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Tabea Scharrer, Birgit Glorius et al. (Hrsg.): Flucht- und Flüchtlingsforschung

Rezensiert von Prof. Dr. Simon W. Kolbe, 09.10.2023

Cover Tabea Scharrer, Birgit Glorius et al. (Hrsg.): Flucht- und Flüchtlingsforschung ISBN 978-3-8487-7785-3

Tabea Scharrer, Birgit Glorius, J. Olaf Kleist, Marcel Berlinghoff (Hrsg.): Flucht- und Flüchtlingsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. edition sigma im Nomos-Verlag (Baden-Baden) 2023. 882 Seiten. ISBN 978-3-8487-7785-3. 98,00 EUR.
Reihe: NomosHandbuch.

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Thema: Flucht- und Flüchtlingsforschung

Mit dem Anstieg von Fluchtmigration um das Jahr 2015 erlebte die vorher eher vernachlässigte Forschung im Bereich Flucht(-migration) im deutschsprachigen Raum einen starken Aufschwung. Das zu rezensierende Handbuch bietet eine sehr umfangreiche und umfassende Darstellung dieses Forschungsfeldes und erhebt den Anspruch, gleichzeitig eine kritische Reflexion des aktuellen Forschungsstandes anzubieten. Das Buch mit 882 (!) Seiten ist in vier Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt des Herausgeberwerkes werden auf theoretischer Ebene die historische Entwicklung des Forschungsfeldes, seine interdisziplinären Ansätze sowie Fragen der Forschungsmethoden und -ethik diskutiert. Der zweite Abschnitt widmet sich der Erörterung von relevanten Begriffen und Konzepten im Bereich der Flucht- und Flüchtlingsforschung. Im dritten Abschnitt liegt der Schwerpunkt auf empirischer Forschung, die sich mit Flucht und Geflüchteten in Bezug auf die handelnden Akteure und politischen Handlungsmuster befasst. Abschließend werden im vierten Abschnitt die globalen Dimensionen von Fluchtbewegungen und Politik in diesem Bereich analysiert. Zielgruppe dieses Werkes sind Forscherinnen und Forscher, Lehrende, Studierende und Interessierte aus der Praxis bzw. aus dem Handlungsfeld Fluchtmigration.

Autoren*innen und Herausgeber

Die Herausgeber*innen dieses Werkes weisen eine profunde Expertise in ihren Disziplinen und im Schwerpunkt Flucht(-migration) vor.

Dr. Tabea Scharrer ist laut Angaben der Universität Leipzig und Informationen ihrer eigenen Homepage Ethnologin, bzw. Sozialanthropologin, die zu Themen im Zusammenhang mit (erzwungener) Migration, sozioökonomischer Ungleichheit und Religion forscht. Ihr regionaler Fokus liegt auf Ostafrika, insbesondere Kenia und Somalia. Sie ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig, Postdoktorandin an der Universität Bayreuth und assoziierte Forscherin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle. Sie ist Autorin einer umfangreichen Bandbreite an Publikationen zum Thema Flucht(-Migration) in ihrem Fachgebiet vor.

Professorin Dr. Birgit Glorius ist Professorin für Humangeographie an der Technischen Universität Chemnitz und hat sich auf europäische Migrationsforschung spezialisiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Prozesse von Migration und deren Auswirkungen auf Herkunfts- und Ankunftsregionen, Transnationalismus sowie lokale Umstände der Aufnahme von Geflüchteten, Reaktionen der Aufnahmegesellschaft und lokal-regionalen Politikansätzen der Integration und Teilhabe. Ihr regionaler Fokus liegt in Ostdeutschland, Ostmitteleuropa und den Westbalkanstaaten. Glorius ist Mitherausgeberin der Z’Flucht, Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des BAMF Forschungszentrums und Mitglied des Sachverständigenrates für Integration und Migration. Sie hat zahlreiche Artikel und Buchkapitel zu diesen Themen verfasst und verfügt über eine bemerkenswerte Fachexpertise.

