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Simon Derpmann (Hrsg.): Franz Petry

Rezensiert von Johannes Schillo, 13.09.2023

Cover Simon Derpmann (Hrsg.): Franz Petry ISBN 978-3-95743-280-3

Simon Derpmann (Hrsg.): Franz Petry. Der soziale Gehalt der Marxschen Werttheorie. Brill Verlag (Leiden) 2023. 114 Seiten. ISBN 978-3-95743-280-3. D: 79,00 EUR, A: 81,30 EUR.
Reihe: Philosophical Marx Studies - 1.

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Thema

Es geht in dem Buch um das Marx’sche Wertgesetz, wie es seinerzeit im ersten Band des „Kapital“ (1867) entwickelt und in den folgenden Jahrzehnten von Parteigängern der Sozialdemokratie, aber auch im universitären Betrieb diskutiert wurde. Dieses Thema der 1914 abgeschlossenen Dissertationsschrift von Franz Petry, die 1916 posthum (herausgegeben vom Ökonomieprofessor Karl Diehl) erschien, wird hier in den Kontext der Marx-Rezeption gestellt.

Autoren und Herausgeber

Dr. Simon Derpmann ist Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Münster, wo Professor Michael Quante 2023 die Reihe „Philosophical Marx Studies“ gestartet hat. Derpmann legt als ersten Band der Reihe eine Neuedition vor, die den früh verstorbenen Ökonomen Petry aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder in Erinnerung bringt.

Entstehungshintergrund

Nachdem in den 1970er Jahren in Berlin und Moskau die Herausgabe einer historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) begonnen worden war, wurde das Vorhaben nach 1989 auf eine neue Grundlage gestellt. Das Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) ergriff zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung die Initiative zur Gründung der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES), die im Oktober 1990 in Amsterdam errichtet wurde. Mit ihr gingen die deutschen Akademien der Wissenschaften eine Kooperation ein, so dass das Editionsprojekt seitdem von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fortgeführt wird (https://mega.bbaw.de/de/projektbeschreibung). Die Reihe „Philosophical Marx Studies“ versteht sich als wissenschaftliche Begleitung dieses Editionsvorhabens.

Aufbau

Der Philosoph Quante, der zusammen mit David Schweikard 2015 das neue „Marx Handbuch“ herausgegeben hat, präzisiert einleitend die Zielsetzung der Reihe: Es gehe darum, „das Marxsche Denken aus dem Bauschutt des Marxismus zu befreien und ihn als einen zentralen Autor der klassischen deutschen Philosophie (wieder-) zu entdecken“ (S. VII). Es folgt eine ausführliche Einleitung von Derpmann sowie, nach einem Vorwort des damaligen Herausgebers Diehl, der Originaltext von Petry. In einem Anhang werden zeitgenössische Rezensionen von Rudolf Hilferding, Rudolf Stammler und Isaak I. Rubin wiedergegeben.

Inhalt

Die Dissertationsschrift geht auf rund 70 Seiten in zwei Kapiteln der genannten Themenstellung nach. Eine kurze Einleitung stellt die Grundthese vor, die dann in der folgenden Analyse expliziert und in einer Schlussbemerkung, die einen Blick auf die „Geldlehre von Marx“ (S. 67ff) wirft, als relevant für die weitere Befassung mit der Kritik der politischen Ökonomie herausgestellt wird. Petrys Ausgangspunkt ist ein methodischer Dualismus der Marxschen Theorie, wie er in den damaligen Debatten unter Nationalökonomen festgestellt wurde und auch im Diskurs mit Theoretikern der Sozialdemokratie eine Rolle spielte: „Der große Widerspruch, der das Marxsche System beherrscht und eine einheitliche Auffassung letzthin unmöglich macht, ist jene unnatürliche Verbindung idealistischer, auf der Nachwirkung der Hegelschen Geistesphilosophie beruhender Denkmotive mit den materialistischen und naturwissenschaftlichen Denkabsichten, wie sie sich ihm weniger durch den reinen Erkenntniswillen als vielmehr durch politische und agitatorische Gründe aufdrängten“ (S. 9f).

