Yasmine Chehata, Jinan Dib et al.: Empowerment, Resilienz und Powersharing in der Migrationsgesellschaft
Rezensiert von Elke Michauk, 27.03.2024
Yasmine Chehata, Jinan Dib, Asmae Harrach-Lasfaghi, Thivitha Himmen, Ahmet Sinoplu et al.: Empowerment, Resilienz und Powersharing in der Migrationsgesellschaft. Theorien - Praktiken - Akteur*innen.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
201 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7284-6.
D: 40,00 EUR,
A: 41,20 EUR.
Reihe: Diversität in der Sozialen Arbeit. .
Thema
Resilienz und Empowerment sind Containerworte. Wenn wir sie im Alltag benutzen, gehen wir davon aus, dass wir alle wissen, was wir darunter verstehen. So vielfältig unsere Lebensgeschichten sind, so vielfältig ist das Verständnis von Theorie und Praxis rund um die wenig eindeutig formulierten Konzeptfelder Resilienz und Empowerment. Vor diesem Hintergrund ist der Gebrauch und die Anforderungen an Projekte und/oder Organisationen, die sich den Themenfeldern zuwenden, wenig verwunderlich. Während einige sich dem Mainstream zuwenden, die Konzepte rein formal als „Keyworte“ bei der Antragsstellung verwenden, gehen andere Ansätze weiter. Sie nehmen die Wurzeln der Konzepte ernst, bauen auf diesen auf und versuchen sich in der praxisorientierten Weiterentwicklung im Sinne er einer gesellschaftlichen Transformation. Insbesondere letztgenannte beziehen sich dabei teilweise explizit, vielfach jedoch implizit, auf das weniger beforschte Themenfeld des Powersharings.
Die vorliegende explorative (Kurzzeit-)Studie wirft einen Blick in das Innere der Container, versucht Licht ins Dunkel in die Begriffs- und Konzeptdimensionen – in Theorie und Praxis – zu bringen. Dabei werden Leerstellen der Forschung aufgezeigt, Bedarfe erhoben und benannt, um daraus Forderungen zur Förderung migrantischer beziehungsweise migrantisierter Praxen sowie Strukturen in der Migrationsgesellschaft zu adressieren.
Autor:innen
Yasmine Chehata ist seit 2016 Lehrkraft für besondere Aufgaben mit dem Titel „Jugendarbeit und Jugendpolitik“ an der Technischen Hochschule Köln.
Ahmet Sinoplu ist Diplom-Sozialarbeiter und Geschäftsführer von Coach e.V. In diesem Zusammenhang ist er unter anderem Trainer für rassismuskritische und diversitätsbewusste (internationale) Bildungsarbeit.
Thivitha Himmen ist Promoventin an der Hochschule Fulda zum Themenfeld Diaspora-Development-Nexus. Sie arbeitet als Bildungsreferentin und Beraterin für Rassismus und Diskriminierung mit Blick auf die zielgruppengerechte Sensibilisierung und Weiterbildung zu Rassismus, Diskriminierung und Empowerment. Hier berät Sie zudem bei rassistischen Vorfällen.
Asmae Harrach-Lasfaghi arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Hochschule Köln in Institut für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene (KJFE). Das Institut KFJE sieht sich den Bildungs- Erziehungs- und Lernaufgaben der Individuen verpflichtet.
Jinan Dib ist Refertin bei Coach e.V. in der Empowerment Akademie. Sie arbeitet mit dem Schwerpunkt Prozessbegleitung und -entwicklung.
Nils Wenzler (Dr. phil.) ist Dipl. Sozialpädagoge und arbeitet in der Lehre und Forschung zur Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Köln. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören unter anderem macht- und herrschaftskritische Perspektiven Sozialer Arbeit sowie Diskurs-Praktiken Forschung.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Publikation entstand vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Disparitäten in der Migrationsgesellschaft. Konkret benannt werden durch die Autoren und Autorinnen „Alltagsrassismus, Antisemitismus und Gadje-Rassismus, Anti-Schwarzen-Rassismus, anti-asiatischer Rassismus, anti-muslimischer Rassismus, Verschwörungserzählungen, Homo- und Transfeindlichkeit, Antifeminismus, rechtsextreme Haltungen und Handlungen oder religiös und nationalistisch begründete Radikalisierung“ (S. 9). Vor diesem Hintergrund wendet sich die vorliegende explorative Kurzzeitstudie den Gruppen zu, die das Ziel eben jener Ausgrenzung sind und zu deren „Aufbau und Stärkung“ (S. 11) Empowerment, Resilienz und Powersharing entscheidende Strategien sind bzw. sein können. Die Konzepte werden daher als „grundlegende Alternative zu den bekannten Konzepten für und Perspektiven auf migrantisierte und rassifizierte Menschen“ beschrieben (ebd.).