Dr. J. Olaf Kleist ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Demokratieförderung sowie Flucht- und Flüchtlingsforschung. Er promovierte 2012 an der Freien Universität Berlin und arbeitete als Postdoc am IMIS, Universität Osnabrück und als DFG Research Fellow am Refugee Studies Centre, Universität Oxford. Derzeit ist er am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) als Co-Leiter der Fachgruppe „Demokratieförderung und demokratische Praxis“ tätig. Er ist Mitherausgeber der Z'flucht: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Flucht- und Flüchtlingsforschung, Flüchtlingspolitik, aktive Flüchtlingsaufnahme, ehrenamtliche Flüchtlingshilfe, Flüchtlingsunterkünfte, Migration und Erinnerung. Kleist hat zahlreiche Artikel in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, ist Gründer des Netzwerks Fluchtforschung und arbeitete an verschiedenen Forschungsprojekten, darunter ein BMBF-gefördertes Verbundprojekt zum Stand der Flucht- und Flüchtlingsforschung.

Dr. Marcel Berlinghoff ist Historiker mit den Schwerpunkten Historische Migrationsforschung, Europäische Migrationspolitik, Arbeitsmigration, Humanitäre Flüchtlingsaufnahme; Privatheit und Computerisierung. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und hat sich auf Migrationspolitik, humanitäre Flüchtlingsaufnahme und europäische Zeitgeschichte spezialisiert. Er studierte Politikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte in Heidelberg, Mannheim und Barcelona (UAB). Im Jahr 2011 promovierte er in Heidelberg mit einer Dissertation zur „Europäisierung der Migrationspolitik in den 1970er Jahren – Die Anwerbestopps in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und der Schweiz“. Er hat als wissenschaftlicher Berater und Gutachter für verschiedene Organisationen wie die Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb), die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) gearbeitet. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im IMIS-Projekt „Flucht – Forschung und Transfer“ (BMBF). Er ist auch Forschungskoordinator am IMIS und Verbindungsstelle für die Forschungsgemeinschaft des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM-FG; BMFSFJ), Co-Koordinator des DFG-Netzwerks Grundlagen der Flüchtlingsforschung und Redaktionsmitglied des FlüchtlingsforschungsBlogs und Mitherausgeber der Zeitschrift für Flüchtlingsforschung (Z'Flucht).

Entstehungshintergrund und Aufbau des Buches

Das Handbuch Flucht- und Flüchtlingsforschung stellt den umfangreichen Versuch dar, die nach 2014 multi-disziplinäre und rasante Entwicklung der Forschung zum Thema Flucht(-migration) auf den aktuellen Stand (Die Artikel wurden v.a. 2022 verfasst, hauptsächlich vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine) zu bringen. Laut den Herausgebenden markiert dieses Werk einen bedeutsamen Meilenstein in der Erfassung der Flucht- und Flüchtlingsforschung, da es die Möglichkeit bietet, verschiedene Ansichten und Perspektiven auf dieses Forschungsfeld in einem Buch vorzufinden. Die vielfältigen Beiträge sollen einen umfassenden Einblick in die zentralen Aspekte dieses Themas ermöglichen und dienen als Ausgangspunkt für wissenschaftliche Untersuchungen. Gleichzeitig bieten sie einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen und Forschungslücken, die zur Anregung neuer Fragen und Ideen führen sollen. In ihrer Gesamtheit stellen die Beiträge einen Überblick über das sich in den letzten Jahren stark differenzierende und spezialisierende Forschungsfeld dar.

Das Handbuch richtet sich, als Nachschlagewerk und Herausgeberwerk von Experten*innen konzipiert, an verschiedene Zielgruppen: Einerseits ist es für Forscher*innen und Lehrende gedacht, die bereits mit der Flucht- und Flüchtlingsforschung vertraut sind und nach Zusammenfassungen wichtiger Themen suchen. Zudem soll es als umfassende Einführung in das Forschungs- und Themengebiet Flucht(-migration) verstanden werden. Das Werk dient als Orientierung für Studierende und Praktiker*innen, die eine im Bereich Flucht und Geflüchtete benötigen. Es wurde von Experten für (zukünftige) Experten verfasst und sollte von Forschern und Praktikern in diesem Bereich als unverzichtbares Nachschlagewerk genutzt werden, um sich effizienter in diesem Forschungsfeld zu bewegen (Scharrer et al. 2023, S. 21–22).

