Gernot Rücker: Rausch
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 31.07.2023
Gernot Rücker: Rausch. Was wir über Drogen wissen müssen und wie ihr Konsum sicherer werden kann - Alles über Alkohol, Cannabis und Co. vom Notfallmediziner und Drogenexperten. Mosaik Verlag (München) 2023. 272 Seiten. ISBN 978-3-442-39404-3. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 30,15 sFr.
Autor und Thema
In der Diskussion über den aktuellen Versuch der Bundesregierung, den Cannabis-Konsum zu entkriminalisieren, beeindruckt noch immer die – vornehmlich von medizinisch-psychiatrischer Seite – dagegen eingesetzte Schaden/Sucht-Perspektive, weshalb eine Bestrafung notwendig sei, ohne jedoch auf deren sekundären Schadensfolgen einzugehen. Um so mehr überrascht die – auf gleicher Ebene, jedoch entgegengesetzte – Argumentation des erfahrenen Suchtmediziners Gernot Rücker, Leiter des Notfall-Ausbildungszentrums der Universität Rostock, der die geringe Schädlichkeit des Cannabis (und diverser anderer Partydrogen) hervorhebt, um gegen die weitaus höheren Gefahren des Alkoholkonsums vorzugehen. Ein Anliegen, das im Titel des SPIEGEL-Online-Interviews mit Julian Aé (vom 29.6.2023) wie folgt überschrieben wird: „Der Drogenkonsum auf Festivals läuft zivilisierter ab als Alkoholtrinken im Bierzelt.“ Um in seinem Vorwort (S. 11) zu fordern: „Was wir brauchen ist ein genereller bewusster Umgang mit rauschauslösenden Substanzen – auch mit Drogen, die schon längst legalisiert sein sollten, da viele davon weit weniger gefährlich sind als Alkohol.“
Aufbau und Inhalt
Neben einem Vorwort und einem Nachwort – „Anstelle eines Aperitifs bzw. Digestifs“ – sowie Hinweisen für eine ‚Erste Hilfe im Notfall (S. 245–251), geht der Autor in einem ersten Hauptteil in drei Kapiteln auf allgemeine ‚Rausch‘-Charakteristika ein: Historisch (Im Rausch der Zeit), definitorisch (Das Reich des Rausches) und Wirkung im Gehirn (Anatomie des Rausches). Um im zweiten Hauptteil in drei weiteren Kapiteln die Folgen des Alkohol-Trinkens als „Feind in meinem Bett; C2H5OH“ (4. Kapitel) mitsamt seinen Ursachen (Des Rausches Untertan) und Lösungsversuchen (Lösung für den Umgang mit der liebsten Lösung) darzustellen.
In seinem einführenden, historisch aufgebauten ersten Kapitel betont Rücker zunächst die gleichsam naturwüchsige Gegenwart des Rausches, der sowohl diverse Tiere wie auch den Menschen von Beginn an erfreute: Hanf, Pilze, Bier, Opium, die jeweils entscheidend deren Entwicklung als „Antreiber der menschlichen Zivilisation“ mit bestimmten: „Ohne Bier hätte es nicht nur die Pyramiden von Gizeh nicht gegeben.“ (S. 50). Vor allem förderte der Rausch spirituelle Erfahrungen: „Im Rausch kam die Menschheit in Kontakt mit dem Göttlichen, und aus ebenjenem Grund wurde dem Rausch auch eine so große Bedeutung beigemessen – er war der Katalysator für die Spiritualität, aus der später Religionen wurden.“ (S. 22). Bis in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts die Idee der – missratenden – Alkoholprohibition und Harry Anslingers Anti-Marihuana-Kampagne – „eine der größten jemals lancierten Fake-News Kampagnen der Welt“ (S. 46) – dem freien Drogenkonsum zunächst in den USA und dann auch international ein Ende setzte: „Insofern verfügt eine erste Bilanz […] durchaus über positive Aspekte. Im Rausch kommuniziert der Mensch mit dem Übersinnlichen, wächst über sich hinaus und vergisst seine Schmerzen. Er kann sich damit sogar für eine kurze Zeit von Zwängen und Sorgen befreien.“ (S. 51).
In diesem ‚Reich des Rausches‘ (2. Kapitel) unterscheidet man die ‚substanzgebundenen‘ Drogen von den ‚nicht-substanzgebunden‘ Triggern – vom Sex über Spiel und Arbeit bis hin zum ‚berühmten Adrenalinkick‘ – die uns an der ‚fließenden Grenze‘ zur Ekstase „gewissermaßen von der Last (so man denn den Kontrollverlust will), ein mal mehr, mal weniger vernunftbegabtes, nachvollziehbar handelndes Lebewesen zu sein, befreit.“ (S. 55). Weswegen wir sowohl auf die Begriffe ‚Suchtmittel‘ oder ‚Rauschgift‘ ebenso verzichten sollten, wie auf die Unterscheidung zwischen ‚weichen‘ und ‚harten‘ Drogen bzw. auf das seinerzeit von Anslinger erfundene, widersinnige Konzept der ‚Einstiegsdroge‘ (S. 56, 65).
