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Rudolf Leiprecht, Anne Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungs­gesellschaft. Ein Handbuch

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.10.2005

Cover Rudolf Leiprecht, Anne Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungs­gesellschaft. Ein Handbuch ISBN 978-3-87920-274-4

Rudolf Leiprecht, Anne Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2005. 480 Seiten. ISBN 978-3-87920-274-4. 34,80 EUR.
Reihe: Politik und Bildung - 38.

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Thema

"Es gibt wenig positive Traditionen im Umgang mit Heterogenität", so leiten die beiden Herausgeber eines bemerkenswerten Handbuchs zum Thema "Schule in der pluriformen Einwanderungsgesellschaft" eine neue, notwendige und wichtige Veröffentlichung ein. Hingegen gibt es eine Fülle von Belegen und Beispiele im gesellschaftlichen Werden unserer (Volks)Gemeinschaft für Ethnozentrismen, Höherwertigkeitsvorstellungen und Ausgrenzungen. Erst die internationalen Öffnungen und Veränderungen seit der Nachkriegszeit, vor allem durch die europäischen Einigungsprozesse und den damit verbundenen (Bildungs- und Aufklärungs-)Anforderungen zur Entwicklung einer europäischen Dimension und eines europäischen Bewusstseins (vgl. dazu u.a. die KMK-Empfehlung "Europa im Unterricht", vom 8. 6. 1978), aber auch durch die Deklarationen der Vereinten Nationen und der UNESCO ("Bildung für Alle"), gewinnt auch in unserer Gesellschaft der anfangs zögerliche Blick über den eigenen kulturellen und nationalen Gartenzaun an Bedeutung. Das immer interdependenter sich entwickelnde Zusammenwachsen der Völker, Kulturen und Wirtschaften erfordern den Perspektivenwechsel hin zum Selbst- und Anderssein und die Empathie für den Anderen. Der Anker für den interkulturellen Zugang in unserer pluralen Welt ist, was die UN-Weltkommission "Kultur und Entwicklung" (1995) mit der Metapher "kreative Vielfalt" bezeichnet hat, der Erkenntnis nämlich: "Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden".

Herausgeberin und Herausgeber

In der fach- und interdisziplinären Diskussion darüber, wie die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten Grundrechte und Freiheiten in das alltägliche wie institutionelle, gesellschaftliche Leben in der Einen Welt umgesetzt werden können, hat sich die Disziplin der interkulturellen Pädagogik zu so etwas wie einer Leit- und Koordinierungseinrichtung im Rahmen der Erziehungswissenschaften entwickelt. In besonderer Weise dürfte hier das Interdisziplinäre Zentrum für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBMK) an der Universität Oldenburg Innovations- und Unterstützeraufgaben wahr nehmen. Die beiden Herausgeber, Rudolf Leiprecht und Anne Kerber, arbeiten bei dieser Initiative mit.

Inhalt

Das Handbuch gliedert die vielfältigen Anforderungen für Bildung und Erziehung in Schule und in den außerschulischen Institutionen in fünf Aufgabenbereiche.