Inhalt

Mit 882 Seiten ist das vorliegende Werk mindestens als umfangreich zu beschreiben. Eine Erfassung der Inhalte im Detail und Textform ist als wenig verständlich zu erachten, daher erfolgt eine ledigliche Aufzählung. Das Buch ist in vier Themengebiete unterteilt:

Teil 1 – Forschungsansätze

Die Flucht- und Flüchtlingsforschung wird hier als ein eigenständiges Forschungsfeld betrachtet, das in einer breiten wissenschaftlichen Landschaft verankert ist und mit speziellen ethischen und methodischen Herausforderungen konfrontiert ist. Die Beiträge in diesem Abschnitt beleuchten die historischen, theoretischen und konzeptionellen Ansätze sowie die wichtigen akademischen Diskussionen in Bezug auf dieses Forschungsfeld. Dabei werden die vielfältigen und anspruchsvollen disziplinären Zugänge und ihre jeweiligen Perspektiven auf das Forschungsthema berücksichtigt. Zusätzlich beschäftigt sich dieser erste Abschnitt des Handbuchs ausführlich mit den komplexen methodischen und ethischen Fragestellungen, die Forscher in der Flucht- und Flüchtlingsforschung herausfordern.

1.1 Interdisziplinäre und disziplinäre Zugänge

  • Refugee and Forced Migration Studies: Flucht- und Flüchtlingsforschung im internationalen Kontext
  • Migrationsforschung
  • Friedens- und Konfliktforschung
  • Geschichtswissenschaft
  • Soziologie
  • Ethnologie
  • Politikwissenschaft
  • Geographie
  • Psychologie
  • Literaturwissenschaft
  • Soziale Arbeit
  • Kommunikationswissenschaft

1.2 Forschungsmethoden und Forschungsethik

  • Qualitative Forschung
  • Partizipative Forschung
  • Multilokale Forschung
  • Digitale ethnografische Methoden
  • Mehrsprachigkeit und Übersetzung
  • Quantitative Forschung
  • Operationalisierung von Flucht in Sekundärdaten
  • Big Data
  • Mixed Methods
  • Forschungsethik
  • Eurozentrismus
  • Wissenstransfer

Teil 2 – Begriffe und Themen

Dieser Teil des Handbuchs präsentiert einen Überblick über Begriffe und Themen, die laut Einschätzung der Herausgebenden von besonderer Bedeutung für die Forschung im Bereich Flucht(-migration) sind und auch in den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zur Thematik eine zentrale Rolle spielen. Das Hauptziel dieses Abschnitts besteht darin, eine umfassende Analyse der Begriffe, ihrer Herkunft und Verwendung sowie der zentralen Debatten zur Begriffsverwendung anzubieten. Die Autoren und Autorinnen dieses Teils führen grundlegende Definitionen der ausgewählten Begriffe an, beschreiben ihre Entstehung, erläutern ihre Verwendung in verschiedenen disziplinären Kontexten und geben einen Überblick über relevante Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit den erklärten Aspekten.

  • Agency
  • Recht auf Asyl
  • Asyl-Migrationsnormen-Nexus und Mixed Migration
  • Binnenvertriebene
  • Bootsflüchtlinge
  • Camp/Lager
  • Deservingness
  • Diaspora
  • Emotionen und Erinnerung Flüchtling – historische Perspektive
  • Flüchtling – rechtliche Perspektive Flüchtling -sprachliche Perspektive
  • Gastfreundschaft
  • Gender
  • Gewaltmigration
  • Grenzen und Grenzregime Integration
  • Im-/Mobilität
  • Klimaflüchtlinge
  • Religion
  • Resilienz
  • Schleusen und Menschenschmuggel
  • Transnationalität
  • Traumatisierung
  • Vulnerabilität

Teil 3 – Gegenstand der Flucht- und Flüchtlingsforschung

Der dritte Teil des Handbuchs bietet einen Überblick und Einblick in das vielschichtige Forschungsfeld der Flucht- und Flüchtlingsforschung. Die vorzufindenden Abschnitte dieses Teils behandeln die Akteure und Institutionen, die in der Flüchtlingspolitik und -aufnahme tätig sind, und behandeln dann Kategorisierungen und Gruppenbegriffe im Diskurs über Flucht. Danach werden politische Ansätze und Handlungsmuster zur Regulierung des Schutzes und der Mobilität von Schutzsuchenden vorgestellt. Schließlich werden zentrale Begriffe präsentiert, die im Zusammenhang mit der Aufnahme von Geflüchteten sowohl in wissenschaftlicher, politischer als auch praktischer Hinsicht von Bedeutung sind.

