Alexandra Scheele, Stefanie Wöhl (Hrsg.): Feminismus und Marxismus
Rezensiert von Christopher Grobys, 13.09.2024
Alexandra Scheele, Stefanie Wöhl (Hrsg.): Feminismus und Marxismus.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
2. Auflage.
274 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7232-7.
D: 35,00 EUR,
A: 36,00 EUR.
Reihe: Arbeitsgesellschaft im Wandel. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779930549.
Thema
Der Band widmet sich den Interdependenzen zwischen Feminismus und Marxismus und sucht nach weiterführenden Möglichkeiten, den Antagonismus beider gesellschaftskritischer Theoriefamilien zu überwinden und Potenziale gegenseitiger Modifikationen auszuloten, ohne die bestehenden Widersprüche einseitig aufzulösen.
Autorinnen
Alexandra Scheele ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen neben der Soziologie der Arbeit und den Geschlechterverhältnissen, Krisendynamiken und sozialen Ungleichheiten in Europa.
Stefanie Wöhl ist Professorin für Politikwissenschaft im Studiengang Europäische Wirtschaft und Unternehmensführung an der Fachhochschule des BFI Wien. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die Transformation von Staatlichkeit und Demokratie in der Europäischen Union sowie die Internationale Politische Ökonomie der Geschlechterverhältnisse.
Aufbau & Inhalt
Alexandra Scheele und Stefanie Wöhl (S. 7–25) eröffnen den Band mit einer Einleitung. Sie konstatieren darin das Comeback des Marxismus seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2008 und bringen die Kernfrage des Buches auf den Punkt: Diese lautet, „welche feministischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert mit dem Marxismus und seiner Rezeption verbunden sind“ (S. 8). Anschließend wühlen sie sich durch die Etappen der feministischen Marx-Rezeption, entwickeln daran die Abschnittsstruktur des Bandes und stellen die einzelnen Beiträge nacheinander vor.
Der erste Abschnitt trägt den Titel „Feministische Kapitalismuskritik“. Das Ziel dieses Abschnitts ist es, auf abstrakte Weise kapitalistische Produktionsweise und feministische Kritiken miteinander zu verbinden. Frigga Haug (S. 26–40) eröffnet den Band mit einem Beitrag namens „Selbstveränderung als gesellschaftliche Praxis“. Darin widmet sie sich der Fragestellung, wie Marxismus und Feminismus zusammengedacht werden können und verbindet hierfür biografische Erfahrungen, mit theoretischen Reflexionen sowie der Methode der Erinnerungsarbeit. Den Ausgangspunkt einer gesellschaftsverändernden Praxis verortet sie im alltäglichen Handeln und dessen Erleben. Haug schlägt dafür vor, Produktionsverhältnisse als Geschlechterverhältnisse zu verstehen und entwickelt daran anschließend ihr Konzept der „Vier-in-Einem-Perspektive“, um gesellschaftliche und persönliche Veränderungen miteinander verbinden zu können.
Nancy Fraser (S. 41–58)schließt an den Eröffnungsbeitrag von Haug an und nimmt die „Vordergrund-Hintergrund-Beziehungen“ (S. 56) des Kapitalismus in den Blick. Sie will eine Konzeption von Kapitalismus und der kapitalistischen Krise mit dem Ziel entwickeln, Natur-, Staats-, Reproduktionsverhältnisse und weitere analytisch und praktisch miteinander zu verbinden. Hierfür greift Fraser die Marxsche Theorie auf und entwickelt diese weiter: Sie modifiziert die ökonomischen Merkmale des Kapitalismus um die Hintergrundbedingungen, die ihn ermöglichen. Diese seien laut ihr: „die gesellschaftliche Reproduktion, die Ökologie des Planeten und die politische Macht“ (S. 52). Wer den Kapitalismus, sein So-Geworden-Sein sowie seine Krisen und somit auch die Möglichkeit einer anderen Gesellschaftsformation verstehen will, müsse ihn mit seinen „Hintergrundgeschichten in Beziehung setzen“ (ebd.). Dadurch werde es möglich, den engen Blick auf ökonomische Klassenkämpfe um Grenzkämpfe, verstanden als Kämpfe der Hintergrundgeschichten, zu erweitern. Beide Konfliktdimensionen – Klassen- und Grenzkämpfe – bieten laut Fraser emanzipatorisches Potenzial, „neue Konfigurationen von Wirtschaft, Gesellschaft, Natur und Gemeinwesen anzustreben“ (S. 58).
