Menno Baumann, Tijs Bolz et al.: Verstehende Diagnostik in der Pädagogik
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 29.11.2023

Menno Baumann, Tijs Bolz, Viviane Albers: Verstehende Diagnostik in der Pädagogik. Verstörenden Verhaltensweisen begegnen.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2021.
175 Seiten.
ISBN 978-3-407-63180-0.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Pädagogik.
Thema
Notwendiger Faktor in pädagogischen Kontexten ist die diagnostische Einschätzung schwieriger, verstörender Verhaltensweisen als Voraussetzung für eine passgenaue und damit funktionierende individuelle Hilfeplanung, Förderplanung und der daraus folgenden Umsetzung. Verstehende Ansätze und deren Methoden sind Basis der pädagogischen Handlungsfähigkeit. Sie geben Unterstützung, das Verhalten des Menschen im Kontext seiner Biografie sowie seiner aktuellen Lebenssituation einzuschätzen.
AutorIn oder HerausgeberIn
Menno Baumann ist Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Er hat als Förderschullehrer an einem Jugendhilfezentrum in Ostfriesland gearbeitet und war Lehrbeauftragter an der Universität Oldenburg.
Tijs Bolz ist Sonderpädagoge und arbeitet am Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen/​Emotionale und Soziale Entwicklung sowie am Lehrstuhl Sonder- und Rehabilitationspädagogische Psychologie an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.
Viviane Albers ist Sonderpädagogin und sie arbeitet am Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen/​Emotionale und Soziale Entwicklung an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.
Aufbau und Inhalt
Das vollständige Inhaltsverzeichnis findet sich auf der Homepage der Deutschen Nationalbibliothek.
Das Buch hat einen Umfang von 175 Seiten, die sich inklusive Einleitung und Fazit sowie Ausblick und Literaturverzeichnis in zwei Teile und acht Kapitel gliedern. Der erste Teil (Kap. 1–4) beinhaltet theoretische Grundlagen, der zweite Teil (Kap. 5–7) beschreibt Methoden, Instrumente und Praxis des diagnostischen Vorgehens. Am oberen linken Rand findet sich die Kapitelüberschrift, am rechten oberen Rand die Überschrift des jeweiligen Unterkapitels. Stichworte heben sich durch Fettdruck vom eng bedruckten Fließtext ab, 35 Abbildungen machen Inhalte anschaulich.
Das Buch beginnt in der Einleitung (Kap. 1) mit dem Fallbeispiel von Sam, daran schließt der erste Teil mit den theoretischen Grundlagen an. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die Diagnostik, die in den letzten Jahrzehnten mit einer gewissen Skepsis behandelt wurde, da sie durch die klassischen Varianten der klinisch-psychologischen und der medizinischen Diagnostik belegt ist. Die Autor:innen dieses Buches bleiben dennoch beim Begriff „Diagnostik“ weil sie mehr als nur das Verstehen eines Falls einer Indexperson ist. Mit diesem Buch wollen sie das Verständnis der „Diagnostik“ in pädagogischen Handlungsfeldern genauer beschreiben. Diagnostik ist immer ein Versuch, Komplexität so zu reduzieren, sodass sie handhabbar ist. Eine diagnostische Beschreibung bildet nie die Wirklichkeit ab, sie ist immer eine Abbildung eines Ausschnitts der Komplexität, die bestimmten Regeln und Systematiken folgt.
Die verstehende Diagnostik wird zur „klassischen Diagnostik“ ins Verhältnis gesetzt. Differenziert (durch fettgedruckte Stichwörter im Fließtext) werden die Testdiagnostik und die klassische Diagnostik inkl. gebräuchlicher Klassifikationssysteme. Daran anschließend werden Arten der Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern besprochen. Eine pädagogische Grundlage bildet die verstehende Diagnostik, hier wird auch definiert, was ein Fall ist und was eine „gute“ Hypothese ist: sie bietet Transparenz, bezieht sich auf den Fall, ist nachvollziehbar und verstehbar, stellt auch einen Zielzustand und Perspektive heraus und öffnet neue Handlungsmöglichkeiten (S. 39).