Die explorative Studie kombiniert wissenschaftliche Recherche mit quantitativen und qualitativen Erhebungsmethoden. Der Durchführungszeitraum der Studie umfasste 10 Wochen. Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich, „um Probebohrungen, Überblicke, kusorische Einblicke, Beschreibungen und um eine begriffliche Auseinandersetzung“ (S. 11).
Die Veröffentlichung der Studie, als open Access (CC BY-NC-ND 4.0 Lizenz), wurde mit Hilfe der Robert-Bosch-Stiftung realisiert. Der Paperback als auch das Ebook/PDF sind im Aufbau und Inhalt identisch.
Aufbau
Die vorliegende Publikation ist in neun Kapitel gegliedert:
- Einleitung: Empowerment, Resilienz und Powersharing in der Migrationsgesellschaft
- Empowerment
- Powersharing
- Resilienz
- Akteur*innen: Wer beschäftigt sich mit Empowerment, Resilienz und Powersharing
- Praktiken von Empowerment, Resilienz und Powersharing
- Die Bedarfe und relevante Themen der Praxis
- Digitalität im Zusammenhang mit Empowerment, Resilienz und Powersharing
- Zur Förderung von Empowerment, Resilienz und Powersharing
Die Einleitung bietet einen Einblick in die Entstehung, den Hintergrund, der vorliegenden Studie sowie das bearbeitete Themenfeld. In Abgrenzung dazu folgen die Kapitel 2 bis 4 jeweils dem folgenden Aufbau: Begriffsbestimmung und Analyse der Begriffsbestimmung aus unterschiedlichen Perspektiven.
In den darauffolgenden Kapiteln wird die explorative Studie ausgewertet. In diesem Zusammenhang wird regelmäßig Bezug auf die theoretischen Ausführungen genommen.
Im Kapitel 5 ermöglichen die Autoren und Autorinnen einen Einblick in Akteur*innenlandschaft – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und geografische Ausgewogenheit – bevor sich den Praxen (Kapitel 6) zugewandt wird und daraus entstehende Bedarfe (Kapitel 7) abgeleitet werden.
In Kapitel 8 wird das Themenfeld Digitalität in den Mittelpunkt gerückt, bevor die vorliegende Publikation mit dem 9. Kapitel schließt. In diesem Kapitel wird ein Katalog „Zur Förderung von Empowerment, Resilienz und Powersharing“ vorgelegt.
Die vorliegende Publikation schließt mit Ausführungen zu den Autoren und Autorinnen sowie mit einem Literaturverzeichnis.
Inhalt
Im Folgenden werden exemplarisch die Kapitel 3 zum Themenfeld Powersharing und das Kapitel 7 „Bedarfe und relevante Themen der Praxis“ in den Blick genommen.
Während Empowerment und Resilienz auf der einen Seite oberflächliche Catchwords in Anträgen sind, sind sie zugleich kraftvoll, wird sich auf deren Wurzeln besonnen und werden sie ernst genommen. Daran anschließend wird Powersharing (3. Kapitel) als die Schaffung von Möglichkeitsräumen beschrieben. Räume, die Hoffnung machen.
Trotz der vergleichsweise dünnen Literaturlage identifizieren die Autoren und Autorinnen die Wurzeln des Konzepts in Solidarität und in einem machtkritischen Diskurs – kurz der Umverteilung von Macht und Privilegien. Damit richtet sich „Der Ansatz des Powersharing (…) an all diejenigen, die strukturell privilegiert sind und ein politisches Interesse daran haben, diese Strukturen hin zu einer gerechteren Verteilung von Macht, Zugängen, Lebens- und Beteiligungschancen zu verschieben.“ (Nassir-Shahnian 2020, hier S. 50). Die Inaugenscheinnahme des Themenfeldes erfolgt anhand von 4 Thesen wobei Bourdieus Kapitalarten explizit als Referenzpunkt herangezogen werden.
In den darauffolgenden Unterkapiteln wird Powersharing relational verhandelt:
- Powersharing – nobody knows it or nobody wants to know it (3.2.)
- Powersharing als Teil von Antidiskriminierungsarbeit (3.3.)
- Powersharing als Teil von Bildungsarbeit (3.4.)