3.1 Akteure und Institutionen

  • Internationale Flüchtlingsregime
  • Internationale Organisationen
  • Bundesländer und innerstaatliche Regionen
  • Kommunen
  • Zivilgesellschaft

3.2 Gruppen und Kategorisierungen

  • Frauen in Fluchtsituationen Männer* und Männlichkeiten
  • Unbegleitete minderjährige Geflüchtete
  • LGBT* Geflüchtete
  • Intersektionen von Flucht und Behinderung
  • Familie und Familalität

3.3 Regulierung von Schutz und Mobilität

  • Asylpolitik
  • Resettlement
  • Rückkehr
  • Abschiebung
  • Externalisierung
  • Fluchtursachenvermeidung
  • Verantwortungsteilung
  • Sichere Herkunfsstaaten
  • Internationale Abkommen
  • Irregularität
  • Seenotrettung
  • Flucht und Diplomatie
  • Gewalt

3.4 Strukturen und Praxis der Aufnahme

  • Aufnahmeverfahren
  • Arbeitsmarkt
  • Schule und schulische Bildung
  • Residenzbevölkerung
  • Diskriminierung und Rassismus
  • Sprache
  • Gesundheit
  • Unterbringung und Wohnen
  • Flucht und Kriminalität
  • Mediendiskurse

Teil 4 – Regionen

In diesem Abschnitt wird die geographische Dimension von Flucht(-migration) behandelt und ein Überblick über Entwicklungen in verschiedenen Weltregionen geboten. Insbesondere konzentriert sich dieser Teil des Buches auf Flucht- und Migrationskontexte sowie die Aufnahme von Geflüchteten außerhalb des deutschsprachigen Raums. Die Darstellung für jede Region umfasst sowohl die Fluchtgeschichte und das Fluchtgeschehen innerhalb dieser Gebiete als auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für (Flucht-)Migration und die Aufnahme von Geflüchteten. Der Schwerpunkt liegt nicht auf aktuellen Ereignissen, sondern soll mit Hilfe einer historischen, rechtlichen und politischen Kontextualisierung für mehr Verständnis der Gegenwartssituation sorgen.

Afrika

  • Afrikanische Flüchtlings- und Migrationspolitik – ein Überblick
  • Nordafrika
  • Ostafrika
  • Westafrika
  • Südliches Afrika

Naher und Mittlerer Osten

  • Naher Osten (Westasien)
  • Arabische Halbinsel
  • Afghanistan

Asien und Ozeanien

  • Südasien
  • Zentralasien
  • Ostasien
  • Südostasien
  • Australien und Ozeanien

Amerika

  • Südamerika
  • Karibische Inseln
  • Zentralamerika
  • Nordamerika (Kanada und USA)

Europa

  • Südeuropa
  • Südosteuropa
  • Osteuropa
  • Ost-Mitteleuropa – Fallbeispiel Polen
  • West-Mitteleuropa
  • Nordeuropa
  • Vereinigtes Königreich und Irland

Aufgrund der fachlichen Ausrichtung des Autors dieser Rezension (Soziale Arbeit, Sozialpädagogik, Pädagogik – im Kontext von Flucht und Religion/​Spiritualität) wären fachliche Einlassungen zu allen oder fachfremden Bereichen dieses Werkes inadäquat und anmaßend. Jedoch soll sich zwei Abschnitten inhaltlich-analytisch gewidmet werden: Erstens, dem Kapitel 1.1.11 „Soziale Arbeit“ von Albert Scherr und Helen Breit (S. 127–135) und zweitens, dem Kapitel 2.20 „Religion“ von Alexander-Kenneth Nagel (S. 339–344).

Soziale Arbeit

Die vorliegende Abhandlung gibt einen Überblick über die Dimensionen und die Etablierung/​Entwicklung der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten. Nach einer Einleitung mit einem Abriss der historischen und verständnis-theoretischen Verortung in der Disziplin Soziale Arbeit widmet sich eine Abhandlung der Etablierung der Sozialen Arbeit mit Menschen mit Fluchterfahrung als eigenständiges Handlungsfeld in dieser Disziplin. Im dritten Teil werden Optionen, Grenzen und Dilemmata in diesen Dimensionen analysiert, die sich mit Teilhabe-(Un-)Gerechtigkeit von Geflüchteten, Erzwungener Ausreise (=Abschiebung) und den Einschränkungen bzw. begrenzenden Handlungsspielräumen in der Sozialen Arbeit näher beschäftigen. Der vierte Abschnitt erörtert die Problematik der Sozialen Arbeit mit Menschen, die einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben und am Ende des Kapitels wird ein Resümee des sozial-arbeiterischen Handlungsfeldes verfasst, dass dieses knapp, aber konkret mit seinen Herausforderungen beschreibt.