Diagnostik ist -nach dem Verständnis der Autor:innen – immer auf der Grundlage einer Vorstellung allgemeiner menschlicher Entwicklung zu denken. Dabei wird der Mensch in seinen Bezügen zum System betrachtet und davon ausgegangen, dass Verhalten in einen Kontext eingebettet ist. Der Mensch wird in seiner Entwicklung und seiner Geschichte betrachtet, mit den Aspekten des Lebens und dessen Organisation, des sog. „Use-Dependent Development“, gemeint ist die Fähigkeit, sich seiner Umgebung anzupassen, der Betrachtung des Menschen als soziales Hordentier und dem, was menschliche Entwicklung steuert. Näher betrachtet werden vier Lernmechanismen, die menschliche Entwicklung als Prozess der Lebensregulation strukturieren: Lernen durch Handeln, Lernen durch Nachahmen und Imitation, Lernen durch Anleitung und Instruktion und Lernen in Kooperation. Daran schließen sich Theorien der psychischen Entwicklung an und zum Abschluss dieses Kapitels wird die Verbindung von inneren Prozessen und Interaktion betrachtet. Seite 55 zeigt eine Tabelle mit den acht Entwicklungsphasen (unter fünf Aspekten) der Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erik H.Erikson, die auch heute noch Relevanz hat.
Kapitel vier enthält den Entwurf eines Prozessmodells störender Verhaltensweisen – zur Rekonstruktion der Normalität scheinbar gestörter Entwicklungen. Entwicklung wird verstanden als dynamischer Prozess, der nicht in Kausalverknüpfungen verstanden werden kann. Das diagnostische Vorgehen gliedert sich in Methoden, Instrumente und Praxis. Die Anamnese und Exploration enthält die Analyse von Fremdquellen, die Reflexion des Entstehungskontextes, die Festlegung der Analyserichtung, die Zusammenfassung des Materials sowie die Explikation und Strukturierung.
Als geeignetes Modell zur Darstellung wird auf das TZI Modell zur Analyse von Interaktionen (kurz „Dreieck in Kugel“) von Cohn zurückgegriffen, das schon 1975 entwickelt wurde. Es stellt dar, dass jeder Prozess sowohl einen „Ich-Aspekt“, einen „Es-Aspekt“ und einen „Sach-Aspekt“ hat. Die Dynamik dieser Aspekte beeinflusst den Prozess mehr als die einzelnen Aspekte. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Balance dieser drei Aspekte durch die Kugel, die sog. „Globe“ beeinflusst werden (S. 64). Die Abbildung auf S. 65 zeigt ein Prozessmodell störender Verhaltensweisen und auf S. 66 wird ein Prozessmodell mit der Erweiterung des Aspekts der Gruppe gezeigt.
Dieser erste Teil schließt mit einem weiteren Modell auf der Seite 69 zum Verständnis des Bedingungsgefüges von störenden Verhaltensweisen.
Der zweite Teil stellt Methoden, Instrumente und Praxis diagnostischen Vorgehens vor.
Kapitel fünf ist der Anamnese und Exploration gewidmet und dabei im ersten Schritt der Analyse von Fremdquellen, im zweiten Schritt steht die Gesprächsführung mit Interviewleitfäden, insbesondere anamnestische Gespräche zur Historie und lösungsorientierte Anamnesegespräche. Das fünfte Kapitel schließt mit der Visualisierung der Chronologie des Problemsystems ab.
Das sechste Kapitel ist der Beobachtung gewidmet. Einstieg bildet der Ablauf einer Beobachtungsreflexion. Daran schließen sich drei Beobachtungsszenarien an: Beobachtung von Kontext und Setting, Beobachtung von Beziehungs- und Interaktionsstrukturen und Beobachtung von Problem- und Konfliktsituationen.
Methoden der Verstehenden Diagnostik stellt das vorletzte siebte Kapitel vor:
- Diagnostik mit Ressourcenrädern, dazu gehört die Expertendiagnostik, die Team-Mittelwert-Diagnostik und die Differenzanalyse. Konkretisiert wird das Vorgehen an dem Fallbeispiel von Lina.
- Die Bindungsorientierte Diagnostik, dazu gehören die Bindungsdimensionale Diagnostik der Erfahrungsräume und die Diagnostik des Beziehungsverhaltens, auch diese Arbeitsweisen werden an drei Fallvignetten veranschaulicht und
- die sog. „Ökosystemische Analyse“, die einen Frageleitfaden enthält sowie 4. die verstehende subjektlogische Diagnostik beginnt mit einer feldtheoretischen Lebensraumanalyse-Person-Umfeld-Diagnostik, in diesem Zusammenhang wird das szenische Verstehen sowie eine lebensproblemzentrierte Pädagogik und eine plananalytische Kinderdiagnostik genannt. Das Fallbeispiel von Arian verdeutlicht die theoretischen Ausführungen.