In Powersharing – nobody knows it or nobody wants to know it wird Powersharing als „die Schwester des Empowerments (…)“ (Ha 2021b, These 1) identifiziert. Bezugnehmend auf gängige Critical Whiteness Debatten erfordere das Konzept eine selbstkritische Haltung im Sinnen einer rassismuskritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung und den eigenen Privilegien (vgl. u.a. Kechaja/Foitzik 2021). Die Anerkennung von dem, was ist und warum es so ist, wie es ist, deckt insbesondere Ressourcen und Spielräume auf, um diese mit Dritten zu teilen (ebd). Was es dazu braucht? Die Bereitschaft ein aktiver Teil gesellschaftlicher Veränderung sein zu wollen bzw. zu sein. Notwendige Veränderungen braucht es daher auf der organisationalen und strukturellen Ebene (These 2). Etablierte Regelungen, Verfahren, Zugänge, Themensetzungen, Entscheidungsprozesse usw. sind, in der Folge, einer kritischen Analyse zu unterziehen und zu verändern. Powersharing so gesehen bedeutet somit auch Sicherheit(en) aufzugeben (ebd.). Die – im Vergleich zu Empowerment und Resilienz – fehlenden, gewachsenen Wurzeln in sozialen Bewegungen, Antirassismus und Antidiskriminierungsarbeit erschweren diesen Prozess (These 3). Diese Leerstelle macht es einfach auf Empowerment, welches den Gegenüber adressiert, zurückzugreifen, statt den Blick auf das Selbst und die Institution(en), in denen der Alltag bestritten wird, zu richten (These 4). Ein solcher Ansatz jedoch erfordert Eigeninitiative und die Bereitschaft zum Hinschauen – auch wenn es weh tut (siehe Kapitel 2).
Auf dieser Erkenntnis aufbauend, verhandeln die folgenden Unterkapiteln Powersharing jeweils als Teil von Antidiskriminierung (3.3.) und Bildungsarbeit (3.4.). So wird Diskriminierung als komplexes System sozialer Beziehungen beschrieben (vgl. Scherr 2016, Bauer et al 2021, Hang 2021). Während diese über das Individuelle hinaus gehen und sich in Institutionen und Strukturen niederschlagen, findet Antidiskriminierungsarbeit vielfach auf der individuellen Eben statt. Dies macht die aktive in Augenscheinnahme der Ebene der Organisationsentwicklung notwendig. Nur so kann eine Schnittstelle für das Konzept Powersharing entstehen (vgl. S. 57f). Schnittstellen für die Bildungsarbeit zeigen sich insbesondere dort, wo die Bereitschaft da ist, bestehende Sicherheit gegen Veränderung einzutauschen. Diese Bereitschaft ermöglicht und erweitert Handlungs- und Gestaltungsspielräume im solidarischen Miteinander. Voraussetzung dafür sei jedoch das Fallenlassen des Anspruchs auf Mitbestimmung und -gestaltung und ein Solidaritätsverständnis ohne tatsächliche Bestimmung, ohne konkreten Anlass. Powersharing manifestiert sich, den Ausführungen folgend, in einer Haltung des Zuhörens, der Aufgabe, es bereits zu wissen, der Zurückhaltung… anstelle in paternalisierter Hilfe und Aktionismus.
Um das Aufbrechen der eurozentristischen Sichtweise, mit eben jener Solidarität und Ergebnisoffenheit, geht es in Power Sharing in Deeply Divided Places (3.5.). Kritisch werden dabei Lösungen nationalstaatlicher und regionaler Konflikte durch die (Re)Konstituierung und (Re-)Stabilisierung von gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung durch eine eurozentristische Perspektive sowie eine mitschwingende Gleichheitsfiktion gesehen (vgl. u.a. O'Leary 2013, Geisen et al 2013). An dieses Blitzlicht schließt sich die Forderung nach einem Möglichkeitsraum für die kritische Bestandsaufnahme, das Hinterfragen etablierten pluralistischen Demokratie und Standardbürger(innen)rechte an (vgl. Forontan 2019, Benhabib 2002, Phillips 2009).
