Thomas Schmitt: Zur Begleitung Sterbender
Rezensiert von Heribert Wasserberg, 23.10.2023

Thomas Schmitt: Zur Begleitung Sterbender. Person- und systemorientierte Sterbebegleitung in pastoralpsychologischer Perspektive. Tectum (Baden-Baden) 2023. 1092 Seiten. ISBN 978-3-8288-4415-5. D: 149,00 EUR, A: 153,20 EUR.
Thema
Das Sterben eines Menschens professionell christlich begleiten
Kirchliche Dienstleistungen am Menschen haben in den hinter uns liegenden Jahrzehnten die Professionalisierung der Dienstleistungen am Menschen mitvollzogen. Und zwar uneingeschränkt, weil die kirchlichen Akteure als Mitglieder des multiprofessionellen Gesundheits- und Pflegesystems professionell arbeiten und kooperieren können müssen. Dies schließt auch das professionelle seelsorgerliche Handeln ein, also die sogenannte „Pastoralpsychologie“. Und, ob säkular oder religiös, die Professionalisierung psychologischen Handelns schließt auch die Begleitung sterbender Menschen und ihrer Angehöriger ein. Die Begleitung behält aber nicht nur die sterbende Person als solche, sondern auch das „System“, also nicht nur die Angehörigen, also das Familiensystem, sondern auch das System der professionell an Sterbenden Handelnden im Blick.
Professionalisierung schlägt sich unter anderem aber auch darin nieder, dass „umfassend systematisch erarbeitete und wissenschaftlich fundierte Ratgeber bzw. Leitfäden“ (S. XIII) entwickelt werden. Dies ist im Leitliniensystem der Medizin am augenfälligsten. Aber mit dem Aufstieg der Kognitiven Verhaltenstherapien (KVT) kommt auch in der Psychotherapie der Wille zur Standardisierung und Evidenzbasiertheit beuflichen Handels immer stärker zum Tragen.
Anders hingegen am Lebensende, und zwar nicht nur in Bezug auf die religiös motivierte, sondern auch auf die säkular motivierte Begleitung Sterbender. Dies meint zumindest der Theologe und Pastoralpsychologe Thomas Schmitt, der Verfasser des hier rezensierten Buches. Zwar gebe es Monographien und Artikel zu einzelnen Aspekten der Sterbebegleitung, aber im Gesamtbefund sei dieses Thema, so Schmitt, „auf dem Buchmarkt stark unterrepräsentiert“. „Erstaunlicherweise“, zumal die Sterbebegleitung doch immer wichtiger werde. Es erstaune ihn, „dass auf dem Gebiet der Medizin oder der Psychologie so viele Bücher geschrieben werden, Bücher, die sich allesamt mit Krankheiten beschäftigen, die – im Vergleich zu dem vorliegenden Thema – einen relativ kleinen Personkreis betreffen, während das Thema ‚Sterben und Tod‘ doch an das Schicksal jedes Menschen rührt.“ (S. XIII)
Schmitt sieht hier also eine „Lücke“, insbesondere im Bereich der Lehrbuchliteratur. Welche, wie er mit unverhohlenem Selbstbewusstsein feststellt, „mit dem vorliegenden Band geschlossen wurde“ (S. XIII)
Autor
Thomas Schmitt ist römisch-katholischer Diplom-Theologe und Pastoralpsychologe.
Interessenskonflikt?
Dem Rezensenten wurde die Rezension vorgeschlagen. Zwar ist das Buch ein eminent römisch-katholisches Werk, und der Rezensent hingegen aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten, weil er deren Lehramt ablehnt, sowie wichtige Teile der von ihm vertretenen Theologie und Anthropologie. Aber auf sich allein gestellt begründet dies keine religiöse oder weltanschauliche Differenz einen Interessenskonflikt.
Aufbau
Der Titel des Buches spiegelt den Inhalt und Aufbau des Buches denkbar adäquat wider. Zunächst widmet sich der Autor der professionellen Sterbebegleitung (S. 4–135). Den Großteil der Darlegungen nehmen die person- und individuelle Begleitung (163-683) und die familien- und systemorientierte Begleitung (S. 683–937) in Anspruch, gerahmt von Kapiteln über das multiprofessionelle Behandlungsteam als Rahmen pastoralpsychologischer Praxis (S. 137–161) sowie über die Hinterbliebenenseelorge (S. 939–962). Ihm schließen sich die vergleichsweise kurz gehaltenen reflektierenden und ergebnissichernden Kapitel an (S. 981–992), gerahmt von einem „Exkurs“ unter der Fragestellung „Brauchen wir eine neue ars moriendi?“ (S. 963–980) und von einem „Ausblick und Anregungen an die Politik“ (S. 985–1002)
Lesehinweis für Lesende mit begrenzter Lesezeit: Alle großen Buchteile lässt der Autor mit einem „Resümee“ enden.