Ingrid Kurz-Scherf (S. 59–82) macht Theorien selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung und kritisiert den darin enthaltenen Androzentrismus, den sie auch in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie findet. Sie widmet sich in ihrer Auseinandersetzung den neomarxistischen und feministisch-marxistischen Überlegungen von Haug und Fraser sowie neueren Intersektionalitätstheorien. Als Ergebnis schlägt Kurz-Scherf vor, zwischen einem engen und einem weiten Verständnis einer Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus zu differenzieren. In letzterem sieht sie die Chance, an die Überlegungen von Marx anzuknüpfen und diese um die Tätigkeitsbereiche außerhalb der Lohnarbeit zu erweitern.
Manuela Boatcă (S. 83–106)setzt sich mit der Marxschen Klassentheorie aus einer postkolonialen und feministischen Perspektive auseinander. Hierfür analysiert sie Artikel und Briefe von Marx und Engels über außereuropäische Länder und zeigt, „dass sie die Beziehung zwischen Europa und seinen Anderen als eine dialektische verstanden haben“ (S. 84). Anschließend argumentiert Boatcă anhand der Weltsystemperspektive und dem feministischen Ansatz der Bielefelder Soziologinnen, wie spätere marxistische Konzeptionen versuchten, den Marxismus von seinen blinden Flecken des Eurozentrismus, Orientalismus und Feminismus zu befreien.
Die Beiträge des zweiten Abschnitts mit dem Titel „Arbeit, Care und Soziale Reproduktion“ nehmen einen weniger abstrakten Analyseblick ein und fokussieren stattdessen stärker die konkreten kapitalistischen Verhältnisse. Beatrice Müller (S. 108–125) befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Thema Care-Arbeit. In Anlehnung an ihre Dissertation nutzt sie das Konzept der Wert-Abjektion, um zu untersuchen, wie die Genese der vielfach konstatierten Care-Krise zu verstehen ist. Mit dem von ihr entwickelten Konzept unterbreitet sie einen Vorschlag, die Abwertung von Care-Arbeit nicht nur aus einer ökonomischen Rationalität der kapitalistischen Produktionsweise zu erklären, sondern auch auf einer kulturell-symbolischen Ebene als eine Befreiung von relational-leiblicher Arbeit und insofern „von menschlicher Kontingenz und Sterblichkeit“ (S. 118) zu begreifen. Dies verdeutlicht Müller abschließend in Form einer kleinen Empirie.
Gabriele Winker (S. 126–138) unternimmt in ihrem Beitrag den Versuch, die nicht-entlohnte Reproduktionsarbeit in die Marxsche Arbeitswertlehre zu integrieren. Sie arbeitet theoretisch heraus, wie die gesellschaftliche Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise feministisch-marxistisch verstanden werden kann. Damit verfolgt Winker nicht nur das Ziel einer analytischen Modifikation, sondern betrachtet darin zugleich die Chance, konkrete Utopien entwickeln zu können, die die gesellschaftliche Gesamtarbeit berücksichtigen. Hierfür entfaltet sie einen utopischen Rahmen anhand von vier normativen Bezugspunkten: Erstens müsse das Reproduktionsniveau für alle Menschen gesichert werden, zweitens komme es darauf an, die Logik der Reproduktion nicht an einer möglichst gut einsetzbaren und kostengünstigen Arbeitskraft auszurichten, drittens gilt es, eine Gesellschaft zu fokussieren, die sich nicht wertvermittelt reproduziert und die viertens die Arbeitsteilung zwischen Lohnarbeit und Hausarbeit aufhebt.