Vor diesem Hintergrund diskutieren die Autoren und Autorinnen das Verhältnis zwischen Verantwortung und Solidarität (3.6.). In Anlehnung u.a. an Chehata (2020) geht responsibility über die individuelle Ebene hinaus was das Potenzial sozial gerechter Veränderung, im Sinne von accountability, ermöglicht. Die Freiheit und Selbstbestimmung einerseits und Marginalisierung und Reproduktion von Ungleichheit andererseits kommen in der „liquid modernity“ (Baumann 2016) zusammen; dem Tanz zwischen individueller Verantwortung für das Gemeinsame und der Verantwortung des Gemeinsamen für das Individuelle. Und so rückt die „reflexiven Machtposition“, unter Rückgriff u.a. auf Lessenich (2019: 115) und Rosenstreich (2018) in den Mittelpunkt. Eine Position, die, im Folgenden, als Geburtsort für das verantwortungsvolle und solidarische Erfassen von und Agieren in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen identifiziert wird. So gesehen bedeute Solidarität das Handeln für und mit, in und trotz der Differenz gegen soziale Missstände. Partikularinteressen weichen geteilten Interessen und Anliegen (vgl. Lessenich 20219). Ein Prozess der Machtumverteilung, der nicht nur von staatlichen Institutionen, sondern auch von Zivilgesellschaft, in den Blick genommen und vorangetrieben wird und werden sollte (vgl. Hang 2014).
Nachdem alle Kernbegriffe der vorliegenden Publikation einer näheren Betrachtung unterzogen, Akteur*innen identifiziert und Praxen in den Blick genommen wurden, wenden sich die Autoren und Autorinnen sich in Kapitel 7 den Bedarfen und relevanten Themen der Praxis zu. Basierend auf den „explorativen Probebohrung[en]“ (ebd.) wurden Bedarfe unter anderem in den Feldern Organisationsentwicklung, finanzielle Ausstattung, Beratung, Anerkennung und Forschung zusammengetragen. Neben der Sichtbarmachung von vielfältigen Lebensrealitäten und dem Aufbrechen von Narrativen sind hier die Forderung nach Fort- und Weiterbildung auf allen Ebene, die Anerkennung bestehender und der lebensweltorientierte Ausbau bereits bestehender Selbstorganisation und Organisationen zu nennen. Ein Prozess, der die Notwendigkeit von Schutzräumen offenbart und zugleich die Notwendigkeit verlässlicher prozessorientierter, niedrigschwelliger und geografische Grenzen überschreitender Förderung betont. Eine Förderung, die die Zielgruppe aktiv mit einbezieht, anstelle sie als ausschließlich Empfangende von Zuwendungen zu sehen. Felder, die mit der Einrichtung von Unterstützungsprogrammen sowie partizipativer Organisationsentwicklung eng verbunden sind.
Diskussion
Die hier besprochene Publikation liegt inhaltsgleich in einer Print- und einer Onlineversion vor. Das kostenfreie ebook/PDF kann auf der Verlagswebsite heruntergeladen werden. Die digitale Version liegt nicht in barrierefreier Form vor.
Mit den vorgelegten Ergebnissen der 10-wöchigen explorativen Studie leisten die Autoren und Autorinnen einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Auseinandersetzung mit den Konzepten Empowerment, Resilienz und Powersharing in Deutschland. Über die Begriffsbestimmung zeigen sie unterschiedliche Diskursstränge auf und unterstützen Lesende bei der Einordnung von Theorie und Praxis. Weiterhin ermöglicht die vorliegenden Publikationen einen exemplarischen Einblick in migrantische bzw. migrantisierte Strukturen. Die Autoren und Autorinnen werfen ein Spotlight auf eine ausgewählte Anzahl an Akteur*innen sowie deren Praxen in den Konzeptfeldern Empowerment, Resilienz und Powersharing. Ob sie dabei ihrem eigenen Anspruch, aus der Perspektive der Zielgruppe zu sprechen, nachkommen, kann nicht abschließend beurteilt werden. Eindeutige Kennzeichnungen von O-Tönen lassen sich ebenso wenig finden wie flächendeckende Quellangaben der Inhalte der farblich abgesetzten InfoBoxen zu den porträtierten Strukturen.
In Zentrum der inhaltlichen Auseinandersetzung stehen die Konzepte Empowerment, Resilienz und Powersharing. Lesende dürfen sich auf die theoretische Einordnung freuen, wenngleich die Theorie der Praxis hinterherhinke. Ein Zeichen dafür sei, den Autoren und Autorinnen folgend, insbesondere geringe Publikationsdichte im Allgemeinen und im Besonderen in Bezug auf das Powersharing. Ursachen hierfür werden insbesondere in der Komplexität der Praxis gesehen. Einer Praxis welche sich zur schwer durch starre Theoriekonzepte erfassen lässt. Und doch lässt sich, nicht nur im Coaching- und Beratungskontext (z.B. bei Sebastian Mauritz, dem Organisator des größten deutschsprachigen Resilienzkongress sowie im Beratungs- und Coachingbereich) eine Reihe an sogenannter grauer Literatur finden, die in zukünftigen, zeitlich länger und geografisch breiter angelegten Studien seinen Platz finden dürfte.