Nicht nur das Literaturverzeichnis, sondern auch eine Liste der Aus- und Fortbildungseinrichtungen der Fachverbände und eine Sammlung von Texten für die pastorale Praxis (S. 1003–1032) schließen das Buch ab.
Inhalt
Zum Ende seiner Ausführungen (S. 995–1002) wendet sich Thomas Schmitt an „die Politik“ mit einer Idee eines Netzwerkes von „Domizilen für den Lebensabend“, welche „riesigen, hochmodernen mediterranen Hotelanlagen“, „ein Großbaukomplex im Stile einer Ferienanlage mit Cafes, Supermarkt, Kino uvm. im geschwungenen Design mit Pool, Strandbar, Musik, Restaurant.“ Diese Art der Politikberatung mutet dem Rezensenten etwas kurios an, bildet aber nur einen Kontrapunkt zu der in einem ganz anderen Duktus gehaltenen übrigen Argumentation.
Schmitts Großentwurf ist auf zwei tragende Säulen gestützt, da nicht alle Methoden der Psychologie für die Begleitung in der letzten Lebensphase geeignet seien, nämlich „1. die klientenzentrierte Perspektive Carl Rogers‘, die wichtigen Momente einer christlichen Pastoral beinhaltet sowie 2. die systemische Perspektive, die auch die Weiterlebenden berücksichtigt“. (S. 3) Sie bilden „das Grundgerüst des hier vorgelegten Begleitungsansatzes“. Die personzentrierte Interaktion sei hocheffektiv, wie Wirksamkeitstudien belegten, und Schmitt wird im Verlaufe seiner Ausführungen immer wieder plausibilisieren, dass sie im hohen Maße anschlussfähig ist an oder amalgasierbar sei mit einem christlichen Habitus. Dies sei bei der anderen tragenden Säule, also der systemtheoretischen Perspektive so nicht der Fall; ihre Prinzipien seien im Kontext christlicher Seelsorge an einigen Stellen zu modifizieren. Schmitts Umgang mit der Methodenvielfalt ist betont pragmatisch; auch andere psychothetapeutische und seelsorgerliche Verfahren, „die sich in der Begleitung Sterbender bereits bewährt haben, werden adaptiv integriert“. (S. 3)
Es erscheint dem Rezensenten unmöglich, einen tausendseitigen Sachvortrag über ein professionelles Sterbeseelsorgekonzept in dem gebotenen Rahmen näher zu referieren. Deshalb beschränke ich mich auf zwei Einzelaspekte, welche mich näher interessieren.
Professionelle Suizidassistenz. Schmitt diskutiert sie in dem Kapitel mt dem Titel „Sterbehilfe vs. Sterbebegleitung“ (S. 108–135), welcher auf eine eher konventionelle Argumentation im römisch-katholischen Sinne hinzudeuten scheint. Jedoch wird der Fokus bald auf die Folgen der Stärkung der Autonomierechte für stark selbstbestimmungseingeschränkte Menschen gerichtet. Hier stelle sich sogleich die Frage, „mit welchem Recht dieses fundamentale Grundrecht auf Selbstbestimmung und damit auch auf einen selbstbestimmten Tod einem Menschen abgesprochen werden kann“. (S. 116) Dies wäre „in starkem Maße diskriminierend“. (S. 117) Auch den weiteren Ausführungen kann der Rezensent gerne folgen. Wie die katholische Lehre über den Suizid und die Suizidassistenz sich entwickeln werde, „ob es bei der kirchlichen Position bleiben wird oder ob diese zu einem späteren Zeitpunkt nicht doch überdacht wird, ist keineswegs ausgemacht. Die Kirche hat in ihrer Geschichte immer wieder nichtdogmatische Entscheidungen dekonstruiert, reformuliert und sogar revidiert“. (S. 121) Schmitt zeigt sich hier entschieden personzentriert: „Die freie Entscheidung eines Menschen ist im Letzten immer zu respektieren.“ (S. 123) Diese Solidarisierung mit dem sterbewilligen Menschen, dessen Willen sich niemals ohne eine Sachgrundlage gebildet habe, lässt Schmitt jedoch dann – in einer für den Rezensenten nicht immer nachvollziehbaren Weise – in eine ethische Reflektion über den Umgang mit den Leidenden in Anschluss an Papst Johannes Paul II. münden: „Vergessen wir unsere Unstimmigkeit, versöhnen wir uns.“ (S. 127)
Ars moriendi. Schon eingangs des Buches kommt Schmitt auf die mittelalterlich-christliche ars moriendi zu sprechen, deren dialektische und mit ihr interdependente Entsprechung die ars vivendi war (und für diejenigen, welche diesen beiden artes verbunden leben: ist). Sie entstand aufgrund der Verdrängung mythologisch und esoterisch ausgerichteter Jenseitsvorstellungen durch die religiöse, monotheistische Jenseitsvorstellungen. Das Leben wird zu einem aus dem christlichen Glauben und seiner Erlösungshoffnung heraus im Angesicht des Todes bewusst gelebt und gestaltet. Im Hochmittelalter bildet sich eine stark elaborierte und zugleich reglementierte und ritualisierte Form dieser Kunst des Sterbens aus.