Petry spezifiziert diese Dualität im Blick auf die „objektive Werttheorie“, die vom Mainstream der Nationalökonomie im 19. Jahrhundert aufgegeben wurde. Die Lehre vom „Arbeitswert“, die Marx von seinen Vorläufern Smith und Ricardo übernommen und durch seine Kritik in eine neue Fassung gebracht hatte, sei, so Petry, durch ein eigenes Spannungsverhältnis gekennzeichnet: Sie versuche auf naturwissenschaftlich-technische Weise den Umgang der Marktakteure mit Wertgrößen zu erfassen, während sie gleichzeitig – als wichtige wissenschaftliche Neuerung – einen gesellschaftstheoretischen Zugang zum Wirtschaftsgeschehen eröffne. Dessen Leistung bestehe vor allem darin, die für den Kapitalismus typische „Versachlichung gesellschaftlicher Verhältnisse, welche den wirtschaftlichen Lebensprozess der Menschen zu einem natürlichen Sachzusammenhang verdinglicht“ (S. 13), analytisch aufzulösen und somit als genuines sozialwissenschaftliches Thema herauszuarbeiten.

Das erste Kapitel konzentriert sich vor allem auf das Wertgesetz, wie es Marx im ersten Band des „Kapital“ entwickelt hat. Die angesprochene Dualität wird in dem Kapitel als das „qualitative Wertproblem“ diskutiert, und zwar ausgehend vom Doppelcharakter der Ware, den Marx als Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert bestimmte und daraus den Doppelcharakter der Arbeit ableitete. Die Korrektur, die Marx an der klassischen Wertlehre anbrachte, die Unterscheidung von konkreter und abstrakter Arbeit, stellt, so Petry, einen politökonomischen Erkenntnisfortschritt dar. Sie soll aber nicht darin aufgehen, dass sie zur Klärung des Sachverhalts beiträgt. In ihr zeige sich vielmehr ein Wechsel der Betrachtungsweise, was Marx selbst nicht bewusst gewesen sei – so erweise er sich letztlich „als ein echter Nachkomme der idealistischen Philosophie, aus deren Banden er sich niemals ganz befreit hat“ (S. 23). Petry will den Begriff der abstrakt-allgemeinen Arbeit, der für die Erklärung des Werts zentral ist, deswegen jedoch nicht aufgeben, sondern als kultur- bzw. sozialwissenschaftliche Kategorie fruchtbar machen. Damit sei gerade der Fetischismus der ökonomischen Verhältnisse zu erfassen. Letztlich hält Petry fest – was er auch noch am Verhältnis von Marx zu Ricardo expliziert –, dass Marx zu einem „soziologische(n) Arbeitsbegriff“ (S. 35) gelangt sei, obwohl er sich seine philosophische Voreingenommenheit selbst nicht bewusst gemacht habe.

Das zweite Kapitel verhandelt das „quantitative Wertproblem“, wobei aber nicht so sehr an die Frage der Wertgrößen und ihrer Austauschrelationen gedacht ist, wie sie im ersten Band des „Kapital“ Thema ist, sondern an die Wertrealisierung, wie sie im dritten Band vorkommt. Dort ist ja die „Oberfläche“ des Kapitalismus der Untersuchungsgegenstand, somit die Konkurrenz der Kapitalisten, die aus ihrem Profitinteresse heraus die Preisbildung vornehmen – ohne dass sich ihr Handeln an einem Wertgesetz orientieren würde. Vielmehr sollen hier, so die nationalökonomischen Einwände gegen die marxistische Theorietradition, Angebot und Nachfrage regieren. Mit der daraus folgenden Verabschiedung der Marx’schen Theorie und ihres Wertgesetzes, wie sie etwa Böhm-Bawerk Ende des 19. Jahrhunderts forderte, setzt sich Petry auseinander. Er referiert die Leistung des dritten „Kapital“-Bandes, den Übergang vom Wert zum Produktionspreis theoretisch zu fassen, wendet sich dabei aber gegen eine philosophisch-spekulativ aufgeladene Werttheorie. An der „materialistischen“ Erkenntnis sei festzuhalten, dass die Kapitalisten die handelnden Akteure sind, somit der Wert kein Subjekt ist, das, wie bei Hegels Selbstbewegung des Begriffs, aus sich heraus agiert. Hier treffe man jedoch wieder auf das marxistische bzw. Marx’sche (Selbst-)Missverständnis, wo letztlich versucht würde, „im Gebiete der Werttheorie eine alles induktive Wissen übersteigende Metaphysik zu vertreten“ (S. 51). Petry thematisiert das näherhin, indem er das „Verhältnis von Band I zu Band III des Kapitals“ (S. 53) untersucht oder auf das Verhältnis „Marxsche Wertlehre und Grenznutzentheorie“ (S. 59) eingeht. Die Kritik der Grenznutzentheoretiker am Wertgesetz weist er zurück. Wichtig ist ihm dabei vor allem der ausführliche Nachweis, dass Marx gerade nicht die Rolle der Konkurrenz negiert, dass sie vielmehr schon im ersten Band des „Kapital“, etwa bei der Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, im Blick ist.