Zum Einstieg in die drei Themenfelder werden Lesende auf die Erkundung der kontextuell diskutierten Konzepte (Empowerment, Resilienz und Powersharing) mitgenommen. Es wird eine vielfältige Diskurslandschaft skizziert, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Neben den theoretischen Ausführungen und der Darstellung der Studienergebnisse kontextualisiert die vorliegende Publikation die großen Fragen dieser Tage. Welcher Vision vom Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft wollen wir verfolgen? Dahinter steht auch die Frage nach der Entstehung, der Verfestigung sowie dem Aufbrechen von Lebensrealitäten verkürzenden Narrativen mit Ausschlusstendenzen (u.a. Rassismus, Antisemitismus und die sich daraus ergebenden Intersektionalitäten). Die Kernfrage dahinter? Was ist unser gesamtgesellschaftlicher Entwurf vom „Guten Leben“, einem Leben basierend auf einem Wir-Gefühl, trotz oder gerade in Zeiten multipler Krisen. Und so ist die Frage und damit die vorliegende Publikation – indirekt – eine Frage nach der gesellschaftlichen Identität, ihres Framings und ihrer Fluchtlinien. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die Ausführungen ebenso ein Plädoyer für das Sichtbarmachen und die Anerkennung vielfältiger Lebensrealitäten, der Gestaltung eines Ortes der (neue) Heimat ist/werden soll – und das in einer Welt die zunehmend von Partikularinteressen ist.
Trotzt der diskursiv skizzieren Widrigkeiten bieten die identifizierten Fluchtlinien der eingeführten Konzepte Lesenden Anregungen und Impulse für eine Bestandsaufnahme. Neben der Selbstreflexion und -verortung werden indirekt Anregungen gegeben, die eigene Perspektive(n), die eigene Haltung, gegenüber Strukturen und Akteur*innen zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang ergeben sich Impulse für die Reflexion der persönlichen Eingebundenheit in die Verstrickungen von Ungleichbehandlung auf individueller und organisationaler Ebene beispielsweise durch einen Privilegiencheck.
Im Praxisteil beschränkt sich der Fokus der vorgestellten Akteur*innen – mit wenigen Ausnahmen – auf überregionale bzw. bundesweit agierende Strukturen. Im Fall von eher regional verortbaren Akteur*innen zeigt sich eine personelle Überschneidung zu den Autoren und Autorinnen der vorliegenden Publikation. Daraus entstehen regionale und sozialräumliche Leerstellen. In diesem Zusammenhang bleibt für Lesende offen, ob die Auswahl der porträtierten Akteur*innen dem Umstand der bereits vorhandenen Sichtbarkeit und damit der Verfügbarkeit von Informationen geschuldet und/oder aber auf die persönliche Eingebundenheit der Autoren und Autorinnen zurückzuführen ist.
Lesende, die sich theoretisch und/oder praktisch bereits im Themenfeld engagieren, werden von der Mehrzahl der vorgestellten Akteur*innen wenig überrascht sein. Die Mehrzahl der vorgestellten Akteur*innen sind bekannte, vielfach große, Player im Feld. Diese Tatsache mag insbesondere diejenigen Lesenden enttäuschen, die sich einen Einblick in (ausgewählte) regionale Strukturen erhofft hatten. Die Relevanz für lokale agierende Akteure, die am Ausbau des lokalen und/oder regionalen Netzwerks interessiert sind, erscheint daher eher gering. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Nicht-Benennung genutzter Datenbank(en). Während dies, unter in Augenscheinnahme aktueller gesellschaftspolitischer Umwälzungen und Debatten noch verständlich erscheint, so wäre die fehlende Interaktivität (z.B. zur Verfügung Stellung von QR-Codes bzw. Nennung von Websites) der vorliegenden Publikation vermeidbar gewesen. Interessierte Lesende sind an dieser Stelle auf sich selbst zurückgeworfen. Regionale und lokale Akteur*innen sind selbst zu identifizieren, um vor dem Hintergrund einer sozialraumorientierten Mappings Powersharing als Tu-Wort aus der Theorie in die Praxis zu bringen.
