Isolde Böhme, Richard Rink (Hrsg.): Frühe Spuren
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 19.09.2023

Isolde Böhme, Richard Rink (Hrsg.): Frühe Spuren. Internationale Psychoanalyse Band 18.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
320 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3271-3.
D: 36,90 EUR,
A: 38,00 EUR.
Reihe: Internationale Psychoanalyse.
Herausgeber
Isolde Böhm ist Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und arbeitet als Psychoanalytikerin und Gruppenanalytikerin in eigener Praxis. Richard Rink ist Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker und arbeitet in eigener Praxis.
Entstehungshintergrund
Sind neue Erkenntnisse über transgenerationelle Weitergabe früher Verluste, den Ursprung der Kunst in der Zwischenleiblichkeit zwischen Mutter und Fötus, frühe Formen des Begehrens, die Bedeutung von Sinneseindrücken und Geschwistern und Regressionen in Zusammenhang mit der Klimakatastrophe.
Aufbau
Nach einer Einleitung folgt ein Abschnitt I. Kulturanalyse mit einem Beitrag von Siri Hustvedt.
Es folgen II. Klinische Beiträge über mütterlichen Neid (Jill Salberg), Sinneseindrücke (Avner Bergstein), Möglichkeitsräume bei Video- und Telefonanalyse (Stefanie Sedlacek), III. Theoretische Beiträge über „Das mütterliche Bündnis“ (Lionel Bailly), Madelaine und Willy Barangers Beitrag zur Psychoanalyse (Jorge Luis Maldonado) und eine Zeitgenössische psychoanalytische Feldtheorie (Danielle Bazzi), IV. Traumatisches in Geschichte und Gegenwart mit „Der Mord am Toten Vater“ (Rosine Jozef Perelberg) und dem Film „First Reformed“ (Christopher W.T. Miler, Lindsay L. Clarkson & Donald R. Ross), V. Ein Buch-Essay zur Geschichte und Gegenwart der Psychoanalyse am Beispiel der Rezension von Translation/Transformation: 100 Jahre International Journal of Psychoanalysis Hg. D. Birksted-Breen (Giuseppe Civitarese).
Inhalt
Einleitung (Isolde Böhme & Richard Rink)
Die Autoren weisen auf die Schwierigkeiten bei der Übersetzung aus dem Englischen, Italienischen und Spanischen hin, wenn es um Klang, Rhythmus, assoziative Verwandtschaften und Familiengeschichte geht. Anschließend werden die einzelnen Beiträge vorgestellt.
I Kulturpsychoanalyse vom Lebensanfang her gedacht
Nabel-Phantome (Siri Hustvedt)
Hustvedt befasst sich mit dem pränatalen Leben, der Beziehung zwischen Mutter und Embryo über die Plazenta und die Nabelschnur, eine ‚Mischung‘ von Beziehung, die dem dualen Denken von Subjekt und Objekt und der Vorstellung von nachgeburtlicher Objektbeziehung nicht gerecht wird. Die Intoleranz für ‚Mischungen‘ hinterlässt auch Spuren im mechanistischen Denken, das die ursprüngliche ‚Verwobenheit‘ ausklammert. Diese zeigt sich jedoch in den Künsten, insbesondere in der Musik, und im Spiel als Möglichkeitsraum, nach Winnicott einem Zwischenraum zwischen Subjekt und Objekt, der gleichzeitig verbindet und trennt.
II. Klinische Beiträge
Mütterlicher Neid – ein Vermächtnis. Auf der Suche nach dem verlorenen und unbekannten mütterlichen Objekt (Jill Salberg)
Transgenerationelle Weitergabe von Traumatisierungen – hier der unverarbeitete Verlust eines mütterlichen Objekt mit der Folge eines Verlustes des inneren Repräsentanz der Mutter und einer Bindungsstörung – werden sowohl in der Folge der Generationen als auch in der schwer zu verstehenden und schwer auszuhaltenden Übertragung auf die Analytikerin geschildert. Neid, Aggression und Scham zerstören Bindungen, die gleichzeitig unbewusst gewünscht und gesucht werden. Soweit es sich um sehr frühe oder transgenerationelle Traumatisierungen in den Objektbeziehungen handelt, können diese nur aus der Inszenierung des Patienten erschlossen werden. Das zu wissen, ist im Umgang mit Traumatisierten wichtig, da diese ihre eigenen Defizite affektiv in den Beziehungen in Szene setzen in der Hoffnung, dass das ‚Abwesende‘ – hier oft ‚Mütterliche‘ – in der Übertragung verstanden und in etwas ‚Anwesendes‘, d.h. in die Fähigkeit Bindungen einzugehen, verwandelt werden kann.