Religion

Der vorliegende Abschnitt dient als zusammenfassender Artikel über die Diskurse zur Thematik Religion und religiöser Diversität im Kontext von Flucht(-migration). Im einleitenden Teil erläutert der Autor die Bedeutung von Religion als sogenannten Differenzmarker und den drei Schwerpunkten des vorliegenden Kapitels: Religiosität als Merkmal von Geflüchteten, Religiöse Diversität im Kontext der Aufnahme und die Rolle religiöser Akteure in der Geflüchteten-Hilfe. Der erste Teil beschreibt und analysiert die Religionszugehörigkeit von Geflüchteten und weist auf die Bedeutung der Rolle von religiöser Anbindung und Prägungen hin und skizziert Religion als Ressource. Der darauffolgende Abschnitt erörtert Aspekte der Religion in der Beziehung von Aufnahme und Asylverfahren, wie zum Beispiel Religion in Geflüchteten-Unterkünften, bei interreligiösen Konflikten oder Aspekten des Taufbegehrens und der Konversion. Der abschließende Teil des Kapitels erläutert die Rolle der Religion und religiösen Gemeinschaften bzw. der religiösen Motivation von Menschen, die sich in der Geflüchteten-Hilfe engagieren.

Diskussion

Im Allgemeinen die inhaltliche Struktur dieses Buches positiv hervorzuheben, die tatsächlich trotz des Umfangs ermöglicht, einen konkreten Begriff, eine spezifische Methode oder Problematik zu finden und nachzuschlagen (mit der digitalen Variante wahrscheinlich noch besser). Die Texte sind im Umfang ansprechend gehalten, sodass sie lesbar und verständlich sind. Somit wird das Herausgeberwerk seinem Anspruch gerecht, gebündeltes Fachwissen für eine breite Leserschaft anzubieten. Sowohl für Studierende und Fachwissenschaftler*innen sind die Texte aufklärend und als Überblick bzw. Metaskizzierungen im jeweiligen Kontext zu bewerten. Die Expertise der Beitragenden schließt an die Fachexpertise der Herausgebenden an, wie die Beiträge von Annette Korntheuer oder Daniel Diekmann und Karim Fereidooni zeigen.

Das Handbuch Flucht- und Flüchtlingsforschung ist insgesamt als Meilenstein der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Flucht-Migration zu bewerten, denn dem Autor ist bis zu diesem Zeitpunkt kein vergleichbares Werk bekannt. Klar ist, dass es weitere Auflagen mit Erneuerungen und Ergänzungen geben wird, um immer den aktuellen Stand der Forschung und Disziplinen zu erfassen und abzudecken (wie zum Beispiel sich verändernde Faktoren wie den Ukraine-Krieg oder neue Forschungserkenntnisse oder Diskursverschiebungen) sowie der Widmung von spezifischen Sub-Gruppen, wie ältere Geflüchtete oder Überlebenden Opfern des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung (Chenoweth und Burdick 2001;Atwell et al. 2007; Ryan et al. 2008; Mölsä et al. 2014; Chemali et al. 2018; Blöcher et al. 2020a; Blöcher et al. 2020b; Sander 2020; Wells et al. 2020).

Die exemplarisch begutachteten Kapitel sind absolut treffend und fachlich ansprechend ausgearbeitet – stehen ihrer Autoren ebenfalls für eine ausgesprochen respektable Expertise in ihrem Fach. An diesen kann festgehalten werden, dass Vertiefungen möglich sind und in weiteren Auflagen erweitert werden könnten.