Irritieren mag Lesende, dass trotz der Unschärfe der diskutierten Konzepte, die vorgestellten Akteur*innen eben an jenen Konzepten gemessen werden; es wird versucht, sie den Kategorien zuzuordnen. Die daraus teilweise, durch die Rezensentin wahrgenommene, inhaltliche Redundanz und Oberflächlichkeit (vgl. Kapitel 5 und 6) hätte durch eine alternative in-Blicknahme minimiert werden können. Vor diesem Hintergrund kann die vorgenommene Zuordnung Lesenden – in Ermangelung eindeutigerer Kriterien der Katalogisierung – lediglich als grobe Orientierung, bei gleichzeitiger In-Kaufnahme von Unschärfe, dienen. Die durch die Autoren und Autorinnen genutzte Schablone der Zuordnung und Bewertung der Ausgeprägtheit von Empowerment, Resilienz und Powersharing scheint der Grad der Eingebundenheit der Zielgruppe selbst zu sein. In diesem Zusammenhang scheinen jedoch Diversifizierungsprozesse im Rahmen der Organisationsentwicklung bei potenziellen Allianzpartnern außen vor gelassen zu werden. Gründe hierfür könnten in der Kurzweiligkeit der explorativen Studie zu finden sein. Insbesondere erscheint dies fatal mit Bezug auf die Akteursgruppe der Bildungsreferent*innen und Wohlfahrtsverbände. Während es für die Rezensentin noch nachvollziehbar erscheint, dass Bildungsreferent*innen nicht namentlich benannt werden, verblüfft besonders die oberflächliche Betrachtung der Wohlfahrtsverbände. So werden diese durch Aussagen wie „wenige beziehen sich explizit auf die Konzepte“ charakterisiert. Von den Autoren und Autorinnen wird dabei lediglich der „Jugendbereich“ eben jener Verbände ausgenommen, denn in diesem Bereich ließen sich „einzelne Empowerment-Veranstaltungen“ finden. Aus Sicht der Rezensentin lässt sich über die Rolle von Wohlfahrtsverbänden streiten, jedoch hätte sich hier ein Blick auf die Diversifizierungsbestrebungen der Wohlfahrtsverbände gelohnt. Ebenso verwunderlich sind die nur am Rande erwähnten Gewerkschaften mit ihren Projekten des community-organizing (vgl. Alinsky in den 1930iger Jahren in Chicago), Jugend- als auch Erwachsenenbildungsangeboten sowie ihres weitreichenden überregionalen und lokalen Organisationsgrades in Dach-, Landes- und Kreisstrukturen sowie deren vergleichsweise hohe Affinität zur Netzwerkarbeit. Allianzpartner die es sich – neben anderen – nicht nur als Player mit einem Fuß in der Tür zur Politik, sondern auch mit seinen Wurzeln in der Community-Arbeit und damit mit Potenzial vielfältige Bevölkerungsgruppen zu erreichen, lohnen würde auf dem Radar zu behalten!
Einen vertiefenden Blick lohnt es sich zugleich auf das Themenfeld Digitalität zu werfen. Ein Thema welches nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken ist. Egal, ob TikTok, Youtube, Instagram und wie sie alle heißen, ein Abbild der Realität sind sie in keinem Fall. Denn Algorithmen bestimmen das, was Nutzende sehen; sie verzerren die Realität. In Zeiten von Desinformation, Fake-News, digitaler Vereinnahmung und Radikalisierung, insbesondere von Jugendlichen, rund um den Angriffskrieg in der Ukraine, die Krieg im Nahen Osten aber auch Debatten um ein Ein- und Ausschlüsse u.a. im Bereich Migration und Integration steigen die Anforderungen an Fachkräfte der Sozialen Arbeit aber auch Verwaltung. Jedoch verschwindet die Strahlkraft des Themenfeldes – trotz eigenem Kapitel – zwischen den „Bedarfen und relevanten Themen der Praxis“ (Kapitel 7) und Vorschlägen zur „Förderung von Empowerment, Resilienz und Powersharing“ (Kapitel 9). Die Ausführungen erscheinen wie ein „add-on“. Das Kapitel wirkt deplatziert vor allem weil sich die Kapitel 7 und 9 aufeinander beziehen. Mit Blick auf die Macht, die vom digitalen Raum ausgeht, fehlt an dieser Stelle die gebührende inhaltliche Einbindung und der Raum für eine intensive(re) Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang wäre, aus Sicht der Rezensentin, weniger mehr gewesen. Eine 10-wöchige explorative Studie kann eben nicht alles leisten. Für einen vertieften Einstieg in das Themenfeld Digitalität sind Lesende daher auf die (Eigen-)Recherche anderer Quellen angewiesen; Quellen lassen sich jedoch bereits direkt beim Verlag finden, der die vorliegende Publikation herausgebracht hat.