„Wahrheit wird sprossen auf der Erde“. Auf der Suche nach dem verlorenen und unbekannten mütterlichen Objekt (Avner Bergstein)
Das Thema ist – in Anlehnung an Bion – sich mit ‚Intuition‘ in der psychoanalytischen Beziehung (und darüber hinaus) dem nicht verdrängten Unbewussten zu nähern. Das setzt eine besondere Aufmerksamkeit voraus, die der Logik des Unbewussten und des Bewussten folgt, unterschiedliche Modi de Erfassung von Realität; die Suche nach Bedeutungen wirkt die transformierend. Das wird an einer Fallvorstellung von Bion exemplifiziert. Wir brauchen alle Sinne, da die Intuition auf die Wahrnehmung der emotionalen Erfahrung in einem Übergangsraum von Sinneseindrücken ausgerichtet ist.
Möglichkeitsräume bei Video- und Telefonanalyse (Stefanie Sedlacek)
Theoretische Überlegungen und Darstellung einer analytischen Behandlung zeitweise im klassischen Setting, zeitweise als Fernanalyse; letztere verführte zu einer Idealisierung, die aber nach dem Übergang in ein klassisches Setting bearbeitet werden konnte. Wichtig ist, dass sich die Kommunikationsstrukturen partiell verändern, wenn die körperliche Präsenz ausfällt. Solche Überlegungen sind auch außerhalb des psychoanalytischen Settings wichtig, da bereits eine Stimme Gefühle von Sympathie und Antipathie hervorrufen kann. Sie weckt, wie auch Bilder, projektive Vorstellung von dem Anderen, die sowohl Idealisierungen als auch Entwertungen enthalten können.
III. Theoretische Beiträge: Die Geschwister und das Feld
Das Mütterliche Bündnis. Das >Gesetz der Mutter< und die Geschwisterreihe im sozialen Feld (Lionel Bailly)
Die Autorin beschäftigt sich mit dem Konflikt, wenn ältere Geschwister durch jüngere entthront werden. An der Lösung dieses Konfliktes sind vor allem Mütter beteiligt, aber nicht in Form eines – analog zum Vater – ‚mütterlichen Gesetzes‘, sondern in Form eines Bündnisses. Ein Gesetz wird von einer dritten Person durchgesetzt und gilt universell, während ein Bündnis für eine begrenzte Zahl von Parteien gilt. Im Umgang mit dem älteren Kind, das mit der Geburt eines Babys konfrontiert wird, beschwört die Mutter die Verwandtschaft, versteckt aber metonymisch das Objekt ihres Begehrens. Es ist ein Vertrag zwischen ungleichen Parteien. Bailly erinnert an die biblischen und andere ‚Bündnisse‘, die geeignet sind, unerträgliche Rivalität und Gewalt sozial zu mildern, und wirbt für das Konzept eines ‚Mütterlichen Bündnisses‘ und ‚Mütterlicher Metonymie‘.
Jorge Luis Maldonado: Madeleine und Willy Barangers Beitrag zur Psychoanalyse
Dieser Beitrag stellt die o.g. Autoren biographisch vor und deren Veröffentlichungen zu verschiedenen theoretischen Konzepten:
- Die Feldtheorie angewendet auf die psychoanalytische Beziehung
- Das Konzept der >Bastion<, die zu einem Stillstand des analytischen Prozesses führt
- Die Gefahr der Kollusion des Analytikers mit dem Analysanden
- Die Bedeutungen von alltäglichen Erlebnissen im Leben des Patienten
- Die Überbewertung von Deutungen
- Die Gefahr des Enactment im intersubjektiven Gewebe
- Der >frühe Ödipus< (Melanie Klein) und der >Ödipuskomplex< (S. Freud)
- Die wichtige triangulierende Rolle des Vaters und des ‚väterlichen Analytikers‘
- Der Zusammenhang zwischen Unaufrichtigkeit, falscher Identität und Omnipotenz
- Die Bedeutung unterschiedlicher analytischer Modelle in der analytischen Arbeit
Ansätze einer zeitgenössischen psychoanalytischen Feldtheorie (Danielle Bazzi; Von Kurt Lewin, Georges Politzer und José Bleger zu Antonino und Giuseppe Civitarese)
Die Feldtheorie, nach Kurt Lewin ‚eine Methode zur Konzeption von nicht darstellbaren tieferliegenden dynamischen Eigenschaften psychischer Vorgänge‘, ist nicht auf Interaktion sondern auf die psychische Dynamik in der Beziehung fokussiert. Diese wird von der Autorin anhand der Beiträge von Georges Politzer, José Bleger, Antonino und Giuseppe Civitarese und der Konzeption des bipersonalen Feldes von Baranger vorgestellt und ihre Anwendung in der Psychoanalyse diskutiert.