So ist im Teilbereich der Sozialen Arbeit seit 2014 ein umfangreiches Kompendium am Analysen und Handreichungen entstanden, welches eine Erweiterung des Kapitels bedingen wird, da es u.a. neue oder zu ergänzende Erkenntnisse, Konstellationen und Positionen zu diversen Zielgruppen unter Geflüchteten gibt (siehe u.a. Han-Broich 2012; Schirilla 2016; Filsinger 2017; Frings und Domke 2017; Rehklau 2017; Pfaller-Rott 2018; AWO Bundesverband e.V. 2018; Kolbe und Surzykiewicz 2019; Kolbe 2021a; Kolbe 2021b; Kolbe et al. 2022; Kolbe und Heller 2023).

Ähnlich verhält es sich auch in der Dimension Flucht und Religiosität bzw. Spiritualität (R/S): Die ausgewählten Aspekte könnten u.a. durch Forschungserkenntnisse über die Funktion von Religion, Religiosität und Spiritualität im Kontext von Flucht-Migration als Coping-Mechanismus, als Integrationsfaktor, als Ressource von Gesundheit und Wohlbefinden, als Bedürfnis von Geflüchteten sowie bei Analysen der religiösen Akteure und religions-bezogenen Risikofaktoren (z.B. religiöser Extremismus oder R/S als Instrument des Menschenhandels) erweitert werden (siehe u.a. Schweitzer et al. 2007; Orosa et al. 2011; Naja et al. 2016; Kleibl et al. 2017; Buber-Ennser et al. 2018; Carlsson und Sonne 2018; Ginesini 2018; Pandya 2018; Alzoubi et al. 2019; Cantekin 2019; Maier und Surzykiewicz 2021; Kolbe et al. 2022)

Insbesondere Studierende, Praktiker*innen aus helfenden Berufen, Ehrenamtlichen und Wissenschaftler*innen mit Schwer- oder Berührungspunkten der Thematik Flucht(-migration) erhalten mit diesem Buch die Möglichkeit, die bis zu seinem Erscheinen nicht unbedingt gegeben war: Die meisten Notwendigen Informationen, Perspektiven und Erklärungen an EINEM Platz. Das erspart Zeit in der Recherche und vor allem ermöglicht es das spontane Nachschlagen und Überprüfen von themen-spezifischen Kontexten und Bedeutungen (und somit auch Kosten für den Erwerb vieler einzelner Werke). Die Lektüre ist aber auch interessierten Laien und besonders Personen anzuraten, denen nicht selten Expertise, Verständnis und Fachwissen fehlen, die aber häufig und gerne annehmen, den Diskurs um Flucht(-migration) adäquat führen zu müssen.

Fazit

„Flucht- und Flüchtlingsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium“ – Ein unhandliches Handbuch, dass jedoch in jedem Handapparat einer Bibliothek eine prominente Position verdient. Auch wenn Gewicht, Seitenzahl und inhaltlicher Umfang (sowie möglicherweise der stolze Preis) des Buches zunächst abschreckend wirken könnten und zum oben positionierten Wortspiel einladen, so ist dieses Werk dringend zu empfehlen.

Literaturverzeichnis

Alzoubi, Fatmeh Ahmad; Al-Smadi, Ahmed Mohammad; Gougazeh, Yazeed Mohammad (2019): Coping Strategies Used by Syrian Refugees in Jordan. In: Clinical nursing research 28 (4), S. 396–421. DOI: 10.1177/1054773817749724.

Atwell, R.; Correa‐Velez, I.; Gifford, S. (2007): Ageing Out of Place: Health and Well‐Being Needs and Access to Home and Aged Care Services for Recently Arrived Older Refugees in Melbourne, Australia. In: Intl J of Migration, H and SC 3 (1), S. 4–14. DOI: 10.1108/17479894200700002.

AWO Bundesverband e.V. (2018): Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen. Ein Leitfaden für die AWO Beratungspraxis. Berlin.

Blöcher, Jessica; Eyselein, Luisa; Kolbe, Simon; Wells, Anja (2020a): The Integration of Female Nigerian Survivors of Human Trafficking for the Purpose of Sexual Exploitation. Handbook for Practitioners. Die Integration weiblicher nigerianischer Betroffener von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Handbuch für Praktiker/​innen. Hg. v. INTAP-Proejtktteam: Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Lehrstuhl für Sozialpädagogik, SOLWODI Deutschland e.V., Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V., The Justice Project e.V., Diakonie Wien (Herzwerk) und Die Papst Johannes XXIII.Community Association (APG23).