Diskussion
Im theoretischen Teil wird die Bedeutung verstehender Verfahren der psycho-sozialen Diagnostik in Zusammenhang mit pädagogisch-diagnostischen Arbeitsfeldern sowie der Entwicklungswissenschaften aufgezeigt. Sie bilden die notwendigen theoretischen Grundlagen für das Handeln. Daran schließt sich ein praktischer Teil an, in dem Methoden und Instrumente der verstehenden Diagnostik praxisorientiert dargestellt werden. Ergänzend bietet das Buch Materialien, Leitfäden, Auswertungsanweisungen sowie Praxisbeispiele für den Einsatz der vorgestellten Verfahren und Methoden. Entwicklung wird als dynamischer Prozess verstanden, der nicht in Kausalverknüpfungen verstanden werden kann. Ebenso wird kritisch hinterfragt, ob das klassische Störungskonzept medizinischer Tradition, welche zwischen Norm und Normabweichung unterscheidet, für pädagogische Prozesse wirklich geeignet ist.
Als ein geeignetes Modell wird auf das TZI Modell zur Analyse von Interaktionen von Cohn zurückgegriffen, das schon 1975 entwickelt wurde. Es stellt dar, dass jeder Prozess sowohl einen „Ich-Aspekt“, einen „Es-Aspekt“ und einen „Sach-Aspekt“ hat. Die Dynamik dieser Aspekte beeinflusst den Prozess mehr als die einzelnen Aspekte. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Balance dieser drei Aspekte durch die Kugel, die sog. „Globe“ beeinflusst werden (S. 64). Die Abbildung auf S. 65 zeigt ein Prozessmodell störender Verhaltensweisen und auf S. 66 wird ein Prozessmodell mit der Erweiterung des Aspekts der Gruppe gezeigt.
Ziel des Buches war zu zeigen, dass auch eine Verstehende Diagnostik strukturiert sein kann und sich durch klar beschreibbare Methoden abbilden lässt. Diese kommen systematisch, regelgeleitet und standardisiert zum Einsatz, sie können auch erlernt werden.
Bedauerlich und gleichzeitig verständlich ist, dass die Autor:innen darauf verzichtet haben, Wege aufzuzeigen, wie von den diagnostischen Ergebnissen zu klaren Interventionsanweisungen gelangt werden kann. Es wird darauf verwiesen, dass dies nicht möglich ist, da die dargestellte Haltung zum Verstehen komplexer Sachverhalte im Widerspruch zu einer damit einhergehende Simplifizierung in linear-kausalen Förderprogrammen steht. Interventionen müssen sich am Einzelfall und an den zur Verfügung stehenden Setting Bedingungen orientieren. Beispiele finden sich in dem Buch von Baumann aus 2019 oder dem von Bauman/Bolz/Albers von 2017.
Die diagnostische Einschätzung von schwierigen und teilweise verstörenden Verhaltensweisen sind notwendige Faktoren in pädagogischen Kontexten. Sie ist Grundlage für eine passgenaue und damit funktionierende individuelle Hilfeplanung und Förderplanung sowie der daraus folgenden Umsetzung. Verstehende Ansätzen und deren Methoden stellen die Basis der pädagogischen Handlungsfähigkeit dar. Auf dieser Grundlage kann das Verhalten des Menschen im Kontext seiner Biografie sowie seiner aktuellen Lebenssituation eingeschätzt werden. Zu dieser Printausgabe gehört ein e-book inside, das zum persönlichen Gebrauch mittels eines Download-Codes einmalig heruntergeladen werden kann.
Fazit
Diagnostik wurde in den letzten Jahrzehnten mit einer gewissen Skepsis behandelt, weil das klassische Störungskonzept medizinischer Tradition von einer Norm und deren Abweichung ausgeht. Die Verstehende Diagnostik ist mehr als nur das Verstehen eines Falls einer Indexperson. Das Buch beschreibt das Verständnis der „Diagnostik“ in pädagogischen Handlungsfeldern und Prozessen. Der Begriff „Diagnostik“ wurde beibehalten, sie ist immer ein Versuch, Komplexität so zu reduzieren, sodass diese handhabbar ist.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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