Die drei Grundrichtungen der dadurch bedingten Bewusstseinsveränderung: „Anregung, Entspannung und Halluzination“ (Wirkungsdreieck der Rauschqualitäten) lassen sich – ‚vorhersehbar und linear ansteigend‘ – mit Ausnahme des ‚breit gefächerten Alkohols‘, gut den einzelnen Drogen zuordnen (S. 62 ff.), mit jeweils unterschiedlicher Letal- und Rausch-Dosis, die beim Alkohol ab zwei Promille beginnt, beim Cannabis jedenfalls ohne Todesfolge bleibt. (S. 67ff). Im Rahmen dieser unterschiedlichen Wirkungen werden dann als Drogen besprochen: Medikamente, insbes. Psychopharmaka; Opioide: „In der medizinischen Anwendung sind sie ein Segen, als Rauschmittel […] jedoch wahres Teufelszeug“ (S. 81); Cannabinoide: „Da braucht es bei mehreren Tausend Jahren Konsumverhalten keinen Beweis mehr“ (S. 90); Stimulanzien, Kokain und insbes. Ecstasy (mit Drug-Checking (S. 240 f.), das neuerdings endlich erlaubt wird); Halluzinogene: Pilze und LSD inclusive des angeblich Kreativität fördernden ‚Micro-dosing‘ (S. 83 f.), bis hin zu den zu Recht gefürchteten K.-o.-Tropfen (S. 115 ff.).
Im dritten Kapitel zur ‚Anatomie des Rausches‘ geht Rücker recht kursorisch auf die wesentlichen hirnorganischen Abläufe ein. Der im ’mesolimbischen System‘ liegende ‚Nucleus accumbens‘ dient dabei als ‚Belohnungszentrale‘ des ‚Oberstübchens‘ (Neokortex mit Stirn- und Frontallappen), „in dem sich neben dem Bewertungszentrum auch unsere Persönlichkeit, unser Sozialverhalten und – und das ist für uns wichtig – die Impulskontrolle befinden.“ (S. 136). Getriggert durch ‚Drogen‘ – und insbesondere durch Zucker (S. 131) – steuert sie u.a. den – auch in der Nebenniere produzierten – Neurotransmitter ‚Dopamin‘, durch den die Gehirnnerven miteinander kommunizieren. Und zwar einerseits, gegen „eine negative Empfindung […] um sich besser zu fühlen“, oder andererseits – weitaus weniger Abhängigkeits-gefährdend – „man nimmt etwas in einer positiven Situation, damit man sich noch besser fühlt.“ (S. 132 f.). Ein Prozess, der sowohl zur abstumpfenden Gewöhnung wie aber auch zur riskanten Frequenzsteigerung führen kann (S. 138).
Im vierten Kapitel beschreibt Rücker die Droge Alkohol, „das gefährlichste Rauschmittel der Welt“, dem David Nutt (2009) auf seiner Gefährlichkeitsskala „mit sagenhaften 72 von maximal zu erreichenden 100 Punkten […] weit vor Heroin (55 Punkte), Methamphetamin (33 Punkte) oder LSD (7 Punkte)“ zuordnete (S. 162 f.). Nach den Wirkungen des Alkohol-Konsums – einschließlich des zu Selbstprüfung angebotenen ‚AUDIT-C-Tests‘ (S. 157 f.) – schildert der Autor, mit überzeugendem Zahlenmaterial, dessen vielfältige Folgeschäden: Für die Gesundheit, bei Straftaten, und zwar insbesondere Gewalt- und Sexual-Delikten sowie die ‚tickenden Zeitbomben auf deutschen Straßen‘ (S. 174): „Ab 0,5 Promille lässt die Reaktionszeit nämlich nach.“ „Nach zwei Glas Wein oder Bier passiert mir mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nichts, aber wenn ich vor drei Wochen Cannabis konsumiert habe, darf ich zu Fuß nach Hause gehen, selbst wenn ich am Tag der Kontrolle völlig klar und nüchtern bin.“ (S. 175 f.). Vor allem übersähe man dabei, wie der Autor an einem Beispiel eindrucksvoll nachweist, wie viele Menschen – im Beispiel 94 Personen – bei einem einzigen tödlichen Unfall „mit Emotionen, mit Gefühlen und Ängsten und vor allem aber mit Empathie [betroffen sind]. Sie können nicht wegsehen sie alle sind betroffen.“ (S. 182–186).