Blöcher, Jessica; Eyselein, Luisa; Shrum, Justin; Wells, Anja (2020b): Intersectional Approach to the Process of Integration in Europe for Nigerian Survivors of Human Trafficking: Strengthening Opportunities and Overcoming Hindrances. Publication of the AMIF-funded INTAP project. Hg. v. Jessica Blöcher, Luisa Eyselein, Justin Shrum, Anja Wells und Simon Kolbe.

Buber-Ennser, Isabella; Goujon, Anne; Kohlenberger, Judith; Rengs, Bernhard (2018): Multi-Layered Roles of Religion among Refugees Arriving in Austria around 2015. In: Religions 9 (5), S. 154. DOI: 10.3390/rel9050154.

Cantekin, Duygu (2019): Syrian Refugees Living on the Edge: Policy and Practice Implications for Mental Health and Psychosocial Wellbeing. In: Int Migr 57 (2), S. 200–220. DOI: 10.1111/imig.12508.

Carlsson, Jessica; Sonne, Charlotte (2018): Mental Health, Pre-migratory Trauma and Post-migratory Stressors among Adult Refugees. In: Nexhmedin Morina und Angela Nickerson (Hg.): Mental Health of Refugee and Conflict-Affected Populations. Cham, S. 15–35.

Chemali, Zeina; Borba, Christina P. C.; Johnson, Kelsey; Khair, Sama; Fricchione, Gregory L. (2018): Needs assessment with elder Syrian refugees in Lebanon: Implications for services and interventions. In: Global public health 13 (9), S. 1216–1228. DOI: 10.1080/17441692.2017.1373838.

Chenoweth, Jeff; Burdick, Laura (2001): The Path to Integration: Meeting the Special Needs of Refugee Elders in Resettlement. In: Refuge, S. 20–29. DOI: 10.25071/​1920-7336.21244.

Filsinger, Dieter (2017): Soziale Arbeit mit Flüchtlingen. Strukturen, Konzepte und Perspektiven. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik (WISO Diskurs, 2017, 14).

Frings, Dorothee; Domke, Martina (2017): Asylarbeit. Der Rechtsratgeber für die soziale Praxis. 2. Auflage, Stand: 1. Juni 2017. Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag (Fachhochschulverlag, Band 14).

Ginesini, Giovanna (2018): Forced Migration: Trauma, Faith, and Resilience. In: Social Work & Christianity. Journal of the North American Association of Christians in Social Work 45 (5), S. 98–121.

Han-Broich, Misun (2012): Ehrenamt und Integration. Die Bedeutung sozialen Engagements in der (Flüchtlings-)Sozialarbeit. Dissertation.

Kleibl, Tanja; Kolbe, Simon; Bartosch, Ulrich (2017): Interkonfessionelle Zusammenarbeit als Möglichkeit und als Notwendigkeit. In: Rauf Ceylan und Michael Kiefer (Hg.): Ökonomisierung und Säkularisierung: Neue Herausforderungen der konfessionellen Wohlfahrtspflege in Deutschland. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 407–427.

Kolbe, Simon (2021a): Krisenmodus. Das Handlungsfeld Sozialpädagogische Beratung von Geflüchteten. In: Nikolaus Meyer und Andrea Siewert (Hg.): Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Der berufliche Alltag in Beschreibungen aus der Praxis (UTB Soziale Arbeit), S. 110–115.

Kolbe, Simon (2021b): Soziale Arbeit in der Asylberatung. In: Jan V. Wirth und Birgit Wartenpfuhl (Hg.): In Trouble. Ein Tag im Leben von Sozialarbeiter*innen aus 44 Praxisfeldern. Weinheim: Juventa Verlag ein Imprint der Julius Beltz GmbH & Co. KG, S. 379–387.

Kolbe, Simon; Heller, Lena (2023): Soziale Arbeit in der Asylberatung. In: Jan V. Wirth (Hg.): Sozialarbeiter*innen und ihr professioneller Alltag. Theorien, Konzepte, Methoden und Recht in der Praxis. Weinheim: Juventa Verlag ein Imprint der Julius Beltz GmbH & Co. KG, S. 328–337.

Kolbe, Simon; Kleibl, Tanja; Surzykiewicz, Janusz (2022): Soziale Arbeit in der Post-Migrationsgesellschaft: Die Rückbesinnung auf Religion und Spiritualität in der Begleitung von älteren Migranten*innen mit Fluchterfahrungen. In: Sozialer Fortschritt (71), S. 343–357.