Auch eine moderne ars moriendi, so Schmitt in seinem Exkurs am Ende seines Buches, sollte die beiden Grundaspekte der vormodernen ars moriendi „im Blick haben: 1. Das Leben aus der Perspektive des Todes zu leben und 2. Dem Tod aufgrund eines guten Lebens gelassener entgegengehen zu können.“ (S. 966) Schmitt beschreibt daraufhin in psychotherapeutischen und theologischen Abschnitten über eine neue Sterbekultur Prozesse der Selbstannahme, des Sich-Anvertrauens oder auch des Sich-Öffnens als Elemente einer guten Sterbevorbereitung.
Diskussion
Löst Schmitts Buch das Versprechen ein, ein Leitfaden zur Begleitung Sterbender zu sein, ein? Nach dem Dafürhalten des Rezensenten nicht. Nicht umsonst ruft Schmitts oberster Vorgesetzter, also Papst Franziskus, in den Stunden des Entstehens dieser Rezension eine Weltsynode zusammen. Weil die Zeiten einsamer Akte, welche die Welt voranzubringen vermögen, zurzeit und auf absehbare Zeit vorbei sind. Die Leitlinien einer Sterbekultur zu finden und als solche zu identifizieren, ist die Sache vieler – und keineswegs nur derjenigen Berufsgruppen, welche professionell mit der Begleitung Sterbender und ihres Umfeldes befasst sind.
Aber kann man eigentlich über Sterben und professionelle Sterbebegleitung reden, ohne über den Krieg und ohne über Phänomene wie den Nationalsozialismus zu reden? Oder die Klimakatastrophe und den Pflegenotstand? Sie alle, auch der Nationalsozialismus, sind reale Bedrohungen, welche bei vielen Zeitgenossen im stillen Kämmerlein das Verlangen nach einer jederzeit verfügbaren assistenzlosen Suizid-Option entstehen lassen. Demgegenüber bewegt sich Schmitts Buch sozusagen in der immer noch gewissermaßen individualethischen Wohlfühlzone, wo es nur um Ziele geht wie „das gelingende Leben“ und „der getroste Tod“. Schmitts Buch ist dem Rezensenten zu unpolitisch. Oder man kann auch sagen: zu kurz, trotz seiner mehr als eintausend Seiten.
Dennoch ist dieses Buch über allen Maßen zu würdigen als ein im besten Sinne europäischer Beitrag zum adäquaten Umgang mit einer Menschheitsaufgabe, nämlich das Sterben als conditio sine qua non des Lebens zu akzeptieren und zu verstehen und dieses Verstehen in angemessene individuelle und soziale Praktiken umzusetzen. Die Europäer müssen sich anstrengen, intellektuell, kulturell, spirituell, theologisch, philosophisch, ethisch, sozial, politisch mithalten zu können mit anderen, und der Menschheit einen eigenen Beitrag anbieten zu können, auch in den Lebensendefragen. Man mag bezweifeln, ob eine Rekonstruktion der ars moriendi wirklich realistisch möglich ist, kann aber nicht umhin, den status quo der Lebenendekultur auch als Ausdruck einer verbreiteten Wohlstandsverwahrlosung zu interpretieren.
Schmitt hat sich angestrengt, eine europäische Position zum Tod und zur Kultur des Sterbens einschließlich einer professionellen Sterbebegleitung zu denken; er mobilisiert in seinem Buch tatsächlich alles, was er als abendländischer Theologe und Pastoralpsychologe kennt, alles, was er sich lernend angeeignet hat, den gesamten Reichtum der aufklärerischen, aber auch der christlichen Geistes- und Kulturtraditionen unseres Kontinents. Ihm ist eine große, glänzende Einzelmonographie über die professionelle Begleitung des Sterbens von Menschen gelungen.
Fazit
Thomas Schmitts Großentwurf einer person- und systemorientierten Sterbebegleitung in pastoralpsychologischer Perspektive ist der Weg in jede öffentliche und private Fachbibliothek zu wünschen, und insbesondere eine gute Diskussionsgrundlage für multiprofessionelle Sterbebegleitungsteams.
Rezension von
Heribert Wasserberg
Evangelisch-reformierter Theologe, Politikwissenschaftler, Evangelischer Pfarrer und Altenheimseelsorger im Ruhestand
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Es gibt 13 Rezensionen von Heribert Wasserberg.
Zitiervorschlag
Heribert Wasserberg. Rezension vom 23.10.2023 zu:
Thomas Schmitt: Zur Begleitung Sterbender. Person- und systemorientierte Sterbebegleitung in pastoralpsychologischer Perspektive. Tectum
(Baden-Baden) 2023.
ISBN 978-3-8288-4415-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30956.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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