IV. Traumatisches in Geschichte und Gegenwart
Die Shoah und der zeitgenössische Antisemitismus (Rosine Jozef Perelberg)
Thema ist die Annahme, dass in der Shoah eine Abkehr vom ‚Gesetz des toten Vaters‘ und die Wiedereinsetzung eines ‚narzisstischen Vaters‘ stattfand. Nach der jüdischen Überlieferung folgten Adams und Noahs Kinder die von Abraham, Isaak und Jakob, die nach der nicht erfolgten Opferung von Isaak einen Übergang vom narzisstischen Vater zum symbolisch toten Vaters beschreibt, der geliebt und bei Verlust betrauert werden kann. Die Ordnung des Terrors in der NS-Zeit war eine legitimierte und institutionalisierte Form von Gewalt als Selbstzweck (Beispiele), die keinem Gesetz der Menschlichkeit folgt und Menschen zu ‚Abjekten‘ (Dreck, Abfall) erniedrigt: nach Meinung der Autorin eine Zerstörung der ‚Regeln von Genealogie… welche das Soziale etabliert und Personalität entstehen lässt‘ durch eine Abschaffung der väterlichen und mütterlichen Funktion. Diese sinnlose Gewalt (?), Ausdruck einer grundlegenden Destruktivität (Freud sprach von ‚Todestrieb‘), zeigt sich im anhaltenden Antisemitismus als Hass auf die väterliche Funktion des symbolischen Vaters und nach Chasseguet-Smirgel als Versuch, eine Symbiose mit der ‚Mutter Erde‘ herzustellen. Das Ziel der Shoah war, psychoanalytisch interpretiert, die Zerstörung des mütterlichen Gefühls und der väterlichen Regeln. Wie konnte der Antisemitismus als Projektion des Negativen und Konstruktion des Fremden nach Auschwitz überleben? Die Gefahr der Zerstörung einer grundlegenden symbolischen Struktur des toten Vaters und der Herrschaft eines narzisstischen Vaters ist nach wie vor gegeben.
Der Film First Reformed und die ökologische Krise. Wege zur Lähmung und Wandel (Christopher W.T. Miller, Lindsay L. Clarkson & Donald R. Ross)
Der Film First Reformed schildert anschaulich, wie Menschen aufgrund von ungelösten inneren Konflikten nicht mit sich selbst (ihrer eigenen Natur) als auch mit Ihren Beziehungen und ihrer natürlichen Umwelt zurechtkommen. Die Autoren analysieren unter psychoanalytischer Perspektive – in Anlehnung an Melanie Klein –, wie die Beziehung der drei Menschen im Film – ein Pfarrer und eine Ehepaar – aufgrund ihrer unbewussten Fantasien, angesichts von inneren und äußeren (Umwelt)-Katastrophen entweder in einen Zustand der Lähmung, der Verleugnung oder einer von Schuldgefühlen geprägten destruktiven Überaktivität geraten.
- Ein Buch-Essay zur Geschichte und Gegenwart der Psychoanalyse
Giuseppe Civitarese: Keine wörtliche Übersetzung – eher performativ… Eine Rezension von Translation/Transformation: 100 Jahre International Journal of Psychoanalysis, herausgegeben von D. Birksted-Breen. London: Routledge, 2021 (337 Seiten).
Das Buch gibt einen Überblick über die Vielfalt der historischen Beiträge, die sich auch mit dem Problem der Übersetzung – Entstellung oder Transformation? – beschäftigt haben. Es endet mit einem Plädoyer für die Musik in der Prosa und der Sprache des Patienten und des Analytikers und warnt vor einer falschen Dichotomie in Semantisches und Semiotisches. Musikalisierung bedeutet auch eine Vielfältigkeit des Sinnverstehens. In einer Synthese konvergieren Visuelles, Akustisches, Olfaktorisches, Gustatorisches, Kinästhetisches (Merleau-Ponty) psychoanalytisch in dem ‚dunklen Raum‘, der nicht Teil des Logós ist und eine spezifische Sensitivität für die nicht-semantischen Aspekte einer kommunikativen Beziehung öffnet.