Kolbe, Simon; Surzykiewicz, Janusz (2019): Germany: Social Work with Refugees – some Answers to Multifactorial Challenges. In: Monika Pfaller-Rott, Andrej Kállay und Doris Böhler (Hg.): Social Work with Migrants and Refugees. Ostrava (Eris Monographs, 5), S. 70–91.

Maier, Kathrin; Surzykiewicz, Janusz (2021): Spiritual Needs and Life Satisfaction of Refugees in Bavaria. In: Arndt Büssing (Hg.): Spiritual Needs in Research and Practice. Cham: Springer International Publishing, S. 323–348.

Mölsä, Mulki; Punamäki, Raija-Leena; Saarni, Samuli I.; Tiilikainen, Marja; Kuittinen, Saija; Honkasalo, Marja-Liisa (2014): Mental and somatic health and pre- and post-migration factors among older Somali refugees in Finland. In: Transcultural psychiatry 51 (4), S. 499–525. DOI: 10.1177/1363461514526630.

Naja, Wadih J.; Aoun, Michaelangelo P.; El Khoury, Eliane L.; Abdallah, Fabiola J. Bou; Haddad, Ramzi S. (2016): Prevalence of depression in Syrian refugees and the influence of religiosity. In: Comprehensive psychiatry 68, S. 78–85. DOI: 10.1016/j.comppsych.2016.04.002.

Orosa, Francisco José Eiroá; Brune, Michael; Huter, Katrin; Fischer-Ortman, Julia; Haasen, Christian (2011): Belief systems as coping factors in traumatized refugees: A prospective study. In: Traumatology 17 (1), S. 1–7. DOI: 10.1177/1534765609358468.

Pandya, Samta P. (2018): Spirituality for Mental Health and Well-Being of Adult Refugees in Europe. In: Journal of Immigrant and Minority Health. DOI: 10.1007/s10903-018-0717-6.

Pfaller-Rott, Monika (2018): Implikationen für die Soziale Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten. In: Monika Pfaller-Rott, Esperanza Gómez-Hernández und Hilaria Soundari (Hg.): Soziale Vielfalt. Internationale Soziale Arbeit aus interkultureller und dekolonialer Perspektive. [1. Auflage]. Wiesbaden, Germany: Springer VS (Research), S. 231.

Rehklau, Christine (2017): Flüchtlinge als Adressat_innen Sozialer Arbeit? In: Cinur Ghaderi und Thomas Eppenstein (Hg.): Flüchtlinge: Multiperspektivische Zugänge. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 305–322.

Ryan, Dermot; Dooley, Barbara; Benson, Ciarán (2008): Theoretical Perspectives on Post-Migration Adaptation and Psychological Well-Being among Refugees: Towards a Resource-Based Model. In: Journal of Refugee Studies 21 (1), S. 1–18.

Sander, Caroline (2020): Human Trafficking of Chinese women to Europe: Understanding the Specific Circumstances and Facilitating the Process of Integration. Publication of the AMIF-funded INTAP project., zuletzt geprüft am 18.11.2020.

Scharrer, Tabea; Glorius, Birgit; Kleist, J. Olaf; Berlinghoff, Marcel (Hg.) (2023): Flucht- und Flüchtlingsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos (Nomos Handbuch).

Schirilla, Nausikaa (2016): Migration und Flucht. Orientierungswissen für die Soziale Arbeit. 1. Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer (Handlungsfelder sozialer Arbeit).

Schweitzer, Robert; Greenslade, Jaimi; Kagee, Ashraf (2007): Coping and resilience in refugees from the Sudan: a narrative account. In: The Australian and New Zealand journal of psychiatry 41 (3), S. 282–288. DOI: 10.1080/00048670601172780.

Wells, Anja; Kolbe, Simon; Sander, Caroline (2020): Intersektionale Integrationsansätze für vulnerable Migrantinnen: das Beispiel weiblicher nigerianischer und chinesischer Betroffener von Menschenhandel. Social Net.Materialien. Hg. v. www.socialnet.de. online.

Rezension von
Prof. Dr. Simon W. Kolbe
Professur für Soziale Arbeit SRH Wilhelm Löhe Hochschule
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Es gibt 8 Rezensionen von Simon W. Kolbe.

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ISSN 2190-9245