Zum Abschluss der vorliegenden Publikation werden die sich im Rahmen der Studie gesammelten Forderungen in Clustern zusammengetragen (Kapitel 9). Wenngleich mit dem Kapitel explizit Lesende angesprochen, die Verantwortung im Rahmen von Förderprogrammen und -strategien tragen, lassen sich doch eine Reihe an Überschneidungen für weitere Multiplikatoren und Multiplikatorinnen finden. Dies wird insbesondere dort deutlich, wo es um eher allgemeinere und breiter formulierte Forderungen, wie den Aufruf zum reflexiven Umgang mit wenig formalisierten Akteur*innen und Strukturen oder aber die Reflexion der eigenen Position und der eigenen Privilegien, geht. Lesenden wird – wenn auch zwischen den Zeilen – ein Angebot zur Selbstreflexion gemacht, welches zugleich Einfallstor für solidarische Förderung im Anschluss an solidarisches Netzwerken und kritische (Selbst)Reflexion, darstellt. Zugleich fällt ins Auge, dass die zusammengetragenen Forderungen nicht zwingend neu sind. Vielmehr resultiert die Mehrzahl aus den Praxen und damit Erfahrungen der zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte; aus dem Aufbau vorhandener Strukturen. So werden Leerstellen angesprochen und aufgezeigt, an denen es aus Sicht der migrantischen bzw. migrantisierten Strukturen eine praxis- und bedarfsorientierte Nachsteuerung braucht, um angemessen auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren zu können. Und so ist ein roter Faden zu erkennen: Es ist der Wunsch nach Anerkennung vielfältiger Lebensrealitäten in der Migrationsgesellschaft; die Forderung nach Teilhabe durch aktive Teilnahme in allen Lebensbereichen und auf allen Ebenen.
Lesende werden mit Impulsen für die Reflexion des eigenen Handelns sowie konkreten Ideen für Veränderungen in ihrem Arbeitsfeld ausgestattet. Was aus Sicht der Rezensentin allerdings fehlt? Praxisbeispiele wie Powersharing tatsächlich gelingen kann, Praxisbeispiele die Anknüpfungspunkte bieten, Hoffnung machen. Denn gäbe es diese nicht – auch in den Reihen der vorgestellten Strukturen – wäre dies nicht nur fatal, sondern würde die Sinnfrage auf den Plan rufen. Der Theorie-Praxistransfer leider auch hier bei den Lesenden. Und so mag sich für Personen in den o.g. Schnittstellenpositionen die folgende Frage anschließen: Wie kann das höhere Ziel wider den täglichen Anrufungen, der Gefahr von Budgetkürzungen in Zeiten immer klammerer werdender Haushalte verteidigt, gar tatsächlich angegangen werden? Wie können soziale Herausforderungen mit sozialen anstelle von sicherheitspolitischen Lösungen angegangen werden?… Denn in der vorliegenden Publikation scheinen die berechtigten und wichtigen Forderungen die bestehenden Machtverhältnissen und -kämpfe um begrenzte Ressourcen und (Um-)Verteilung (nicht nur) im Vorfeld von Förderaufrufen aus dem Blick geraten zu sein. Wenn Powersharing, bedingungslos solidarisches Handeln, mehr als ein schimmerndes Konzept sein soll, braucht es von Anfang an, auf allen Ebenen und durch alle Beteiligten einen Perspektivwechsel, um wechselseitige Eingebundenheit sichtbar und besprechbar zu machen und um so die Grundlage für bedingungslos solidarisches Handeln zu legen.
Die vorliegende Rezension könnte mit der ernüchternden Erkenntnis enden, dass die Adressaten und Adressatinnen der vorliegenden Publikation zwar hinter den Ausführungen stehen, sich engagieren wollen und dies vielleicht bereits tun, doch selbst in Sachzwängen, enger werdenden Verhandlungsräumen, gefangen sind,… Doch mit Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen vor dem Hintergrund der Enthüllungen von correctiv, bricht sich Hoffnung Bahnen. Hoffnung, dass Powersharing – auch wenn es in Theorie und Praxis schwer zu greifen erscheint – vielerorts im Kleinen und Großen bereits gelebt wird.
