Hauke Straehler-Pohl: Lehrer:innen im Brennpunkt
Rezensiert von Mag. Dr. Gabriele Schauer, 29.02.2024

Hauke Straehler-Pohl: Lehrer:innen im Brennpunkt. Gespräche über Herausforderungen, Bewältigungsstrategien und Dilemmata des Schulalltags.
transcript
(Bielefeld) 2023.
326 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6713-4.
D: 45,00 EUR,
A: 45,00 EUR,
CH: 54,90 sFr.
Reihe: Bildungsforschung - 17.
Thema
In diesem Buch soll für die Leserschaft sichtbar und verstehbar werden, was es heißt, in einer, von der Öffentlichkeit als ›Brennpunktschule‹ bezeichneten Schule, zu arbeiten. Das Besondere hierbei ist der Zugang zur Thematik, indem nicht nach Lösungen im Umgang mit Herausforderungen gesucht wird (vgl. Oberschule an der Helgolander Straße, 2014), nicht das Verhältnis von Schule, Bildung und urbaner Segregation (vgl. Fölker et al., 2015) aufgezeigt wird oder auf schulische Ordnung und Subjektivierung (vgl. Hagedron, 2014) eingegangen wird. Vielmehr kommen Lehrpersonen zu Wort. Der Autor fasst diese Erfahrungen zusammen, ordnet sie und strukturiert die Aussagen, um „dramatische Erzählmuster“ (S. 13) zu unterbrechen und zu einem Verständnis über die verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen bezogen auf das Handeln und Arbeiten in ›Brennpunktschulen‹ zu gelangen.
Autor
Dr. phil. Hauke Straehler-Pohl arbeitet an der Freien Universität Berlin im Arbeitsbereich Mathematische Bildung und Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben der Soziologie, narrativen Zugängen, einer Ideologiekritik und Lernumgebungen im Mathematikunterricht auch auf Unterricht im Kontext von Segregation und Exklusion.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist auf Basis von einem halbstrukturierten erzählgenerierenden Einzelinterview und acht Gruppendiskussionen mit 26 Lehrer:innen entstanden, die an sieben Berliner Integrierten Sekundarschulen arbeiten. Vorrangig soll mit diesem Buch sichtbar gemacht werden, was es bedeutet Lehrer:in im ›Brennpunkt‹ zu sein. Es geht weniger um ein wissenschaftliches Verständnis, sondern um eine kritisch-distanzierte, aber nachvollziehbare Haltung gegenüber den Lehrer:innen. Dies versucht der Autor und Erziehungswissenschaftler über das Ordnen, Vergleichen und Herausarbeiten von Perspektiven aus den Gesprächsprotokollen sowie durch ein 70-seitiges einführendes Kommentar.
Aufbau
Zu Beginn wird einleitend erklärt, wie das Buch strukturiert ist. Dabei wird sowohl auf das Ziel der Publikation eingegangen als auch auf das methodische Vorgehen und die Schwerpunkte, die in den Ausführungen gesetzt wurden, nämlich Positionen und Perspektiven zu klären.
In einem ersten Teil führt der Autor Überlegungen zu Themen und dem Aufbau des Buches aus. Dabei nimmt er Lehrer:innen in den Fokus und geht zuerst ausführlich auf Positionen, auf Ambivalenzen des Begriffs ›Brennpunkt‹ oder auf Identifikationspotenziale für Lehrpersonen und die damit einhergehenden Probleme ein. Daraufhin wird noch einmal begründet, warum in diesem Buch von ›Brennpunkt‹ gesprochen wird. In einem weiteren Kapitel werden wiederum verschiedene Ambivalenzen formuliert. Weiterhin geht der Autor darauf ein, warum am Ende des Buches eine Lehrperson mit ihren Tagebucheintragungen zu Wort kommt. Abschließend wird das methodische Vorgehen mit den Gesprächsprotokollen begründet.
Im zweiten Teil des Buches werden in neun Unterteilungen die Gespräche der Lehrpersonen in geordneter und zusammengefasster Weise dargestellt und dabei anfangs immer mit Zitaten versehen.
Der dritte Teil zeigt Gedanken einer Lehrerin durch ausführliche Tagebucheinträge.
Inhalt
Wie aus der Beschreibung des Aufbaus des Buches ersichtlich wird, gliedert sich das Buch in drei Teile.