Der letzte Beitrag des zweiten Abschnitts ist von der Herausgeberin Alexandra Scheele (S. 139–152). Sie setzt sich darin mit dem Thema Arbeit und Emanzipation auseinander. Scheele argumentiert, dass der Marxsche Arbeitsbegriff zwar grundlegende Anknüpfungspunkte für diese Auseinandersetzung bietet, jedoch zu kurz greift, weil er Arbeit vorrangig auf den männlichen Lohnarbeiter und die Ausbeutung als ein inhärentes Prinzip des Kapitalverhältnisses reduziert. Für Scheele sind demgegenüber die mit der Erwerbsarbeit verbundenen „Momente von Kooperation, Emanzipation, Anerkennung und sozialer Teilhabe“ (S. 140) zentral.
Die Beiträge des dritten Abschnitts widmen sich dem Thema „Ideologie und Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen“. Tina Jung (S. 154–168) arbeitet in ihrem Beitrag Aspekte einer Kritischen Theorie der feministischen Wissenschaft heraus. Hierfür legt sie zuerst eine materialistische Analyse der Entwicklung des wissenschaftlichen Feldes vor, um im zweiten Schritt die soziale Form der Wissenschaft zu untersuchen. Jung unterstreicht hierbei, dass auch die wissenschaftliche Tätigkeit als Lohnarbeit und nicht als wissenschaftliche Lebensform im Sinne einer Berufung verstanden werden sollte, weil mit letzterer die männliche Konzeption von Wissenschaft perpetuiert werde. Anschließend rekonstruiert sie die Entwicklung der feministischen Wissenschaft und stellt heraus, dass die Prozesse der Akademisierung und Institutionalisierung zwar als Erfolge der feministischen Bewegung verstanden werden sollten, damit jedoch zugleich eine „Entfremdung gegenüber anderen feministischen Praxisformen“ (S. 162) einhergehen kann. Diese kritische Perspektive setzt Jung anschließend fort: Sie konstatiert, dass „die Zeiten für wissenschaftsimmanente (Selbst-)Kritik schlechter den je“ (S. 164) seien, da es aktuell nur die Möglichkeit gebe, sich an die hegemonialen akademischen Arbeitsverhältnisse anzupassen oder die Wissenschaft zu verlassen. Zum Abschluss ihres Beitrags resümiert Jung, „den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen, sozialen, materiellen Bedingungen des Wissenschaftsmachens mit der Ausbildung einer kritischen Haltung in den Blick zu nehmen“ (S. 165) und so die Voraussetzungen der gesellschaftlichen Wissensproduktion analysieren und kritisieren zu können.
Susanne Lummerding (S. 169–182) widmet sich in ihrem Beitrag dem Konzept „queer“ und arbeitet die darin enthaltenen kapitalismuskritischen Implikationen heraus. In Anlehnung an Spivak und anderen Autor:innen rekonstruiert sie die Genese der dekonstruktiven Kapitalismuskritik, zu der sie auch das analytische Konzept „queer“ zählt. Im Anschluss an die dekonstruktive Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe nutzt Lummerding das Konzept des „Mehr-Genießens“ und entwickelt daran anknüpfend eine subjektkritische Perspektive. Sie verdeutlicht dies abschließend empirisch anhand von radikaldemokratischen Kämpfen.