Diskussion
Dieses Buch wendet sich an Psychoanalytiker und bringt eine Auswahl von interessanten internationalen Arbeiten von Autoren, die nicht nur an der psychoanalytischen Tradition sondern auch an deren Fortentwicklung engagiert sind. Die Beiträge haben ein hohes theoretische Niveau und sind für nicht psychoanalytisch geschulte Leser nicht leicht zu lesen und zu verstehen.
Wenn dennoch ein Rezension in socialnet erscheint, dann weil die Bedeutung der Inhalte weit über diesen speziellen Leserkreis hinausreicht. Beginnend damit, dass die Künste, vor allem die Musik, etwas Verbindendes haben, das an die symbiotische Beziehung mit der Mutter emotional anknüpft (Hustvedt), endet es mit dem Beitrag von Civitarese, der die Musikalität in den kommunikativen Beziehungen beschreibt.
Bindungsstörungen, eine Herausforderung in der sozialen Arbeit, sind oft ursächlich mit frühen unverarbeiteten Traumatisierungen – auch transgenerationell weitergegeben – verknüpft und können mitunter in den ‚Inszenierungen‘ von Beziehungen erkannt und bearbeitet werden (Salberg). Die Bedeutung die Intuition in Beziehungen (Bergstein) ist nicht begrenzt auf den psychoanalytischen Raum und eine nicht nur therapeutische Arbeit kann auch, falls eine Beziehung bereits entstanden ist, mit den Mitteln moderner Medien – zeitweise anstelle von Unterbrechungen – fortgesetzt werden, diese allerdings nicht ersetzen (Sedlacek).
Geschwisterkonflikte sind bekannt, weniger die wichtige Funktion der Mutter als Vermittlerin, die Grenzen setzt und Bündnisse stiftet (Bailly); dieser Beitrag weist über die Geschwisterbeziehung hinaus, denn die Bündnisfähigkeit der Mutter spielt bereits in dem sich entwickelnden Selbst des Kindes – Trotzphase – eine wichtige Rolle. Feldtheorien sind sicher allen Humanwissenschaftlern bekannt; dieser Beitrag wendet sich speziell an Psychoanalytiker (Maldonado).
Aus psychoanalytischer Perspektive gibt Perelberg unter Rückgriff auf die jüdische biblische Tradition und die Shoah Beispiele für den Übergang vom narzisstischen (mörderischen) Vater zum ‚toten Vater‘ der geliebt und betrauert werden kann und zum Symbol des Sozialen wird; er symbolisiert einen Abschied vom Gesetz des Terrors und der Gewalt und zum Gesetz der Menschlichkeit.
Angesichts von selbst verschuldeten Umweltkatastrophen analysiert der Film First Reformed die Beziehung zwischen ungelösten inneren und äußeren Konflikten, deren Ergebnis Verleugnung/Lähmung oder eine von Schuldgefühlen geprägte destruktiven Überreaktion sein kann – ein sehr aktueller Beitrag angesichts des Umgangs mit Umweltkatstrophen.
Ich bin der Meinung, dass die hier dargestellten Themen weit über den begrenzten Kreis der Psychoanalytiker wichtig sind und deshalb mindestens in den Ergebnissen, d.h. in der Anwendung im sozialen Raum bedeutsam sind. Es ist auch Teil der psychoanalytischen sozialen Verantwortung, diese Erkenntnisse zu ‚übersetzen‘ für eine an der Dynamik von Beziehungen und Konflikten interessierte sozial engagierten Personenkreis. Frei nach Brecht: Wissen verdankt seine Kostbarkeit nicht dem Besitz sondern der Mitteilung und Verbreitung. Insofern ist diese Rezension auch eine Anregung, sich mit dem ein oder anderen Beitrag eingehender zu beschäftigen.
Fazit
Insgesamt für Psychoanalytiker geeignet, aber in den Themen darüber hinaus wichtig für Menschen, die in sozialen Feldern arbeiten.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Mailformular
Es gibt 111 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 19.09.2023 zu:
Isolde Böhme, Richard Rink (Hrsg.): Frühe Spuren. Internationale Psychoanalyse Band 18. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3271-3.
Reihe: Internationale Psychoanalyse.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30975.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.