Im ersten Teil geht Hauke Straehler-Pohl zuerst auf Ambivalenzen ein und betont hier die defizitäre Perspektive, aber auch die Euphemismen. Festgemacht wird dies zum Beispiel an den Begriffen „Hilfsschule“, „Brennpunktschule“ und „Förderschule“. Dabei wird unter anderem auf Vermeidungsstrategien eingegangen, indem eine potenzialorientierte Etikettierung mit dem Begriff „Bonusschule“ ausgedrückt wird und gleichzeitig erwähnt wird, wie abstrus diese Formulierung sei.
Auf die Identifikationspotenziale wird eingegangen, indem Lehrpersonen ihre Arbeitsplätze und gleichzeitig auch ihre Rolle darin beschreiben. So wird einerseits die Rolle als Lehrkraft im Brennpunkt angesprochen, andererseits die Rolle als Privatperson außerhalb des Brennpunkts. Zudem wird auf die „Habitussensibilität“ (S. 27ff) verwiesen. Damit gibt es eine „positionsbedingte“ Andersartigkeit der Lehrperson gegenüber Schüler:innen und die dadurch gegebene Einschränkung der Verständnismöglichkeit. Dabei werden Fragen aufgeworfen wie: sollen sie die „Codes des Ghettos“ für ein besseres Verständnis erlernen, wenn sie dies ja andererseits auch unterbinden sollen? In den Ausführungen wird auch auf Beispiele wie eine dominante Männlichkeit, das Verhalten in der Moschee oder auf das Leben mit einer alkoholabhängigen Mutter eingegangen. Dabei inszenieren Schüler:innen ihre Identität und Lehrpersonen reagieren mit Zuschreibungen, wobei dies ein Wechselspiel darstellt. Dadurch verlangt der Kontext der Brennpunktschulen den Lehrpersonen sowie den Schüler:innen ab, sich in dem komplexen und ambivalenten Zusammenspiel aus wechselseitigen Inszenierungen und Zuschreibungen zu orientieren und zu verhalten. Als hilfreich für den Umgang damit nennt Hauke Straehler-Pohl bezahlte Arbeitszeit für gemeinsame professionelle Reflexionen.
So wird durchgängig immer wieder auf Ambivalenzen, auf den Konflikt mit dem eigenen pädagogischen Ethos, auf die Rolle der Lehrperson (als Lehrerpersönlichkeit vs. Sozialpädagoge) und auf die Frage der Verantwortung eingegangen.
Nach der Darstellung des methodischen Vorgehens, bei der Überlegungen zur Stichprobe sehr selbstkritisch vorgenommen werden, werden im zweiten Teil des Buches die Gespräche der Lehrpersonen zusammengefasst. In logischer Folge werden auch hierbei Ambivalenzen aufgegriffen, indem etwa Widersprüche innerhalb der Lehrpersonen thematisiert werden, aber auch Widersprüche im Sozialraum oder Widersprüche durch die Strukturen des Schulsystems. Zudem wird auf Entwicklungsmöglichkeiten durch denkbare Reifung nach der Schule, aber auch auf Verhinderung einer solchen aufgrund eines fehlenden Abschlusses eingegangen.
Sehr packend und emotional ergreifend, aber auch für Verständnis sorgend, ist der dritte Teil, indem eine Lehrperson über die Erfahrungen im schulischen Alltag in Tagebuchaufzeichnungen berichtet. Neben ernüchternden Schilderungen und frustrierenden Erlebnissen sowie Enttäuschung und Müdigkeit zeigt sich in den Äußerungen immer wieder die Hoffnung und das zugrundeliegende Engagement.
Diskussion
In dem Buch geht der Autor sensibel mit dem Gegenstand ›Brennpunkt‹ bzw. ›Brennpunktschulen‹, aber vor allem wertschätzend mit den beteiligten Lehrpersonen um. So fokussiert er nicht Typenbildungen oder das Aufheben oder Begründen von stereotypen Zuschreibungen oder gar das Finden von Lösungen. Es geht vielmehr um das Zu-Wort-kommen-lassen von Lehrer:innen mit ihren Herausforderungen, Sorgen, aber auch positiven Erlebnissen und damit um das Thematisieren von Kontextbedingungen für ein besseres Verstehen. Dabei verwendet der Autor immer wieder Verweise zu anderen Studien, um eigene Begründungen zu untermauern.