Hanna Meißner (S. 183–196) fragt in ihrem Beitrag, „inwiefern die Marx’sche Analyse zwar eine (revolutionäre) Transformation der herrschenden Verhältnisse als notwendig und auch als prinzipiell möglich erscheinen lässt, zugleich aber in spezifischer Weise begrenzt ist, da sie die Problematik des (revolutionären) Subjekts verkürzt angeht“ (S. 184). Zuerst arbeitet sie das Marxsche Verständnis von Kritik und Gesellschaftstransformation heraus. Sie erkennt ebenfalls in Anlehnung an Spivak die theoretische Lücke, wie sich das revolutionäre Subjekt konstituiert, respektive wie ein Wille zum Sozialismus entsteht. Meißner diskutiert diese Frage unter Einbezug weiterer Autor:innen und kommt zu dem Ergebnis, dass weder das Ausbleiben einer kollektiv-solidarischen Handlungsfähigkeit, noch die Genese einer solchen als anthropologisches Potenzial der menschlichen Vernunft konzipiert werden dürfe, sondern „dass eine auf emanzipatorische Gestaltung gerichtete kollektive Vernunft überhaupt erst hervorzubringen ist und dass dies die Überwindung der exklusiven Figur jenes ‚Menschen‘ voraussetzt, die historisch-konstitutiv mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden ist“ (S. 194). Meißner plädiert daran anschließend dafür,revolutionäre Visionen durch die Verbindung der sozialen Frage mit feministischen, queeren, dekolonialen und weiteren Fragen zu entwickeln.
Im vierten Abschnitt wird der thematische Schwerpunkt auf das Duo „Regulation und Finanzialisierung“ gelegt. Die Regulationstheorie ist der Gegenstand des Beitrags von Fabienne Décieux und Luzie Sennewald (S. 198–211). Trotz des inhärenten Androzentrismus dieser Kapitalismustheorien bieten sie laut den Autorinnen dennoch Möglichkeiten einer feministischen und intersektionalen Erweiterung. Als Schnittstelle dafür verorten sie die relationale Konzeption der Regulationstheorie als soziale Kräftefelder, wodurch zugleich analytisch die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Reproduktionssphäre in den Blick genommen werden können. Décieux und Sennewald verdeutlichen dafür anhand des Wandels vom Fordismus zum Neoliberalismus, wie sich das Verhältnis von Markt, Staat und Privatem verschoben hat und wie dieser Prozess im Rahmen ihrer erweiterten regulationstheoretischen Perspektive verstanden werden kann.
Adrienne Roberts (S. 212–225) eröffnet die Auseinandersetzung zwischen Feminismus und Finanzialisierung in dem Band. Sie kritisiert, dass die feministische Auseinander der Finanzialisierung bisher zu wenig Beachtung geschenkt habe, obwohl davon nahezu alle Bevölkerungsgruppen direkt oder indirekt betroffen sind. In Rekurs auf Peterson und Elson verdeutlicht Roberts die Auswirkungen dieses Gestaltenwandels des Kapitalismus und wie sich dies auf die Reproduktionssphäre auswirkt. Mittels einer historischen Analyse der Übergänge vom Feudalismus zum Kapitalismus arbeitet sie heraus, dass diese Auswirkungen zwar nicht grundsätzlich neu für die kapitalistische Produktionsweise seien, sich jedoch eine Zuspitzung andeute. Einen Ausblick für feministische Analysen skizziert Roberts abschließend empirisch anhand der Vergabe von Mikrokrediten.
Im fünften und letzten Abschnitt wird das Scheinwerferlicht der Auseinandersetzung auf die feministischen Staatsdebatten im Kontext der sozialen Reproduktion geworfen. Birgit Sauer (S. 228–242) fragt in ihrem Beitrag danach, wie sich Gewaltverhältnisse im Staat marxistisch verstehen lassen. Sie nimmt dabei die Überlegungen von Marx und Engels zum Staat und seinem Verhältnis zum gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang auf, folgt der theoretischen Modifikation der Staatsableitungsdebatte der 1970er und ist so in der Lage, die Genese von funktionalistischen zu relationalen marxistischen Staatstheoretisierungen zu rekonstruieren. Sauer kritisiert an beiden Strängen dennoch, dass darin das Klassenverhältnis konzeptionell als zentrales Gewaltverhältnis gesetzt wurde. Feministisch-marxistische Ansätze untersuchten stattdessen, welchen Einfluss der Staat auf die Geschlechterverhältnisse hatte oder verstanden den Staat selbst als geschlechterbezogenes Gewaltverhältnis. Zum Abschluss schlägt Sauer einige Perspektiven vor, um Subjektivierungsprozesse und Staat gemeinsam zu erforschen.
