aufgerufene „population establishment“, von einigen kurzen Anmerkungen abgesehen, nicht systematisch eingeführt und erläutert werden. Manche erneute Erläuterung der theoriepolitischen Generalperspektive hätte hier womöglich gewinnbringend zugunsten einer dichteren Bestimmung dieser wichtigen analytischen Konzepte gekürzt werden können. Dass die dem Band offenbar auch zugrundeliegende empirische Studie praktisch nur in Fußnoten erwähnt wird, ist ebenfalls etwas bedauerlich. Hier wären mit Sicherheit noch spannende Einsichten mitzuteilen gewesen.

Inhaltlich ließe sich im Hinblick auf das Thema Klimawandel, aber auch in Bezug auf Arbeitspolitik und die Thematik der sozialen Ungleichheit weitergehend diskutieren, ob das Problem hegemonialer Bevölkerungspolitik bereits im Modus der Quantifizierung selbst liegt oder in spezifischen Formen demografischer Wissensproduktion. Der Band legt beides nahe. Jedoch stellt sich die Frage, ob kritische Perspektiven tatsächlich auf jede Form demografischen Wissens im weitesten Sinne – etwa Daten zur Einkommensentwicklung, Ressourcenverbrauch und -verteilung, Wohnverhältnissen, Vermögensungleichheit, Arbeitsvolumen, Arbeitszeiten, aber auch Sterblichkeit und Lebenserwartung – tatsächlich verzichten können und sollten. Ebenso hätte man gerne noch etwas mehr darüber erfahren, wie die implizit durchgehend als Gegenhorizont angerufene, jedoch nicht weiter ausgeführte Stärkung reproduktiver Gerechtigkeit bzw. der „Situierung“ von Politiken des Kinderkriegens jenseits der fraglos notwendigen Kritik hegemonialer Programme aussehen könnte. Dass der Band hier nicht spezifischer wird, hängt möglicherweise auch mit der theoretischen Rahmenperspektive zusammen. Diese wird in Anlehnung an die Governmentality Studies als kritische Untersuchung hegemonialer Programmatiken konzipiert. Fragen nach alternativen Handlungshorizonten, dem Eigensinn der Subjekte oder nach Rissen und Widersprüchen in hegemonialen Programmatiken spielen dementsprechend keine zentrale Rolle in der Analyse. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der inzwischen vielfach geäußerten Kritiken an der Top-Down-Perspektive auch der Governementality Studies wäre eine abschließende Diskussion der Grenzen der hier angelegten methodologischen Gesamtperspektive spannend gewesen.

Fazit

Alles in allem stellt der Band eine innovative und wichtige Intervention in die vermeintliche Selbstverständlichkeit gegenwärtig hegemonialer bevölkerungspolitischer Vorstellungen und Praktiken im engeren und weiteren Sinne dar, die zur Vertiefung und weiteren Diskussion der hier analysierten Thematik anregt.

Rezension von
PD Dr. Stefanie Graefe
Privatdozentin und Soziologin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Es gibt 2 Rezensionen von Stefanie Graefe.

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Zitiervorschlag
Stefanie Graefe. Rezension vom 23.11.2023 zu: Susanne Schultz: Die Politik des Kinderkriegens. Zur Kritik demografischer Regierungsstrategien. transcript (Bielefeld) 2022. ISBN 978-3-8376-6161-3. Reihe: Edition Politik - Band 134. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30939.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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