Hervorgehoben werden im Buch Ambivalenzen. Dabei zeigt der Autor auf, dass durch ein ständiges Hinterfragen des eigenen Handelns eine gewisse Handlungsunfähigkeit entsteht und andererseits dieses Lehrer:innenhandeln geprägt ist von einer dilemmahaften Struktur, bei der sich „vermeintlich richtige Entscheidungen als (ebenso) falsche herausstellen“ (S. 45) können. Dies scheint aber nicht unbedingt spezifisch für das Handeln von Lehrpersonen in Brennpunktschulen zu gelten, sondern eine prinzipielle Herausforderung im schulischen Alltag von Lehrpersonen zu sein (vgl. Helsper, 2009; Prengel, 2019). Trotzdem wird dies in den Ausführungen besonders für Brennpunktschulen hervorgehoben.
Der Aufbau des Buches ist an manchen Stellen ein wenig verwirrend. So wird in der Einleitung über die Entstehung des Buches gesprochen, dann auf die verschiedenen Perspektiven und Ambivalenzen eingegangen, anschließend wiederum auf die Verwendung von Begriffen verwiesen. Im nächsten Abschnitt werden wieder Ambivalenzen angesprochen und anschließend eine Begründung für die Implementierung des Tagebuchs formuliert sowie der methodische Zugang zu den Gesprächsprotokollen dargestellt. Damit wechseln sich im ersten Teil des Werkes methodische, inhaltliche und strukturelle Ausführungen immer wieder ab und ein stringentes Hindurchführen des Lesers durch die Inhalte wird nicht immer klar. Zudem endet das Buch nach dem Tagebuch sehr abrupt. Hier wären Ausführungen des Autors für das Abrunden der Publikation wünschenswert.
Insgesamt liest sich das Buch aber flüssig, einerseits durch die wertschätzenden, aber auch kritischen Überlegungen, die mit Beispielen und Zitaten untermauert werden, andererseits durch die Vorarbeit des Autors, indem die Gesprächsprotokolle geordnet und interpretiert werden. Trotz einer „Verfälschung“ der Originalworte der Lehrer:innen wird durch die Beschreibung des methodischen Vorgehens Transparenz erzeugt, sodass die thematische Bündelung dazu beiträgt, die Erfahrungen der Lehrpersonen sichtbar zu machen.
Fazit
Das Buch „Lehrer:innen im ›Brennpunkt‹. Gespräche über Herausforderungen, Bewältigungsstrategien und Dilemmata des Schulalltags“ beinhaltet genau das, was im Untertitel thematisiert wird. Es kommen Lehrpersonen zu Wort und der Autor versucht die genannten Herausforderungen, Dilemmata und Erfahrungen entsprechend zusammenzufassen und zu ordnen. Zudem werden vertiefend Perspektiven und Positionierungen von Lehrpersonen aufgearbeitet und damit die Ambivalenzen in der Arbeit mit Schüler:innen in ›Brennpunktschulen‹ fokussiert. Der Autor hält dabei selbst fest, dass es nicht um wissenschaftliche gesicherte Aussagen und Ergebnisse geht, sondern um ein Sich-Hineinversetzen und Verstehen. Trotz einer teilweise nicht leicht zu fassenden Logik des Buchaufbaus gelingt dieses Sichtbarmachen.
Literatur
Fölker, Laura; Hertel, Thorsten; Pfaff, Nicolle (Hg.) (2015): Brennpunkt(-)Schule. Zum Verhältnis von Schule, Bildung und urbaner Segregation. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich.
Hagedron, Jörg (Hg.) (2014): Jugend, Schule und Identität. Selbstwerdung und Identitätskonstruktion im Kontext Schule. Wiesbaden: Springer.
Helsper, Werner (2009): Autorität und Schule – zur Ambivalenz der Lehrerautorität. In: Susanne Lüdemann, Christiane Thompson und Alfred Schäfer (Hg.): Autorität. Boston: BRILL (Pädagogik – Perspektiven Ser), S. 65–83.
Lüdemann, Susanne; Thompson, Christiane; Schäfer, Alfred (Hg.) (2009): Autorität. Boston: BRILL (Pädagogik – Perspektiven Ser).
Oberschule an der Helgolander Straße (2014): An der Brennpunktschule – was nun? Best-Practice-Beispiele für den Umgang mit besonderen Herausforderungen. Mülheim an der Ruhr: Verl. an der Ruhr.
Prengel, Annedore (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Rezension von
Mag. Dr. Gabriele Schauer
tätig an der Universität Innsbruck am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung
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