Die Schlussbemerkung skizziert nur kurz die Geldtheorie und will damit kein neues Thema aufmachen. Petry betont noch einmal die „methodologische Absicht“ (S. 67) seiner Studie und die Möglichkeiten, die sich aus dem gesellschaftstheoretischen Ernstnehmen der Werttheorie ergeben. Somit bestätigt sich für ihn das, was er eingangs angekündigt hat: dass man den „kulturwissenschaftlichen Gehalt als das Eigenartige von Marxens Werttheorie herauszustellen“ habe (S. 11).

Diskussion

Petry referiert großenteils die Marx’sche Warenanalyse, liefert insofern eine Paraphrase des „Kapital“. Er bestätigt dessen Vorwurf an die Adresse der „Vulgärökonomie“, sie leiste keine systematische Erklärung ihres Gegenstands, und stimmt ebenfalls der Kritik an der klassischen Ökonomie zu, die zwar einen Zusammenhang in der Arbeitswertlehre gefunden habe, aber die Erscheinungsformen Kapital, Lohn, Zins, Rente, also die Verteilungsformen des Reichtums, als natürliche, überhistorische Formen festhalte. Für den Nachweis, dass auch bei letzterer der soziale Charakter der Produktionsverhältnisse übersehen wurde, geht Petry mit dem Wertgesetz sehr frei um. Er konfrontiert die Theorie vom Wert – nach der wissenschaftlichen Analyse: vergegenständlichte, „abstrakte“ Arbeit im Produkt – mit dem Subjektbegriff der idealistischen Philosophie. Den behauptet er als den eigentlichen Inhalt des Werts, sodass das dünne Resultat bleibt: Arbeit ist gleich Arbeiterpersönlichkeit. Und mit dieser Zurückführung auf Arbeit an verschiedenen Stellen des „Kapital“ (Ausführungen zu Preis, Geld usw.), also einer ständigen Wiederholung seines Grundgedankens, meint er, die Marx’sche Kritik am Fetischismus der Produktionsverhältnisse auf den Begriff gebracht, ja besser gefasst zu haben. Man muss hier aber eher das Original empfehlen, denn die Identifikation von Arbeit mit der Arbeiterpersönlichkeit – real oder ideell – kommt in der Wertanalyse nicht vor; diese beginnt vielmehr mit der Kritik der Verdinglichung, um die widersprüchliche Form der kapitalistischen Ökonomie überhaupt ins Visier zu nehmen.

Petrys mehr als hundert Jahre alter Text hat somit in der Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie eine Zwitterstellung: Einerseits teilt er den Marx’schen Anspruch, die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft zu analysieren und das Kommando des Werts über die Arbeit, exekutiert durch die konkurrierenden Wirtschaftssubjekte, als eine Verdinglichung der gesellschaftlichen Beziehungen zu kritisieren. Andererseits hat er vor allem ein methodologisches Interesse, das die Gegensätze, von denen das „Kapital“ handelt, als Herausforderung an einen Wissenschaftsbetrieb nimmt, in dem von verschiedenen Blickwinkeln aus Theorietraditionen für eigene akademische Zwecke nutzbar gemacht werden sollen. So wird die Marx’sche Theorie, wie bei der kleinen Marx-Renaissance des Jahres 2018 aus Anlass des 200. Geburtstags ihres Urhebers, zu einer Art Steinbruch oder Fundgrube, bei denen sich unterschiedliche Disziplinen bedienen können. Dabei spielt allerdings der Umstand mit, dass die Arbeiterparteien Ende des 19. Jahrhunderts begannen, aus der wissenschaftlichen Theorie eine „proletarische Weltanschauung“ zu machen, die mit einem universellen Erklärungsanspruch (auch im Feld der Philosophie) auftrat.

