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Aleš Svoboda: Sexuell übergriffige Mädchen

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 16.08.2023

Cover Aleš Svoboda: Sexuell übergriffige Mädchen ISBN 978-3-7541-2589-2

Aleš Svoboda: Sexuell übergriffige Mädchen. Kinder zwischen sexualwissenschaftlichen Fakten und gesellschaftlichem Tabu. epubli (Berlin) 2021. 340 Seiten. ISBN 978-3-7541-2589-2. D: 34,99 EUR, A: 34,99 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Thema

Der Fokus der Veröffentlichung liegt empirisch-diskursiv auf sehr jungen sexuell übergriffigen Mädchen, die vor ihrem 14. Lebensjahr sexuell übergriffig gegenüber Dritten geworden sind und deshalb stationär sozial-therapeutisch behandelt wurden. Der Autor geht der Frage nach, wie diese Mädchen ihre, aber auch fremde, sexuelle Übergriffigkeit wahrnehmen, wie sie sie verstehen, bzw. wie und wo sie als Kinder gelebt haben, aktuell leben und in der Zukunft leben wollen.

Autor

Ales Svoboda stammt ursprünglich aus Tschechien und lebt mittlerweile in Wien. Er ist Sexualwissenschaftler und -therapeut.

Entstehungshintergrund

Es handelt sich um die Dissertation des Autors, die an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus – Senftenberg eingereicht und bewertet wurde. Die mündliche Verteidigung als letzter Schritt zur Promotion erfolgte im April 2021.

Aufbau

Nach der theoretischen Einführung ins Thema werden die narrativ-fokussierten Interviews mithilfe der dokumentarischen Methode analysiert und ausgewertet. Es folgt eine Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse, aus denen zum einen Empfehlungen abgeleitet werden und zum anderen versucht, mögliche Prognose zu skizzieren.

Inhalt

Mit überraschenden Fakten startet bereits die Einführung in diese Dissertation: Zwischen den Jahren 2009 und 2020 (Erstellungsjahr dieser Dissertation) ein Anstieg der weiblichen Tatverdächtigen unter 14 Jahren im Bereich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu verzeichnen – und zwar um das rund 14-Fache. In realen Zahlen ausgedrückt, liest sich das noch einmal dramatischer: Waren 2009 nur rund 75 unter 14-jährige Mädchen in dieser Deliktgruppe tatverdächtig, betrug dieser Wert elf Jahre später 1079. In der gleichen Altersgruppe bei Jungen war dagegen nur ein Anstieg um das rund 2,4-Fache von1238 auf 3637 Fälle zu beobachten. Svoboda setzt nun diese beiden Kurven in Relation und kommt zu einem Ergebnis, das verdeutlicht, wie wichtig eine wissenschaftliche und auch fachpraktische Beschäftigung mit dem Thema ist. 2009 war die Zahl der tatverdächtigen Jungen 16,51-al so hoch wie die der Mädchen, 2020 dagegen nur noch 3,37-mal. Warum das Thema in der Öffentlichkeit trotzdem nicht so präsent ist? „Die sexuellen Übergriffe durch Mädchen scheinen mit dem gegenwärtigen Geschlechterdiskurs zu kollidieren“ (S. 10). Dabei handelt es sich also um dasselbe Phänomen wie bei Frauen als Sexualtäterinnen gegen Kinder. Es läuft unserer Sozialisierung entgegen, sich Mädchen und Frauen – vor allem Mütter – als aktiven Part bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung anzuerkennen.

In der theoretischen Rahmung beschreibt Svoboda die Themenbereiche Mädchensexualität und -gewalt und multidisziplinäre Betrachtung sexuell übergriffigen Verhaltens von Mädchen im Speziellen sehr detailliert. Dabei kommen auch Grundatzbetrachtungen zur weiblichen Sexualdelikte-Täterschaft nicht zu kurz.