  1. Im ersten Teil geht es um die Herausforderungen für die Schule im Zusammenhang mit Migration, der europäischen Integration, der interkulturellen Öffnung der Schule und Forschungsansätzen zum Interkulturellen und Globalen Lernen: Rolf Meinhardts Synopse "Einwanderungen nach Deutschland und Migrationsdiskurse in der Bundesrepublik" verdeutlicht, "wie fragil der erreichte Fortschritt in der Einwanderungsdebatte und wie groß die Gefahr des Rückfalls in altbekannte stereotype Denkmuster" in unserer Gesellschaft sind. Marianne Krüger-Potratz mahnt in ihrem Beitrag "Migration als Herausforderung für die Bildungspolitik" die vielfältigen, curricularen, didaktisch-methodischen, schulorganisatorischen und aus- und fortbildungsbezogenen Aufgaben für eine demokratische, interkulturelle Gesellschaftspolitik an. Sigrid Luchtenberg richtet mit ihrem Diskussionsbeitrag den Blick auf die Erfordernisse, wie sich "Bildung und Kommunikation vor dem Hintergrund der europäischen Integration" ergeben. Mechthild Gomolla zeigt "institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem" auf. Claudia Schanz verdeutlicht am Beispiel einer konkreten, interkulturellen Schulentwicklung, welche Möglichkeiten und Visionen die interkulturelle Öffnung einer Schule haben kann. Und der "Grand old Man" der interkulturellen Diskussion, Georg Auernheimer, plädiert in seiner Übersicht zu "Forschung zu interkulturellem Lehren und Lernen" für den Ansatz des "methodischen Verstehens" und weist damit auf zukünftige Forschungsinitiativen hin.
  2. Im zweiten Teil geht es um die "Pädagogik der Vielfalt", beginnend mit Hans-Peter Schmidtkes Beitrag über die "Entwicklung der pädagogischen Betrachtungsweise - Ausländerpädagogik, interkulturelle Pädagogik, Pädagogik der Vielfalt" und seinem Blick auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung, mit der Aufforderung, sich in der schulischen Bildung für eine gezielte Förderung für alle Kinder einzusetzen. Im Diskurs um die Bedingungen in einer Einwanderungsgesellschaft darf natürlich der Aspekt der Gleichberechtigung nicht fehlen. Heike Fleßner legt ihren Finger auf das Problem "Geschlecht und Interkulturalität". Sie stellt Überlegungen zur Weiterentwicklung einer interkulturellen geschlechterbewussten Pädagogik an. Peter Sehrbrock weist in seinem Beitrag auf die Notwendigkeit hin, "interkulturelle Fachdiskurse in Verbindung mit Ansätzen aus der Sonderpädagogik bzw. der Pädagogik für besondere Bedürfnisse" zu führen. Weil die Bildung von Empathie als eine dauernde Lernaufgabe zu betrachten ist, geht es, nach Matthias Heyl, um "Conflicting Memories" im Zusammenhang mit unserer eigenen Geschichte, die vom "Holocaust" bis zum "Global Village" reicht. Ist "Homogenität" als Lern- und Erziehungsgrundlage tatsächlich die Voraussetzung für gelingende Veränderungsprozesse; oder sind soziale, interkulturelle Heterogenität und "Intersektionalität im Klassenzimmer" nicht vielmehr erfolgversprechendere Modelle für die gesellschaftliche Integration? Rudolf Leiprecht und Helma Lutz zeigen dafür interessante Aspekte auf.
  3. Im dritten Teil werden Beispiele für "fachspezifisches und fachübergreifendes Lehren und Lernen in Schule und Unterricht" vorgestellt. Wilfried Stölting plädiert dabei für eine "Erziehung zur Mehrsprachigkeit und zweisprachige Erziehung"; ebenso als "fachliches Lernen durch das Medium der Zweitsprache Deutsch". Auch Eva Sommer und Michael Fritsche treten für eine Neubesinnung ein, um "Fremdsprachenunterricht, Landeskunde und interkulturelles Lehren und Lernen" am Beispiel des Deutschen als Fremdsprache effektiver zu gestalten. Hanna Kiper ist überzeugt, dass "interkulturelles Lehren und Lernen in Unterrichtsfächern der Primarstufe" möglich ist, aus der Erkenntnis heraus, dass "in der Schule Problemlagen sichtbar (sind), die gesamtgesellschaftlich verursacht sind" und somit auch der schulischen Auseinandersetzung bedürfen, so früh wie möglich. Die gleiche Autorin greift mit dem zweiten Beitrag "Interkulturelles Lehren und Lernen in Unterrichtsfächern der Sekundarstufe I" den weiterführenden schulischen Auftrag auf. Über den "Umgang mit Rassismen in Schule und Unterricht" setzt sich Rudolf Leiprecht auseinander. "Weil es schwierig ist, nicht rassistisch zu sein" (Kalpaka / Räthzel), gehört es auch zum schulischen Curriculum, zu einer interkulturellen und antirassistischen Erziehung (Kloeters / Lüddecke / Quehl) beizutragen. Ein traditionelles Erfahrungsfeld für interkulturelles Lernen sind internationale Schülerbegegnungsprojekte, vor allem mit den deutsch-französischen und deutsch-englischen Austauschprogrammen. Diese Erfahrungen auf außereuropäische Initiativen auszuweiten, bedarf es weiterer Aktivitäten (vgl. dazu z. B.: www.initiativen-partnerschaft.de).
  4. "Pädagogische Professionalität in der pluriformen Einwanderungsgesellschaft" ist der vierte Teil überschrieben. Die Bildungsanforderung "Interkulturelle Kompetenz", als professioneller Umgang mit sozialer und kultureller Vielfalt, wird von Nev‰l Gültekin-Thomasson diskutiert. Ihrer Hoffnung, dass die Schule der Ort sein könnte, an dem sich Kinder und Jugendliche in der Anzahl und Vielfalt zusammen finden, die sich proportional zur Bevölkerungsstruktur ihrer Lebenswelt abbilden und damit zu einem humanen, fairen und interkulturellen Dialog beitragen können, kann nur zugestimmt werden. Weil "Differenz und Dominanz" im Umgang mit der kulturellen Vielfalt wichtige Paradigmata darstellen, weist Annita Kalpaka auf die "Dysfunktionalität und Problematik eines statischen Kulturverständnisses" hin. "Interkulturell kompetentes Handeln von Professionellen in der Einwanderungsgesellschaft" bedürfe eines veränderten, dynamischen Verständnisses von "Kultur". Eine weitere kritische Nachfrage aus der Sicht von Minderheitenangehörigen zum interkulturellen Diskurs in unserer Gesellschaft stellen Maria do Mar Castro Varela und Paul Mecheril, mit der für Insider nicht allzu überraschenden Antwort: Sie kommen relativ selten zu Wort.
  5. Mit "Herausforderungen für Eingewanderte und Angehörige der Mehrheitsgesellschaft" stellt Winfried Schulz-Kaempf in Teil Fünf des Handbuchs die "rechtliche Lage und Lebenssituation von Eingewanderten in der Bundesrepublik Deutschland" dar. Er kommt zu dem nicht allzu optimistischen Ergebnis, dass die "Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland ( ) maßgeblich von der weitgehenden rechtlichen Ungleichstellung geprägt" ist, trotz der ausländerrechtlichen Reformen der vergangenen Jahre. Anwar Hadeed informiert über Formen und Erfahrungen bei "Selbstorganisationen im Einwanderungsland". Er verweist damit auf ein bisher von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahr genommenes Potential von Partizipation und Selbsthilfe von Migrantinnen und Migranten. Schließlich provoziert Paul Mecheril mit seinem Beitrag "Was Sie schon immer über Rassismuserfahrungen wissen wollten". Sein Spagat zwischen dem "Nicht-Wissen-Wollen" und von konkreten Rassismus-Erfahrungen von Betroffenen ist ein Fingerzeig für die Notwendigkeit zum Perspektivenwechsel, der Interkulturelles und Globales Lernen anzustoßen vermag.

Fazit

Auf das Handbuch "Schule in der Einwanderungsgesellschaft" haben wir gewartet: Praktiker und Theoretiker und alle, die in Schule und in der außerschulischen Bildung mit dem Anderssein der Menschen zu tun haben - also jeder von uns!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1694 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245