Julia Dück und Katharina Hajek (S. 243–256) entwickeln im daran anschließenden Beitrag einen multidimensionalen Begriff der sozialen Reproduktion. Ihre Konzeption gilt als Versuch, strukturelle Reproduktionsverhältnisse auch ideologisch und aus einer intersektionalen Perspektive als Ungleichheitsverhältnisse verstehen zu können. Inspiriert von der Haushaltsdebatte, queerfeministischen Staatstheorien sowie der Feminist Political Economy entwickeln sie einen Begriff der sozialen Reproduktion, der diesen nicht nur auf eine Sphäre der Gesellschaft reduziert, sondern es ermöglicht, „auf die Gesellschaft im Ganzen zu blicken“ (S. 254).
Stefanie Wöhl (S. 257–271) befasst in ihrem Beitrag mit der Transformation von Staatlichkeit und Geschlechtlichkeit im finanzialisierten Kapitalismus. Sie rekonstruiert dafür zu Beginn den aktuellen Stand der Debatte und widmet sich anschließend der Transformation von Staatlichkeit im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 mit einem Schwerpunkt auf die Europäische Union. Exemplarisch zeigt Wöhl an den Kreditvergaben in Irland, wie sich der Prozess der Finanzialisierung gestaltete und welche Auswirkungen diese Staatspolitiken für eine geschlechtergerechte Politik hatten. Sie resümiert: „Die Parlamente bleiben als Möglichkeit der Politisierung von politischen Konflikten zwar grundsätzlich bestehen in der bürgerlichen liberalen Demokratie, aber Grundlagen der sozialen Materialität bleiben weiterhin geprägt von Ausschlussverhältnissen nach Herkunft, Geschlecht, Klasse und weiteren Faktoren […]“ (S. 268). Abschließend verweist Wöhl auf die Chancen der munizipalistischen Bewegungen, die es zum Beispiel in Spanien vermochten, nach der Finanz- und Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2008 in die Parlamente zu kommen. Diese Politiken seien jedoch in ihren Handlungsfähigkeiten auf den regionalen Rahmen begrenzt, wenn es den Akteuren nicht gelinge, breitere Bündnisse zu konstituieren. Erst dann wäre, laut Wöhl, eine „Transformation von Staatlichkeit zu mehr Gleichheit möglich“ (S. 269).
Diskussion
Der Band „Feminismus und Marxismus“ in der zweiten Auflage ist ein wahres thematisches und theoretisches Feuerwerk. Die vier Abschnitte mit den unterschiedlichen Themenschwerpunkten verdeutlichen die Vielfalt der Auseinandersetzung und geben nicht nur einen Einblick in den Stand der Diskussion, sondern es werden darin auch eigene theoretisch-konzeptionelle Überlegungen angestellt, Vorschläge unterbreitet und Forschungsperspektiven entwickelt. Positiv hervorgehoben werden muss an dieser Stelle auch der theoretische Austausch der verschiedenen Autorinnen auf Augenhöhe, trotz der gegenseitigen Kritiken. Genau diese Diversität macht den Band jedoch so lesenswert. Er ist keine theoretisch homogene Selbstbeweihräucherung, sondern ein kritischer Diskurs mit offenen Enden. Die vielfältige theoretische Konzeptarbeit, die den Band prägt, lädt zum selber weiterdenken, forschen und analysieren ein. Darin manifestiert sich auch das grundlegende Anliegen des Bandes, den Marxismus nicht als geschlossenen Theorierahmen zu verstehen, sondern als offenes Forschungsprogramm, dass genau wie die Gesellschaft stets in Bewegung bleiben muss, wenn er seinem Anspruch der immanenten Gesellschaftskritik weiterhin gerecht werden will.