Nach der Beschreibung der Forschungsmethodik kommt dann der Kern der Dissertation, die narrativen Interviews. Drei Mädchen zwischen 14 und 21 Jahren wurden retrospektiv interviewt und ihre vor dem 14. Lebensjahr begangenen sexuellen Übergriffe sowie deren subjektive Wahrnehmung durch die Täterinnen untersucht. Die Mädchen waren zum Zeitpunkt der Befragung in Wohngruppen untergebracht bzw. waren es nach der Tat. Sieben offene Fragen waren dabei leitend für die Datenerhebung:

  • Wie ist es dazu gekommen, dass Du in dieser Gruppe für Kinder bist (warst), die Probleme mit Grenzen haben? Kannst Du mir sagen, was damals passiert ist?
  • Was hat die Situation für Dich bedeutet? Wie hat das Kind darauf reagiert?
  • Kannst Du mir etwas von Dir erzählen? Wie würdest du deine Kindheit beschreiben?
  • Welche Bedeutung hat(te) für Dich diese Gruppe? Hast Du hier etwas Neues erfahren oder gelernt?
  • Häufig sind es Männer und Jungs, die sexuell übergriffig sind. Was treibt Deiner Meinung nach die Mädchen dazu?
  • Wie stellst du Dir Deine Zukunft vor? Hast Du irgendwelche Ziele oder Pläne, die Du erreichen willst?
  • Gibt es noch etwas, was Du sagen oder ergänzen möchtest?

Die Ergebnisherleitung, auf die hier aufgrund der Komplexität nicht näher eingegangen werden soll, wird anhand des Kategoriensystems der Inhaltsanalyse sehr umfangreich dargestellt, sodass die Leser*innen sehr gut verfolgen können, welche Schlüsse sich aus der Datenerhebung gewinnen lassen. Auch dieser Erkenntnisgewinn wird anschließend umfassend und transparent beschrieben. Um nur einen Aspekt zu nennen: Alle drei Täterinnen berichten von einer negativ wahrgenommenen und mehrdimensional abweichenden Kindheit als Erklärungsmodell der Entstehung von sexueller Übergriffigkeit.

Das Fazit von Svoboda aus seinem Forschungsprozess fällt unerwartet und fast schon ein bisschen provokativ aus, sollte aber zu denken geben: „Sexuell übergriffige Mädchen im Kindesalter scheinen unerbittlicher, genauso strategisch, empathieloser und gleichzeitig mehr traumatisiert zu sein als gleichaltrige sexuell übergriffige Jungen“ (S. 307).

Diskussion

Wer schon einmal versucht hat, eine Maßnahme für ein sexuell übergriffiges Mädchen in der Jugendhilfe zu finden, der wird schnell gemerkt habe, dass das Angebot – um es positiv auszudrücken – überschaubar ist. Sexuell übergriffige Mädchen scheint es nur als absolute Ausnahmeerscheinungen geben, mag man da glauben – ebenso wie Mütter oder Frauen allgemein als Täterinnen gegen die sexuelle Selbstbestimmung eher nicht in die Realität sowohl von Fachkräften als auch der breiten Bevölkerung gehören. Umso wichtiger ist es, diesen blinden Fleck offen zu benennen und zur Diskussion darüber anzuregen. Denn nur so können letztlich Veränderungen angestoßen werden.

Dass die Stichprobe übersichtlich ist, ist dabei logisch und keine Schwäche. Das Thema ist so tabuisiert, dass es schon fast verwundert, dass Svoboda überhaupt die Möglichkeit bekommen hat, diese drei Täterinnen zu befragen. Es folgt daraus, dass es sich dabei natürlich nicht um eine repräsentative Studie handelt, was aber auch gar nicht der Anspruch ist und sein muss. Aufgrund der erheblichen Tabuisierung und des daraus resultierenden Dunkelfeldes ist alleine die Tatsache, dass es drei Probandinnen gegeben hat, ein wissenschaftlicher Erfolg.

Und dazu könnte diese – im Selbstverlag publizierte – Veröffentlichung wirklich beitragen. Sie ist nie voyeuristisch, sondern am Erkenntnisgewinn interessiert. Und genau das macht sie wirklich lesenswert. Und wenn bei der einen oder anderen Fachkraft durch dieses Buch erreicht werden kann, dass sie mit dem Umdenken beginnt in Sachen sexuell übergriffiger Jungen, dann ist doch schon unglaublich viel erreicht.

Fazit

Eine beeindruckende und fundierte Dissertation, die sich mit einem Thema beschäftigt, das auch bei einer großen Zahl an Fachkräften ein absolutes Tabu darstellt. Es lohnt sich, sich auf dieses Buch einzulassen und den eigenen Horizont zu erweitern.

Rezension von
Wolfgang Schneider
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Es gibt 21 Rezensionen von Wolfgang Schneider.


Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 16.08.2023 zu: Aleš Svoboda: Sexuell übergriffige Mädchen. Kinder zwischen sexualwissenschaftlichen Fakten und gesellschaftlichem Tabu. epubli (Berlin) 2021. ISBN 978-3-7541-2589-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30971.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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