Dass nach Petrys Analyse gerade der Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert die Dichotomie von naturwissenschaftlich-technischer und kultur- bzw. sozialwissenschaftlicher Betrachtungsweise begründen soll, ist dabei etwas überraschend – ist doch die Entdeckung der Gebrauchswerteigenschaften an den Naturstoffen eine historisch-gesellschaftliche Tat, die gerade auch kulturgeschichtlich aufgearbeitet werden kann (dass z.B. die Nutzpflanze Hanf nicht nur zur Herstellung von Seilen verwendbar ist, sondern auch zur Verdampfung, teilte Herodot seinen griechischen Lesern vor 2.500 Jahren als Novität mit). Die Analyse des Werts dagegen ist zwar bei Marx häufig mit Anklängen an Hegel’sche Formulierungen durchsetzt, der Sachverhalt selber ist aber, wie auch Petrys Ausführungen erkennen lassen, genuin ökonomisch – und kein Resultat einer philosophischen Spekulation.

Dass Marx eindeutig in die philosophische Tradition gehört und dass er mit der vorliegenden Wiederveröffentlichung vom „Bauschutt des Marxismus“ befreit wird, wie der Herausgeber der Reihe deren Zielsetzung benennt, bleibt daher fraglich. Im Gegenteil, man könnte gerade darauf verweisen, dass hier ein Traditionsbezug der aktuellen marxistischen Debatte deutlich wird, dass man mit solchen Überlegungen also nicht in philosophisches Gelände, sondern in die Klärung der ökonomischen Streitfragen gelangt. Auf der einen Seite greifen heute ja Marxisten wie Michael Heinrich – siehe seine „Wissenschaft vom Wert“ (Münster 2011) – im Sinne von Petrys Analyse Fragen nach dem Wissenschaftsverständnis der Kritik der politischen Ökonomie auf, wobei Heinrich auch an Petrys Studie erinnert hat. Auf der anderen Seite gibt es die marxistische Zeitschrift Gegenstandpunkt, die seit fünf Jahren das groß angelegte Editionsprojekt „Die Konkurrenz der Kapitalisten“ verfolgt (https://de.gegenstandpunkt.com/dossier/konkurrenz-kapitalisten). Es analysiert – in Fortschreibung von Marxens ursprünglichem Programm – den Alltag der marktwirtschaftlichen Konkurrenz, und zwar genau auf Basis der Erkenntnisse, die Marx in den drei Bänden des „Kapital“ zum Wirken des Wertgesetzes geliefert hat.

Fazit

Die knappe, aber gehaltvolle Schrift des Ökonomen Franz Petry gibt einen – auf weite Strecken – brauchbaren Überblick über die Marx’sche Werttheorie und zeigt zugleich, wie zur Zeit der alten Arbeiterbewegung der Wissenschaftsbetrieb, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts konstituierte, noch die Auseinandersetzung mit marxistischer Theorie suchte, während Marx heute – zumindest in Deutschland – weitgehend aus der akademischen Welt exkommuniziert ist. Seit der jüngsten Marx-Renaissance versucht der Herausgeber Quante hier gegenzusteuern, wozu er mit dem ersten Band seiner neuen Reihe einen gelungenen Beitrag vorgelegt hat.

Rezension von
Johannes Schillo
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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 13.09.2023 zu: Simon Derpmann (Hrsg.): Franz Petry. Der soziale Gehalt der Marxschen Werttheorie. Brill Verlag (Leiden) 2023. ISBN 978-3-95743-280-3. Reihe: Philosophical Marx Studies - 1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30941.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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