In früheren Rezensionen wurde darauf hingewiesen, dass der Band einige thematische Leerstellen, wie die Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus und Antisemitismus vorweise. Dieser Kritik möchte ich mich hier nicht anschließen. Das Feld des feministischen Marxismus respektive des marxistischen Feminismus ist mittlerweile weit ausdifferenziert und daher auch unübersichtlich, sodass es gar nicht möglich ist, alle bedeutenden Perspektiven in einem Band einzufangen. Die Auswahl der Schwerpunkte in den einzelnen Abschnitten ist daher nicht nur objektiv notwendig, sondern fokussiert auch aktuelle gesellschaftlich bedeutende Themen. Gerade Prozesse wie die anhaltende Finanzialisierung der Gesellschaft und der derzeit hegemoniale Staatsinterventionismus strukturieren den Band maßgeblich, was die zweite Auflage vor dem Hintergrund aktueller politischer Diskurse rechtfertigt.
Die Bewertung als theoretisches Feuerwerk kann allerdings auch eine Herausforderung für die Leser:innenschaft darstellen. Denn in den Beiträgen werden immer wieder Konzepte von anderen Wissenschaftler:innen genutzt, diskutiert und modifiziert. Zwar werden diese theoretischen Fragmente erklärt, jedoch meist nur holzschnittartig, wodurch es teilweise schwer ist, die Analysen nachzuvollziehen, wenn man nicht fest im Sattel der älteren Theorien und Debatten sitzt. Hinzu kommt, dass bei manchen Begriffen eine nähere Erläuterung in Form einer Fußnote hilfreich gewesen wäre, um die Nachvollziehbarkeit der Argumentationen besser zu gestalten und das Drop-Out-Potenzial bei manchen Beiträgen zu minimieren. Abgeschwächt wurde so manche theoretische Überforderung beim Lesen einerseits durch die Rekonstruktion verschiedener Stränge des marxistischen Feminismus, was die Kontextualisierung der Beiträge erleichterte, sowie andererseits durch das Nutzen von empirischen Beispielen. Hier offenbarte sich nicht nur das analytische, sondern auch das politische Potenzial des marxistischen Feminismus und es konnte veranschaulicht werden, wie die abstrakte theoretische Auseinandersetzung und die konkrete empirische Analyse Hand-in-Hand gehen können. Der empirische Abgleich sowie das kontinuierliche Fragen nach politischen Implikationen gehören generell zu den Stärken des Bandes, ohne dabei die feministisch-marxistische Theoretisierung zu vernachlässigen.
Fazit
Trotz der theoretischen Dichte und den komplexen Analysen bietet der Band mit seiner Vielzahl an Beiträgen verschiedenste Perspektiven dafür, wie Feminismus und Marxismus im 21. Jahrhundert zusammengedacht werden können. Die Beiträge zeigen dabei nicht nur das analytische Potenzial dieser Verbindung, sondern es werden zugleich auch politische Implikationen von den Autorinnen ausgelotet. Aufgrund der Komplexität und dichten Ausführungen ist jedoch Geduld beim Lesen – oder besser, beim Durcharbeiten – gefragt.
Rezension von
Christopher Grobys
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Es gibt 12 Rezensionen von Christopher Grobys.
Zitiervorschlag
Christopher Grobys. Rezension vom 13.09.2024 zu:
Alexandra Scheele, Stefanie Wöhl (Hrsg.): Feminismus und Marxismus. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023. 2. Auflage.
ISBN 978-3-7799-7232-7.
Reihe: Arbeitsgesellschaft im Wandel. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779930549.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30984.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.
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