Powersharing, Allianzen unter Personen und migrantischen bzw. migrantisierten Strukturen „in und mit Power“ ist mehr als bedingungslos solidarisches Handeln. Es ist eine Haltungsfrage vor dem Hintergrund eines weltoffenen Menschenbildes, welches sich durch Empathie, Reflexivität, Courage, Neugier, Fehlerkultur,… auszeichnet. Für zukünftige Forschungen und Publikationen, wäre es daher eine essenzielle Aufgabe, einen Ein- und Ausblick auf Praxisbeispiele des Powersharings zu geben. Nicht nur der Publikationsdichte, sondern auch die Praxis würde es bereichern, die vielfältige Praxis, die Orte, Menschen und Strukturen in den Blick zu nehmen, Aus dieser In-Blicknahme ergäben sich zudem potenziell produktive Anknüpfungspunkte und Handlungsimpulse zu und mit andernorts bereits praktizierten Methoden und Haltungen (z.B. Co-Creation, agile Methoden, gelebte Fehlerkultur, diversitätsorientierte (Leadership) Ansätze). Fragen, die sich in diesem Zusammenhang für Akteur*innen stellen: Was sind Rahmenbedingungen, in denen Powersharing wachsen und gelingen kann? Welche Rolle spielen Personen an Schnittstellen zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft? Was waren Anlässe für ergebnisoffene, solidarische Allianzen? Was wurde andernorts bereits erreicht? Wie wurde es erreicht? Was macht Mut? Wo gab es Stolperfallen?… – In der vorliegenden Publikation bleiben die Autoren und Autorinnen Antworten auf diese Fragen – verständlicherweise – schuldig. Denn die Beantwortung dieser Fragen war nicht Ziel der vorliegenden 10-wöchigen explorativen Studie. Und doch leistet die vorliegende Publikation einen wichtigen Beitrag für die Beantwortung eben jener Fragestellungen, die wiederum Stoff für zukünftige Forschungsvorhaben bieten. Forschungsvorhaben, die sich mit partizipativen Forschungsmethoden regionalen und lokalen Akteur*innen zuwenden, um Lebenswelten, Perspektiven und Strategien im Kampf für ein gutes Leben noch plastischer, noch greifbarer, noch erfahrbarer zu machen. Das Ziel? Potenziale für praxisorientiert situative, solidarische Experimentierräume zu eröffnen, um konkrete Handlungsansätze sowie Lösungsansätze zu identifizieren.
Vor diesem Hintergrund bleibt der Rezensentin nur die Hoffnung, dass Lesende nicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit verharren bleiben, sondern sich auf die Reise der Selbstreflexion, des Sozialraummappings, der Identifikation von vielfältig aufgestellten Strukturen begeben, um Freiräume im Kleinen für das solidarisch Große zu nutzen!
Fazit
Gewinnbringend ist die Lektüre der vorliegenden Publikation für all jene, die einen tieferen theoretischen Einblick in die Konzepte Empowerment, Resilienz und Powersharing in der Migrationsgesellschaft gewinnen möchten. Einen flächendeckenden Über- und Einblick über migrantische bzw. migrantisierte Strukturen kann und möchte die vorliegende Publikation, mit Blick auf die 10-wöchige Studienphase und die hohe Fragmentierung der Strukturen, nicht geben. Wenngleich vor allem Personen in Verantwortung für Förderstrategien und -aufrufe durch die Publikation angesprochen werden sollen, sollten sie all jene lesen, die sich selbst an Schnittstellen sehen, ein Interesse an solidarischem Handeln sowie der Umverteilung von Ressourcen habenund nicht zuletzt einem „guten Leben“ für Alle als Vision in sich tragen; kurz: Die Publikation ist für all jene ein Gewinn, die aktiv für eine vielfältige, vorurteilskritische und potenzialorientierte Gemeinschaft eintreten (wollen).
Rezension von
Elke Michauk
Elke Michauk
Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (Diplom), Sozialwissenschaftlerin (MA),
selbständig arbeitende zertifizierte Coachin (https://www.linkedin.com/in/elke-michauk/)
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Zitiervorschlag
Elke Michauk. Rezension vom 27.03.2024 zu:
Yasmine Chehata, Jinan Dib, Asmae Harrach-Lasfaghi, Thivitha Himmen, Ahmet Sinoplu et al.: Empowerment, Resilienz und Powersharing in der Migrationsgesellschaft. Theorien - Praktiken - Akteur*innen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-7799-7284-6.
Reihe: Diversität in der Sozialen Arbeit. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30974.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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