‚Sucht‘ und Abhängigkeit (im 5. Kapitel) – „ich versuche, das gleichsinnige Wort Sucht zu vermeiden, da es negativ belegt ist“ (S. 192) – sind nicht genetisch bedingt: „Man geht heute davon aus, dass es kein Gen gibt, das diese Eigenschaft codiert hat.“ (S. 189), vielmehr wirken – zudem zunehmend – soziale Isolation, miserable Ausgangsbedingungen und Stigmatisierung. Wofür Rücker auf das bekannte Ratten-Experiment verweist: Isolierte Ratten bevorzugten Heroin-Wasser, sozial integrierte dagegen das normale Wasser. (S. 195 f.). Die familiäre Sozialisation, kindliche Traumata, Co-Abhängigkeit des verunsicherten Lebenspartners (S. 202), die persönliche Lebenseinstellung: „Abhängigkeiten von was auch immer stopfen ein hormonelles Loch im Gefühlshaushalt – sie entschädigen und ersetzen, was sonst fehlt, und meistens sind das Bindungen oder das Gefühl von Zugehörigkeit.“ (S. 193). „Eine Sucht ist eine Erkrankung einerseits des Körpers, aber vor allem der Psyche.“ (S. 206).
„Wir lernen Sucht, wie wir Klavierspielen, Fahrradfahren und Kochen lernen“ (S. 206), wir sträuben uns, das zuzugeben und „solange wir Abhängige wie Kriminelle behandeln, können sie sich gar nicht rehabilitieren – vielmehr trägt die Gesellschaft zur weiteren Eskalation der Situation bei.“ (S. 213).
Was also tun? (6. Kapitel): Steuern und Preise heraufsetzen: „Die erhebliche Steigerung des Verkaufspreises ist daher eine der wirksamsten Methoden zur Vorbeugung von Alkoholismus.“ (S. 223). Promille-Grenzen – nach Vorlage (S. 231 f.) – berechnen, Alkohol-Gramm-Zahlen auf das Etikett. Kein „generelles Alkoholverbot“, stattdessen sollte der Umgang mit Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen im Sinne einer Drogenmündigkeit kompetent in die Gesellschaft getragen werden. (S. 234). Eine entsprechende Prävention auch im Schulunterricht und zehn konkrete Forderungen: Von Null Promille im Straßenverkehr, Verbot vom Verkauf in Tankstellen und im unmittelbaren Kassenbereich von Supermärkten bis zur „Freigabe von weiteren Drogen als Alternativen“ und „Die Besetzung des Amtes des Drogenbeauftragten muss zukünftig aufgrund von Sachkompetenz und nicht politisch motiviert erfolgen.“ (S. 235–238).
Diskussion
Es ist schon merkwürdig, wie sehr der jeweilige professionelle Blick die Drogen-Perspektive bestimmt. Politiker orientieren sich am internationalen Drogenrecht (oder der vox populi), Juristen und das gesamte Kriminal-Justiz-System schauen auf das spezielle ‚Betäubungsmittelgesetz‘ (BtMG) – obwohl „die Benennung des Gesetzes schlichtweg falsch ist.“ (S. 53) – und die Psychiater argumentieren mit ihrer speziell ausgelesenen Patienten-Population. Um samt und sonders den vertraut heimeligen Alkohol vom Vergleich auszuschließen. Wie erfrischend ist es dagegen, wenn ein – selber abstinenter – Notfallmediziner, der zudem als ärztlicher Leiter Festivals betreut, aus seiner Erfahrung heraus die Gefahren-Bilanz wieder gerade rückt. Ohne die illegalisierten Drogen zu verniedlichen – ‚Opiate sind Teufelszeug‘ – dienen sie ‚positiv‘ doch auch dazu, aufgeklärt, per drug-checking kontrolliert, das Leben (noch etwas besser) zu genießen. Wobei es, kleine Kritik, keineswegs jederzeit zu einem ‚Rausch‘ kommen muss. Während der allgegenwärtige Alkohol – „Wir haben in einem der größten Supermärkte in Rostock sogar einmal 2.465 verschiedene Alkoholika gezählt“ (S. 142) – unvergleichbar hohe gesundheitliche, materielle und menschliche Schäden verursacht, obwohl man auch ihn, ernst genommen, in zehn politischen Schritten (S. 235 ff.) ‚drogen-kulturell‘ einbinden könnte.
Fazit
Das Buch, vielleicht für manche Leser ‚zu salopp‘ geschrieben, fasst, wie in einer guten Vorlesung, mit Beispielen, ein paar einschlägigen Zahlen und 17 Abbildungen, insgesamt abgewogen den gegenwärtigen Wissensstand in ‚aufklärerischer Absicht‘ zusammen. Weswegen es sowohl in den Handschuhkasten des eigenen Autos wie auf den Schreibtisch unserer Politiker gehören sollte.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
Jurist und Kriminologe
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Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 31.07.2023 zu:
Gernot Rücker: Rausch. Was wir über Drogen wissen müssen und wie ihr Konsum sicherer werden kann - Alles über Alkohol, Cannabis und Co. vom Notfallmediziner und Drogenexperten. Mosaik Verlag
(München) 2023.
ISBN 978-3-442-39404-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30963.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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